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III. Ein Sturm unter einem Schädel

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Der Leser hat gewiß schon errathen, daß Madeleine kein Andrer ist, als Jean Valjean.

Wir hatten schon einmal einen Blick in die Tiefen dieser Menschenseele geworfen; jetzt ist der Augenblick gekommen, daß wir abermals hineinschauen. Wir vermögen es nicht ohne Angst und Grauen. Giebt es doch nichts Furchtbareres, als eine Betrachtung dieser Art! Das Auge des Geistes findet nirgend grelleres Licht und schwärzere Finsterniß, als im Menschen; es kann nichts begegnen, das furchtbarer, verworrener, rätselhafter und unendlicher wäre. Es giebt etwas, das großartiger anzuschauen ist, als das Meer: der Himmel; etwas, das großartiger ist, als der Himmel: des Menschen Geist.

Wer das Innere des Menschenhirns, auch nur eines Menschenhirnes, ja auch nur des unbedeutendsten beschreiben könnte, würde das Höchste und Schwerste damit geleistet haben. Welch ein Chaos von Wahnbildern, Begierden, Bestrebungen, Träumen! Welch ein Schlupfwinkel für Gedanken, die sich ihrer selbst schämen! Welch ein Pandämonium von Sophismen! Welch ein Schlachtfeld der Leidenschaften! Könnte man nur in gewissen Stunden mit den Blicken hineindringen in das Innere eines Menschen, den seine Gedanken peinigen! Man würde dann hinter der äußern Ruhe des fahlen Antlitzes homerische Riesenkämpfe, wilde Schlachten zwischen Drachen und Hydren, wie in Miltons Paradies, sich abspielen, dicht gedrängte Schaaren von Schreckbildern, wie in Dantes göttlicher Komödie, aufsteigen sehen. Wie schauerlich ist jene unendliche Welt von Ideen und Empfindungen, die jeder Mensch in sich trägt, und an der er mit Verzweiflung die Bestrebungen seines Hirns und die Thaten seines Lebens mißt!

Alighieri sah eines eine Thür, vor der er zurückbebte. Auch wir stehen jetzt vor der Schwelle einer solchen Thür. Wagen wir aber dennoch, sie zu öffnen. Wir haben nur noch wenig zu dem hinzuzufügen, was unseren Lesern über Jean Valjean's Schicksale seit seiner Begegnung mit dem kleinen Gervais schon bekannt ist. Wie schon geschildert, war er von Stunde an ein andrer Mensch. Was der Bischof aus ihm machen wollte, das setzte er in Wirklichkeit um. Sein ganzes Wesen läuterte und verklärte sich.

Es gelang ihm zu verschwinden, er verkaufte das Silbergeschirr des Bischofs mit Ausnahme der Leuchter, die er zum Andenken behielt, schlich sich von Stadt zu Stadt durch ganz Frankreich hindurch bis nach Montreuil-sur-Mer, wo er sich eine unangreifbare Stellung schuf. Hier gab er sich dem Glücksgefühl hin, daß seine schreckliche Vergangenheit durch eine friedvolle, sichre Gegenwart ausgelöscht sei, und der Hoffnung, er würde jetzt verborgen bleiben und einen heiligen Lebenswandel führen können, seinen irdischen Verfolgern entfliehen und zu Gott zurückkehren.

Diese beiden Gedanken waren in seinem Geiste so eng mit einander verschlungen, daß sie ein einziges Ganzes bildeten, sie nahmen gebieterisch sein ganzes Sein in Anspruch und bestimmten seine geringfügigsten Handlungen. Meistentheils herrschte Eintracht zwischen diesen zwei Prinzipien; sie bestimmten ihn, sich bescheiden der Welt und ihrem Glanze zu entziehen, machten ihn wohlwollend und schlicht, und flößten ihm beide dieselben Gedanken ein. Bisweilen jedoch kam es vor, daß sie mit einander in Kampf geriethen. Dann trug der Mann, den ganz Montreuil-sur-Mer nebst Umgegend Herrn Madeleine nannte, kein Bedenken, das erste dem zweiten, seine persönliche Sicherheit seiner Tugend, zu opfern. So hatte er, aller Vorsicht und allen Geboten der Klugheit zum Trotze, die Leuchter des Bischofs in seinem Besitz behalten, seinen Wohlthäter betrauert, alle Savoyardenjungen zu sich beschieden und ausgefragt, Erkundigungen über Familien in Faverolles eingezogen, dem alten Fauchelevent trotz Javerts argwöhnischen Bemerkungen das Leben gerettet. Nach dem Vorbilde aller Weisen, Frommen und Gerechten dachte er, daß die Pflichten gegen sich selbst nicht die ersten sind.

Doch war ihm bisher ein so schwieriger Gewissensfall, wie dieser, noch nicht vorgekommen. Noch nie war der Widerstreit zwischen den beiden Grundsätzen, die den Unglücklichen lenkten, ein so heftiger und gefährlicher gewesen. Dies begriff er zwar unklar, aber nachhaltig, bei den ersten Worten Javerts. Als der Name, den er so tief vergraben hatte, unter so sonderbaren Umständen vor ihm ausgesprochen wurde, erfaßte ihn starres Entsetzen, war er wie betäubt, erbebte er wie die Eiche, wenn ein Gewitter naht, wie ein Soldat vor der Schlacht. Er sah in seinem Geiste düstre Wolken über sich, aus denen bald Blitz und Donner hervorbrechen würden. Während er Javerts Worten lauschte, wandelte ihn der Gedanke an, er müsse hineilen, sich angeben, Champmathieu aus dem Gefängniß befreien und seine Stelle einnehmen. Es war schmerzhaft und peinvoll, wie ein Schnitt in sein eigen Fleisch, aber es ging vorüber, und er dachte: Aber – aber! Er unterdrückte also diese erste edle Regung und schrak zurück vor dem heldenmüthigen Opfer.

Freilich, nach den frommen Ermahnungen des Bischofs, nach so langer Reue und Selbstverleugnung, bei dem wunderbar tiefen Reuegefühl, das ihn beseelte, hätte er selbst Angesichts einer so gräßlichen Gefahr nicht einen Augenblick schwanken und ruhig dem Abgrund zuschreiten sollen, der zum Himmel führte; aber so schön dies gewesen wäre, so wenig würde dies der Wahrheit entsprechen, die wir doch allein im Auge behalten müssen. Der Trieb der Selbsterhaltung gewann fürs Erste die Oberhand; er sammelte rasch seine Gedanken, drängte seine Empfindungen zurück, nahm sich vor dem gefährlichen Javert zusammen, schob jede Entscheidung mit der Hartnäckigkeit der Angst für eine spätere Zeit auf, betäubte sein Gewissen und schirmte sich wieder mit seiner alten Ruhe, gleich einem Krieger, der den ihm entfallenen Schild aufhebt.

Den ganzen Tag über verharrte er in diesem Zustande: Innen ein Wirbelsturm, nach Außen eine unbewegliche Maske, – und alle Maßregeln, die er ergriff, waren solche, die ihm die Wege nach den beiden entgegengesetzten Seiten hin offen ließen. In seinem Hirn wogten alle Gedanken wirr durcheinander, er konnte keine klare Vorstellung fassen, und er selber hätte über sich nichts aussagen können, als daß er einen furchtbaren Schlag erhalten. Er begab sich wie gewöhnlich an das Schmerzensbett Fantinens und dehnte seinen Besuch recht lange aus, indem er sich von seiner Herzensgüte dazu getrieben fühlte, alle möglichen Vorkehrungen für den Fall, wo er verreisen würde, zu treffen. Er hatte die Empfindung, daß er vielleicht sich nach Arras verfügen müsse, und ohne sich diese Reise fest vorzunehmen, sagte er sich doch, da er keinen Argwohn zu fürchten habe, sei es ihm unbenommen der Gerichtsverhandlung beizuwohnen und bestellte bei Scaufflaire den Tilbury, um auf alle Fälle vorbereitet zu sein.

Demgemäß ließ er sich auch sein Abendessen leidlich gut schmecken.

Nachdem er sich in sein Zimmer zurückgezogen, sammelte er sich.

Er überdachte seine Lage und fand sie so unerhört fürchterlich, daß er unter einem ihm selber unerklärlichen Impulse plötzlich sich von seinem Stuhl erhob und seine Thür verriegelte. Er fürchtete, es würde noch etwas hereinkommen. Er verbarrikadirte sich gegen mögliches Unheil.

Gleich darauf blies er das Licht aus. Es war ihm unheimlich. Er fürchtete, es könne ihn Jemand sehen.

»Was für ein Jemand?«

Ach! das, was er zur Thür hinausgewiesen hatte, war hereingekommen; was er hätte blenden mögen, sah ihm jetzt ins Auge: Sein Gewissen.

Sein Gewissen, oder in andern Worten Gott.

Indessen in den ersten Augenblicken gab er sich einer beruhigenden Täuschung hin; es überkam ihn die Empfindung, daß er allein und in Sicherheit sei. Nun er den Riegel vorgeschoben, hielt er sich gegen einen Ueberfall gesichert; nachdem er das Licht ausgelöscht, dünkte er sich unsichtbar. Da gewann er die Herrschaft über sich wieder, stützte die Ellbogen auf den Tisch, vergrub den Kopf in seine Hände und begann in der Dunkelheit angestrengt nachzudenken.

»Was geht denn mit mir vor? Träume ich nicht? Was habe ich erfahren? Ist es wirklich wahr, daß ich Javert gesprochen, und daß er mir das Alles erzählt hat? Was mag denn der Champmathieu für ein Mensch sein? Also er ähnelt mir? Wie ist das möglich? Wenn ich denke, wie ruhig ich gestern noch lebte, wie fern mir alle Furcht lag! Was that ich doch gleich gestern zu derselben Zeit? Wie wird sich die Sache weiter entwickeln? Was thun?«

So tobte der Sturm in seinem Innern. Sein Hirn verlor die Fähigkeit, die Gedanken fest zu halten; sie rollten davon wie Wellen, die der Wind vor sich her jagt, und er drückte, als wolle er ihnen die Flucht unmöglich machen, seine Hände fester gegen seine Stirn.

Dieser Aufruhr der Gedanken und Empfindungen, die er in die Form einer klaren Erkenntniß, eines festen Entschlusses zwängen wollte, endeten nur in schwerer Seelenpein.

Der Kopf brannte ihm. Er ging und riß das Fenster weit auf. Dann setzte er sich wieder an den Tisch nieder.

So verlief die erste Stunde.

Allmählich jedoch traten einige Gedanken in schärferen Umrissen auf, und er konnte mit Bestimmtheit, zwar nicht die ganze Sachlage, aber doch gewisse Einzelheiten erkennen. Vor allen Dingen sagte er sich jetzt, daß er den Ausgang der Dinge vollständig in seiner Hand habe.

Das setzte ihn noch mehr in Erstaunen.

Abgesehen von dem religiösen Endzweck seiner Handlungen war Alles, was er bis zu diesem Tage gethan, nur eine Grube, in die er seinen Namen verscharren wollte. Was er immer am meisten gefürchtet hatte, in schlaflosen Nächten oder wenn er sonst Muße gefunden, nachzudenken, war der Gedanke, daß er irgend einmal diesen Namen wieder vernehmen würde. Dann hatte er gedacht, würde alles mit ihm vorbei sein; an dem Tage, wo der Name wieder auftreten würde, müßte das Glück seines zweiten Lebensabschnittes, ja vielleicht sogar die Reinheit seines neuen Wandels ihm entschwinden. Ihm schauderte dann immer bei dem bloßen Gedanken an eine so fürchterliche Umwälzung. Hätte ihm Jemand gesagt, einst werde der gefürchtete Name an sein Ohr klingen, das entsetzliche Licht, das sein Geheimniß aufhellen konnte, würde unversehens über seinem Haupte erglänzen, und dennoch würde der Name keine Drohung für ihn sein, das Licht würde die Finsternis, in die er sich gehüllt, nur verdichten, das Erdleben werde seinen Bau befestigen, dieses wunderbare Ereigniß werde, wenn er es nur wolle, sein Leben aufhellen und doch zugleich besser verhüllen und als Folge seiner Begegnung mit dem Phantom Jean Valjean werde sich nur noch mehr Ehre, Frieden und Sicherheit für den braven hochgestellten Herrn Madeleine ergeben, – wenn Jemand ihm dies gesagt hätte, so würde er den Kopf geschüttelt und solches Gerede für thöricht erklärt haben. Und nun war alles dies eingetreten, dieser Haufen von Unmöglichkeiten hatte sich zu einer vollendeten Thatsache verdichtet, und Gott hatte erlaubt, daß die Verrücktheiten zu Wirklichkeiten geworden waren.

Nun faßte er auch allmählich seine Lage klarer auf.

Ihm war, als erwache er aus einer Art Schlaf, als sehe er erst jetzt, daß er in Gefahr geschwebt hatte in einen Abgrund hinabzugleiten. Er bemerkte jetzt in dem Dunkel, das seinen Geist umnachtet hatte, deutlich einen Fremden, einen Unbekannten, den das Schicksal mit ihm verwechselte und an seiner Stelle in den Abgrund schleuderte. Ein Opfer mußte es bekommen, ob ihn oder seinen Doppelgänger, galt dem Schicksal gleich.

Er brauchte also bloß die Dinge ihren Gang gehen zu lassen. Die Klarheit in seinem Geiste wurde in Folge dieser Einsicht eine vollständige, und er gestand sich Folgendes: Sein Platz im Zuchthaus sei leer geblieben, und müsse, ob er es wolle oder nicht, wieder besetzt werden, da der an dem kleinen Gervais verübte Raub Sühnung erheische. Nun hatte sich aber ein Ersatzmann für ihn gefunden; einen gewissen Champmathieu habe sein Unstern zu dieser Rolle bestimmt, und er hatte, nun er im Zuchthaus durch diesen Champmathieu, in der guten Gesellschaft durch Herrn Madeleine vertreten war, nichts mehr zu befürchten. Dazu brauchte er bloß über dem Haupt seines Doppelgängers den Stein der Schande besiegeln lassen, der wie der Grabstein, der eine Totengrube verschließt, nur einmal niedergesenkt und dann nie wieder entfernt wird.

Alles dies war so gewaltsam und absonderlich, daß sich ein im menschlichen Leben seltenes Gefühl in ihm regte, eine Art Konvulsion des Gewissens, die aus Ironie, Freude und Verzweiflung besteht und ein innerliches Gelächter genannt werden könnte.

Er zündete rasch das Licht wieder an.

»Wovor fürchte ich mich denn so?« sagte er. »Wozu brauche ich mir Gedanken zu machen? Ich bin gerettet. Die Geschichte ist zu Ende. Nur ein Thor stand noch offen, durch das meine Vergangenheit in mein jetziges Leben hineindringen konnte, und dies ist nun für immer geschlossen. Javert, der mich seit so langer Zeit verfolgt, der mit seinem schrecklichen Instinkt mich erkannt zu haben schien, – was schien?« – der mich erkannt hatte, dessen feine Spürnase ist jetzt von meiner Fährte völlig abgelenkt. Er eilt einem andern Wilde nach, er wird es einfangen, zufrieden sein, mich zufrieden lassen. Er hat jetzt seinen Jean Valjean. Wer weiß, ja es ist wahrscheinlich, daß er von Montreuil-sur-Mer fortgehen wird. Und alles dies ist ohne mein Zuthun geschehen! Ich habe nicht die Hand dabei im Spiele gehabt. Was in aller Welt ist denn Schlimmes dabei? Sähe mich jetzt Einer, er würde wahrhaftig glauben, mir sei ein fürchterliches Unglück zugestoßen: So thöricht geberde ich mich! Wenn die Sache für irgend Jemand schlecht abläuft, so ist das doch nicht meine Schuld! Die Vorsehung hat es gewollt. Habe ich das Recht ihre Anordnungen rückgängig zu machen? Was will ich denn eigentlich? Womit befasse ich mich? Mit etwas, das mich nichts angeht. Wie komme ich dazu, unzufrieden zu sein? Was will ich denn noch? Das Ziel, dem ich seit so vielen Jahren zustrebe, der Traum meiner Nächte, um was ich den Himmel täglich bitte, Sicherheit, das fällt mir jetzt von selber zu. So will es Gott, gegen den ich mich nicht auflehnen kann. Und warum will es Gott so? Damit ich fortfahre, was ich angefangen. damit ich Gutes thue, damit ich dermaleinst ein schönes und ermuthigendes Beispiel sei, damit endlich einmal erkannt werde, daß auch die Buße und die Tugend das Glück erringen können! Wahrhaftig, ich begreife nicht, weswegen ich vorhin mich besonnen und dem guten Pfarrer nicht gebeichtet ihm nicht alles erzählt habe. Er hätte mir ganz gewiß denselben Rath gegeben! Also, es bleibt dabei, ich lasse die Dinge gehen, wie Gott will.«

So sprach er in seinem innersten Herzen, stand dann auf und ging in seinem Zimmer auf und nieder.

»Also,« begann er wieder, »daß hab' ich hinter mir. Der Entschluß ist gefaßt.«

Aber er empfand leine Freude.

Im Gegentheil.

Man kann seinen Gedanken ebenso wenig verwehren zu demselben Gegenstande zurückzukehren, wie dem Meer verbieten, daß es gegen seine Ufer brandet. Was für den Seemann sie Fluth ist, das sind für den Schuldbewußten die Gewissensbisse. Gott wühlt, wie den Ocean, so auch die Seele auf.

Nach Ablauf weniger Sekunden verfiel er wieder in das Gespräch, indem er zugleich redete und zuhörte, was er gern verschwiegen hätte, aussprach. Trieb ihn doch unwiderstehlich jene geheimnißvolle Macht, die ihm gebot zu denken, wie sie einst einem anderen Verdammten befohlen hatte, fortan ruhelos zu wandern.

Bevor wir weiter gehen und um besser verstanden zu werden, müssen wir eine nothwendige Bemerkung machen.

Es ist gewiß, daß man mit sich selber spricht. Es giebt kein denkendes Wesen, daß dieses Gefühl nicht gehabt hätte. Man sagt etwas zu sich, man spricht mit sich selber, ohne daß darum das Stillschweigen nach außen hin gebrochen würde. Bei dem heftigsten innerlichen Tumult spricht Alles in uns, nur der Mund nicht. Denn mögen die Thatsachen des Innern auch nicht sichtbar oder greifbar sein, Thatsachen sind sie darum doch.

Er stellte sich also jetzt die Frage, welche Bedeutung der »gefaßte« Entschluß habe. Er bekannte sich selber, daß, was er sich so eben in seinem Geist zurecht gelegt habe, eine Ruchlosigkeit sei, daß die »Dinge gehen zu lassen, wie sie gingen, dem lieben Gott nicht entgegen zu treten« einfach eine abscheuliche Verirrung wäre. Diesen Irrthum des Geschicks und der Menschen sich vollziehen lassen, ihn durch sein Stillschweigen nähren, kurz nichts thun hieß Alles thun! Das war der höchste Grad der Heuchelei und Nichtswürdigkeit! Das war ein gemeines, feiges, heimtückisches, erbärmliches, grauenvolles Verbrechen!

Zum ersten Mal seit acht Jahren verspürte jetzt der Unglückliche den bittern Geschmack eines bösen Gedankens, einer schlechten Handlung.

Er wies ihn mit Widerwillen von sich, und befragte sich weiter: »Was hatte er gemeint mit den Worten: Mein Zweck ist erreicht!« Er erklärte, sein Leben habe in der That einen Zweck. Aber welchen? Seinen Namen zu verhehlen, die Polizei hinters Licht zu führen? Weiter hatte er nichts gewollt? Bezweckte er nicht etwas Höheres, Edleres? Schwebte ihm nicht ein schöneres Ziel vor das einzig wahre? Nicht seinen Leib, sondern seine Seele retten, rechtschaffen und gut werden, ein gerechter sein, das hatte er doch immer gewollt, einzig und allein gewollt, das hatte ihm der Bischof befohlen. Die Thür seiner Vergangenheit zuschließen? Herr, erbarme dich – er schloß sie eben nicht, er that sie wieder auf, wenn er eine schändliche Handlung beging; er wurde wieder ein Dieb, der hassenswerteste aller Diebe; er stahl einem Andern sein Dasein, sein Leben, seinen Frieden, seinen Antheil am Sonnenlicht! Er wurde ein Mörder, denn er tötete moralisch einen Unglücklichen, er fügte ihm einen lebendigen Tod zu, den gratlosen Tod, den man die Zuchthaushaft nennt! Im Gegentheil. Sich dem Arm der Gerechtigkeit überliefern, das Opfer des gräßlichen Irrthums retten, seinen wahren Namen wieder annehmen, aus Pflichtgefühl wieder Jean Valjean werden, das hieß vollends auferstehen und die Hölle, der er entronnen war, zudecken. Was dem Anschein nach sein Verderben war, bedeutete in Wirklichkeit seine Rettung. So mußte er handeln! That er das nicht, so hatte er gar nichts gethan. Dann war sein ganzes Leben unnütz, seine Reue verloren, und er konnte dann nur noch sagen: Wozu alles höhere Streben? Er fühlte, daß der Geist des Bischofs auf ihn niederblicke, daß fortan der Bürgermeister Madelaine mit allen seinen Tugenden ihm ein Greuel, und der Zuchthäusler Jean Valjean dagegen achtungswürdig und rein sein würde, daß die Menschen seine Maske sähen, der Bischof sein wahres Gesicht; daß die Menschen auf sein Leben, der Bischof in sein Inneres schaue. Es galt also nach Arras zu gehen, den falschen Jean Valjean zu befreien, den Wahren anzuzeigen. Ach! es war das schwerste Opfer, der schmerzlichste Sieg, der letzte Schritt, der zu thun war, aber es maßte sein. Welch ein trauriges Geschick war das seine! Er konnte von Gott nicht erhöht werden, wenn er nicht von Seiten der Menschen die tiefste Erniedrigung erfuhr!

»Gut sagte er, es sei beschlossen! Ich will meine Schuldigkeit thun, ich will ihn retten!«

Diese letzten Worte sprach er ganz laut, ohne es zu bemerken.

Er nahm seine Rechnungsbücher vor, sah sie durch und brachte sie in Ordnung. Dann warf er eine Menge Schuldscheine, die seine Forderungen an kleine Handelsleute belegten, ins Feuer. Hierauf setzte er einen Brief auf, versiegelte ihn und schrieb auf den Umschlag die Adresse: An den Herrn Bankier Laffitte, Rue d'Artois. Paris.

Endlich entnahm er einem Schreibpult ein Portefeuille mit Kassenscheinen und den Paß, den er in demselben Jahr gebraucht hatte, um zur Wahl zu gehen.

Wer ihn hierbei beobachtet, wer seine tiefernste Miene gesehen hätte, würde nicht geahnt haben, was in seiner Seele vorging. Nur von Zeit zu Zeit bewegten sich seine Lippen; dann hob er wieder das Haupt empor und richtete seinen Blick auf irgend eine Stelle der Wand, als sei dort etwas, das er ergründen oder befragen wollte.

Nachdem er den Brief an Laffitte fertig gemacht, steckte er ihn, wie auch das Portefeuille in die Tasche und fing wieder an auf und abzugehen.

Seine Gedanken hatten keine andre Richtung angenommen. Noch immer stand vor den Augen seines Geistes in lichtvollen Schriftzeichen das Gebot geschrieben: »Geh! Nenne, denunzire dich!«

Desgleichen erkannte er so deutlich, als hätte sie eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt angenommen, ihrem Wesen nach, die beiden Grundsätze, die bisher die Richtschnur seines Lebens gewesen waren: Die Verheimlichung seines Namens und die Heiligung seiner Seele. Zum ersten Mal sah er ein, daß sie durchaus verschieden waren. Er begriff, daß eins dieser Prinzipien ein nothwendig gutes sei, während das andre zum Bösen führen konnte, daß das eine soviel wie Selbstaufopferung, das andre Selbstsucht bedeute; daß das eine dem Licht, das andre der Finsterniß entstammen.

Sie bekämpften sich und er sah diesen Kampf. In dem Maße, wie er über sie nachdachte, waren sie in den Augen seines Geistes größer geworden, zu Kolossen angewachsen, von denen der eine ihm als ein Gott, der andre als ein Titan erschien.

Er war entsetzt, aber es dünkte ihn, daß der edle Grundsatz den Sieg davontrage.

Er fühlte, daß er an dem zweiten Wendepunkt seines innern Lebens und seines äußern Schicksals angelangt sei. Hatte die Begegnung mit dem Bischof den ersten Abschnitt seines neuen Lebens bestimmt, so sollte jetzt die Befreiung Champmathieus' den Anfang der zweiten Periode kennzeichnen. Nach der großen Krisis die große Prüfung.

Indessen trat das Fieber, das einen Augenblick nachgelassen hatte, wieder auf. Tausend Gedanken durchkreuzten sein Hirn, bestärkten ihn aber nur in seinem Entschlusse.

Eine Zeit lang hatte er den Einwand erhoben, er nahm es vielleicht zu genau, vielleicht verdiene Champmathieu keine Theilnahme, der Mensch sei ja doch nur ein Spitzbube.

Diesen Einwurf widerlegte er sich aber: – Hatte der Mann wirklich ein paar Aepfel gestohlen, so gehörte ihm ein Monat Gefängnis, was sehr verschieden ist von lebenslänglicher Zuchthausstrafe. Und hat er denn überhaupt gestohlen? Liegen Beweise vor? Der Name Jean Valjean klagt ihn an und erläßt alle Beweise. Verfahren die Staatsanwälte nicht immer so? Sie halten Einen für einen Dieb, weil er Zuchthaussträfling gewesen ist.

Einmal ließ er sich den Gedanken beikommen, wenn er sich den Gerichten stelle, würde man ihm vielleicht die heldenmüthige Selbstüberwindung, und seinen rechtschaffenen Lebenswandel während der letzten sieben Jahre, seine Verdienste um die Stadt anrechnen und Gnade für Recht ergehen lassen.

Aber diese Hoffnung verflüchtigte sich rasch, und er erinnerte sich mit bittrem Lächeln, daß der Raub der vierzig Sous ihn zu einem rückfälligen Verbrecher stemple. Dieser Fall würde sicherlich anhängig gemacht werden und dann verfiel er dem klaren Wortlaut des Gesetzes gemäß, einer Verurtheilung zu lebenslänglichem Zuchthaus.

Er entsagte also jedweder trügerischen Hoffnung, lenkte seinen Sinn mehr und mehr von allem Irdischen ab und suchte anderswo Trost und Kraft. Er sagte sich, er müsse seine Schuldigkeit thun, vielleicht würde er nach Erfüllung seiner Pflicht nicht unglücklicher sein, als wenn er sie umginge; wenn er die Dinge ihren Gang gehen ließe, wenn er in Moatreuil-sur-Mer bleibe, würde sein guter Ruf, seine guten Werke, die Hochachtung und Verehrung, die man ihm zollte, sein Reichthum, die Beliebtheit, der er sich erfreute, seine Tugendhaftigkeit durch ein Verbrechen entwertet sein. Vollbringe er aber das Opfer, so würde ihm das Leben im Zuchthaus mit dem Halseisen, der Kette, der grünen Mütze, der harten Arbeit, der Schande, und Verachtung durch den Gedanken an den Himmel versüßt werden.

Die Erwägung so vieler schrecklicher Zweifel schwächte nicht seinen Muth, ermüdete aber sein Gehirn. Wider Willen verfiel er auf andre, unwichtigere Gedanken.

Das Blut hämmerte heftig in seinen Schläfen und er ging noch immer auf und ab. Jetzt schlug die Kirchthurmuhr, dann die Uhr des Rathhauses Mitternacht. Er zählte beide Male die Schläge und verglich den Ton der Glocken. Ja, es fiel ihm sogar der höchst gleichgültige Umstand ein, daß er vor einigen Tagen bei einem Eisenhändler eine alte Glocke mit der Aufschrift: »Antoine Albin, Romainville« gesehen hatte.

Ihn fror. Er zündete Feuer im Kamm an. Das Fenster zuzumachen, daran dachte er nicht.

Währenddem war er wieder in dumpfe Gedankenlosigkeit versunken, und es kostete ihm ziemlich viel Mühe, um sich auf das zu besinnen, was seinen Geist vor Mitternacht beschäftigt hatte.

»Ach so!« sagte er bei sich, »ich hatte beschlossen mich den Gerichten anzugeben.«

Da fiel ihm plötzlich Fantine ein.

»Ja, was soll denn aber aus der werden?«

Dieser Gedanke führte eine neue Krisis herbei.

Er wirkte, wie ein unerwarteter Lichtstrahl, der urplötzlich alle Gegenstände ganz anders erscheinen läßt.

»Was soll das heißen? Ich habe ja bis jetzt immer nur an mich gedacht, nur auf mein Belieben Rücksicht genommen. Es beliebt mir zu schweigen oder mich zu denunzieren, meine Person in Sicherheit zu bringen oder meine Seele zu retten, ein verächtlicher und geachteter Beamter oder ein verachteter und Ehrfurcht verdienender Sträfling zu sein, aber ob das Eine, oder das Andere, immer beziehe ich Alles nur auf mich, auf mich allein! Du mein Gott! das ist Alles Selbstsucht. Verschiedene Formen des Egoismus, aber immer Egoismus. Wie wenn ich auch einmal ein wenig an Andre dächte? Das ist doch die allererste Pflicht. Ich will doch mal die Sache auch unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Wenn ich nicht mehr da bin, wie wird's dann hier aussehen? – Wenn ich mich dem Gericht stelle, so stecken sie mich wieder in's Zuchthaus. Gut. Aber es ist doch noch der Bezirk, die Stadt, die Fabriken, eine neu geschaffene Industrie, die Arbeiter mit ihren Familien, die armen Leute da! Das Alles habe ich in's Leben gerufen und erhalte ich im Gange, überall, wo ein Kamin raucht, habe ich das Feuer angezündet und Fleisch in den Kochtopf gethan; ich habe den Wohlstand, den Verkehr, den Kredit ermöglicht; vor mir war das Alles nicht; ich habe das ganze Land gehoben, belebt, beseelt, befruchtet, angeregt, bereichert; gehe ich, so fehlt dem Ganzen die Seele. Und die Arme, die so viel erduldet, die sich trotz der Schande so tapfer gezeigt hat, deren Unglück ich ohne meine Schuld veranlaßt habe! Und das Kind, das ich holen und der Mutter bringen wollte! Schulde ich ihr nicht auch etwas für all das Unheil, das ich über sie gebracht habe. Verschwinde ich – was geschieht dann? Die Mutter stirbt, und das Kind ist dem Schlimmsten ausgesetzt. Alles dies passirt, wenn ich mich anzeige. Wenn ich mich nicht anzeige – nun?

Nachdem er diese Frage aufgeworfen, hielt er inne; zauderte eine Weile und zitterte; aber dies währte nicht lange und er beantwortete die Frage mit großer Ruhe:

»Nun dann kommt Champmathieu allerdings in Zuchthaus, aber warum zum Teufel hat er denn gestohlen? Ich mag reden, so viel ich will: Gestohlen hat er. Ich bleibe hier und setze mein Werk fort. Im Laufe von zehn Jahren verdiene ich zehn Millionen; die verschenke, die verwende ich zum Nutzen des Gemeinwohls. Ich behalte nichts für mich; mein Vortheil bleibt bei Allem, was ich thue, aus dem Spiel. Der allgemeine Wohlstand nimmt beständig zu; neue Erwerbszweige entstehen und beleben sich gegenseitig; die Fabriken vermehren sich; die Familien, Hunderte, Tausende von Familien werden glücklich; das Land bevölkert sich; es entstehen Dörfer, wo früher nur vereinzelte Gehöfte standen; Gehöfte, wo jetzt Einöden sind; das Elend verschwindet und mit dem Elend die Lüderlichkeit, die Prostitution, Diebstahl, Mord, alle Laster, alle Verbrechen. Bleibe ich also, so kann die arme Mutter ihr Kind groß ziehen und die Bevölkerung eines ganzen Landes wird wohlhabend und brav. War ich denn ganz des Teufels, ganz verdreht, daß ich mich denunziren wollte? Ich muß mir wirklich die Sachen sorgfältiger überlegen und nichts überstürzen. Wie? Weil es mir belieben würde mit einer melodramatischen Seelengröße zu prahlen, weil ich nur an mich denken würde, wer weiß, was für einen Kerl, einen Spitzbuben, jedenfalls aber einen Thunichtgut vor einer zu harten, aber im Grunde genommen verdienten Strafe retten möchte, sollte ich ein ganzes Land zu Grunde gehen lassen, müßte ein armes Weib im Spital, ein armes kleines Mädchen auf der Straße umkommen, als wenn es Hunde wären! Das wäre ja ganz was Abscheuliches! Bevor die Mutter ihre Tochter wieder gesehen, die Tochter ihre Mutter kennen gelernt hat! Und alles dies einem lumpigen alten Apfeldieb zu Liebe, der, wenn nicht deswegen, doch gewiß für irgend etwas Anderes Zuchthaus verdient hat. Nette Gewissenhaftigkeit, wenn man einen Schuldigen rettet und unzählige Unschuldige hinopfert! Wie kann ein alter Strolch, der nur noch wenige Jahre zu leben hat und im Zuchthaus sich nicht viel unglücklicher fühlen wird, in Betracht kommen gegen ein ganzes Volk von Müttern, Frauen, Kindern! Die arme kleine Cosette hat nur noch mich auf der ganzen Welt und hat in diesem Augenblick die bitterste Kälte zu leiden! Uebrigens auch herrliches Gesindel, die Thénardiers! Diese Unglücklichen alle sollte ich also im Stich lassen! Und gesetzt auch, ich beginge ein Unrecht, ich setzte mich Gewissensbissen aus, so würde ich mir ein großes Verdienst erwerben, indem ich, um das Wohl Anderer zu fördern, mit einer schlechten Handlung mein Seelenheil gefährdete!«

Mit diesen Worten, stand er auf und ging wieder im Zimmer hin und her. Dies Mal glaubte er mit sich zufrieden zu sein.

Wie man die Diamanten nur in den Tiefen der Erde findet, so entdeckt man auch die Wahrheit nur, wenn man ihr lange und fleißig nachgräbt. So glaubte auch Madeleine jetzt, nachdem er so lange gegrübelt, endlich die Wahrheit zu Tage gefördert zu haben, und freute sich an dem blendenden Glanze des herrlichen Kleinodes.

»Ja ja, dachte er, so ist's richtig. Das Problem ist gelöst. Ich weiß jetzt, woran ich mich zu halten habe. Jetzt nicht mehr gewankt und geschwankt! Das Interesse Aller erheischt es so, nicht das meinige. Ich bin Madeleine und will Madeleine bleiben. Wehe Dem, der Jean Valjean ist! Ich bin's nicht mehr! Ich kenne den Menschen nicht, weiß nicht, wer er ist. Fügt es sich jetzt so, daß Einer Jean Valjean heißt, so mag er zusehen, wie er fertig wird. Mich geht das nichts an. Es ist nun einmal ein Unglücksname, der herrenlos in der Luft schwebt, und fällt er auf irgend Jemand herab, so kann ich es nicht ändern!«

Er besah sich in dem kleinen Spiegel, der über dem Kamin hing und sagte:

»Sieh' da! Der Entschluß hat mir Erleichterung verschafft. Ich sehe jetzt weit besser aus.«

Wieder that er einige Schritte und blieb dann stehen: »Vorwärts! Jetzt heißt es, die Konsequenzen des gefaßten Entschlusses ziehen. Noch giebt es Fäden, die mich mit Jean Valjean verbinden! Die muß ich zerschneiden! In eben diesem Zimmer befinden sich noch Gegenstände, die mich anklagen, stumme Zeugen, die gegen mich aussagen könnten. Die müssen vernichtet werden!«

Er griff in seine Tasche, holte seine Börse heraus und entnahm ihr einen kleinen Schlüssel.

Diesen steckte er in ein Schlößchen, das durch ein dunkles Feld der Tapete fast ganz bedeckt und kaum sichtbar war, und öffnete eine kleine Thür zu einem versteckten Wandschrank. Es befanden sich darin nur einige zerlumpte Kleidungsstücke, ein blauer Leinwandkittel, ein paar alte Beinkleider, ein alter Tornister und ein an beiden Enden mit Eisen beschlagener Knotenstock. Die Jean Valjean im Oktober des Jahres 1815 in Digne gesehen hatten, würden leicht die verschiedenen Stücke dieser elenden Ausrüstung wieder erkannt haben.

Er hatte sie, wie die Leuchter, zur Erinnerung an seinen Ausgangspunkt aufbewahrt, mit dem Unterschiede, daß er, was er aus dem Zuchthaus mitgebracht, versteckte, und das Geschenk des Bischofs sehen ließ.

Nun warf er einen verstohlenen Blick nach der Thür, als fürchtete er, sie könnte, trotzdem der Riegel vorgeschoben war, sich öffnen; dann raffte er hastig Alles zusammen, ohne alle diese Gegenstände, die er so lange Jahre so sorgsam und mit so viel Gefahr aufbewahrt hatte, auch nur eines Blickes zu würdigen und warf alles in's Feuer.

Dann verschloß er wieder den Wandschrank und schob mit durchaus überflüssiger Vorsicht – denn der Versteck war ja jetzt seines Inhalts entleert – ein schweres Möbel vor.

Nach Verlauf einiger Sekunden erhellte das Zimmer und das gegenüberliegende Haus ein grelles rothes Flammenfeuer. Alles brannte. Der Knotenstock knisterte und sprühte bis in die Mitte des Zimmers helle Funken.

In der Asche, die der verbrannte Tornister nebst den darin enthaltenen greulichen Lumpen zurückließ blieb etwas Glänzendes zurück, ein Geldstück, wahrscheinlich das dem Savoyarden gestohlene Zweifrankenstück.

Er aber beachtete nicht das Feuer, sondern ging mit gleichen Schritten auf und nieder.

Plötzlich blieben seine Augen an den beiden silbernen Leuchtern haften, die vom Wiederschein des Feuers matt erglänzten.

»Halt! dachte er. Das genügt Jean Valjean zu verderben. Das muß auch weg.«

Das Feuer im Kamin war stark genug, die Leuchter in eine unförmliche Masse umzuschmelzen.

Er bückte sich und wärmte sich einen Augenblick, was ihm wohl that. »Wie gemüthlich solch' ein Feuer ist!« dachte er.

Dann rührte er in der Kohlengluth mit einem der Leuchter herum und warf sie dann beide in die Flammen.

In dem Augenblick war es ihm, als rufe in seinem Innern eine Stimme:

»Jean Valjean! Jean Valjean!«

Die Haare standen ihm zu Berge. Er hörte mit Entsetzen zu.

»So ist's recht! So fahre fort! rief die Stimme. Vollende dein Werk! Vernichte dieses Andenken! Vergiß den Bischof! Vergiß Alles! Verderbe Champmathieu! Sehr gut! Darauf kannst Du stolz sein. Die Sache ist also entschieden beschlossen, abgemacht! Der alte Mann, der nicht weiß, was man von ihm will, der vielleicht nichts Böses gethan, ein Unschuldiger, den dein Name in's Unglück stürzt, auf dem dein Name wie ein Verbrechen lastet, soll an deiner Statt verurtheilt werden, soll sein Leben in Jammer und Elend beschließen! Sehr schön! Bleibe der Herr Bürgermeister, bleibe ein ehrenwerthes und geehrtes Mitglied der guten Gesellschaft, mache die Stadt reich, ernähre die Bedürftigen, erziehe Waisen, sei glücklich, tugendhaft und bewundert. Während Du hier im Lichte und in Freuden lebst, wird ja Einer mit Schande für dich die rothe Jacke tragen, deine Kette herumschleppen! So ist es schön eingerichtet! O Du Nichtswürdiger!«

Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er starrte entsetzt die Leuchter an. Aber die Stimme in ihm fuhr fort:

»Jean Valjean! Es werden sich um dich viel Stimmen erheben, die dich preisen und segnen werden, und nur eine, die Niemand hören, und dich im Dunkel der Verborgenheit verfluchen wird! Nun höre, Du Elender: All die Segenswünsche werden, ehe sie den Himmel erreichen, wieder zurückfallen, und nur der Fluch wird zu Gott emporsteigen!«

Diese – anfänglich schwache – Stimme seines innersten Gewissens war allmählich so gewaltig und schrecklich geworden, daß er sie mit seinem äußeren leiblichen Ohr zu hören glaubte, und sich bei den letzten Worten erschrocken umwandte:

»Ist Jemand hier?« fragte er laut.

Gleich darauf lachte er wie ein Idiot.

»Bin ich dumm! Es kann ja Niemand hier sein.«

Es war doch Einer da, Einer, den Menschenaugen nicht wahrnehmen können.

Er stellte die Leuchter auf das Kamingesims.

Dann nahm er den eintönigen Marsch im Zimmer wieder auf, der den in ihm schlafenden Menschen aus seinen Träumen aufschreckte.

Die körperliche Bewegung that ihm wohl und berauschte ihn zu gleicher Zeit. Es ist, als empfinde man bisweilen in der höchsten Seelenangst das Bedürfniß, alles Mögliche, was man bei einem Gange auf seinem Wege sieht, um Rath zu fragen. Aber nach Verlauf weniger Sekunden wußte Madeleine nicht mehr, wie er bekehrt war.

Jetzt flößten ihm alle beiden Alternativen gleichen Schrecken ein. Welch ein fürchterlicher Zufall! Daß dieser Champmathieu mit einem Mal auftauchen und mit ihm verwechselt wurde! Daß er gerade durch das Mittel, das die Vorsehung anfänglich zu seiner Sicherung gebraucht hatte, jetzt zu Fall gebracht wurde!

Es trat ein Augenblick ein, wo er sich die Zukunft ausmalte. Großer Gott! Wie würde das werden, wenn er sich den Gerichten auslieferte! Mit grenzenloser Verzweiflung zählte er sich Alles auf, was er verlassen und was er wieder aufnehmen sollte. Es handelte sich also darum, dem angenehmen, schönen, glänzenden Dasein, das er geführt hatte, der allgemeinen Achtung, der Ehre, der Freiheit Lebewohl zu sagen! Er sollte nicht mehr auf den Feldern lustwandeln, die Vöglein im Monat Mai nicht mehr singen hören, die Kinder nicht mehr mit Almosen beglücken können! Er sollte nicht mehr die Annehmlichkeit der liebevollen und dankbaren Blicke empfinden, die ihm zu folgen pflegten! Er sollte das Haus, das er gebaut, sein trauliches Zimmer für immer verlassen! Jetzt gefiel ihm Alles so sehr! Er würde nicht mehr in seinen Büchern lesen, nicht mehr an dem kleinen Schreibtisch arbeiten. Die alte Portierfrau würde ihm nicht mehr des Morgens seinen Kaffee heraufbringen. Stattdessen – barmherziger Gott! – das Zuchthaus, das Halseisen, die rothe Jacke, die Kette am Fuß, schwere Arbeit, die Dunkelzelle, das Feldbett; Qualen, die ihm nur zu sehr bekannt waren! In seinem Alter und nachdem er so viel Besseres kennen gelernt hatte! Wenn er wenigstens noch jung gewesen wäre! Aber wenn man alt ist, geduzt, vom Aufseher visitirt werden, von dem Profoß Stockschläge bekommen, mit bloßen Füßen in eisenbeschlagenen Schuhen gehen, jeden Morgen und jeden Abend das Bein dem Hammer des Aufsehers darbieten, der den Eisenring zu untersuchen hat! Ein Gegenstand der Neugierde zu sein für die Fremden, denen man erzählen würde: »Der da ist der berühmte Jean Valjean, der Bürgermeister in Montreuil-sur-Mer gewesen ist.« Am Abend in Schweiß gebadet, todtmüde, die grüne Mütze über den Augen unter der Peitsche des Sergeanten die Treppe zu dem schwimmenden Bagno emporsteigen! Wie grauenvoll! Kann denn das Schicksal boshaft sein, wie ein mit Vernunft begabtes Wesen und ausarten wie das Menschenherz?

Also, wie sehr er auch sein Hirn zermarterte, immer starrte ihm die fürchterliche Frage entgegen, ob er im Himmel bleiben und zu den Teufeln herabsinken oder ob er in die Hölle zurückkehren und ein Engel werden wolle.

Was thun, großer Gott! Was thun?

Der Sturm in seinem Innern, aus dem er sich mit so großer Schwierigkeit gerettet hatte, raste von Neuem los. Seine Begriffe fingen an sich zu verwirren. Sein Hirn wurde dumpf und arbeitete maschinenmäßig, ein Zustand, der bei verzweifelter Gemüthsstimmung einzutreten pflegt. Der Name Romainville nebst zwei Versen eines Liedes, das er ehedem hatte singen hören, tauchte jetzt fortwährend in seinem Gehirn auf. So heißt ein Gehölz bei Paris, wo junge Liebespaare im Monat April Flieder pflücken.

Auch körperlich fühlte er sich jetzt schwach und schwankte beim Gehen, wie ein kleines Kind, das seine ersten Schritte allein macht.

Ab und zu versuchte er wohl gegen seine Ermattung anzukämpfen und die Herrschaft über seine Gedanken wiederzugewinnen. Zum letzten Male und um zu einem endgiltigen Entschlusse zu gelangen, stellte er sich die Frage, die sein Hirn abgemattet hatte: Soll ich mich ausliefern oder schweigen? Er konnte aber zu keiner Klarheit gelangen. Die Ergebnisse seines mühevollen Nachdenkens verloren alle scharfen Umrisse und verflogen in das Nichts, Nur so viel wurde ihm klar: Wie er sich auch entscheiden würde, ein Theil seines Ichs mußte nothgedrungen und unabwendbarer Weise sterben; in ein Grab stieg er immer, ob er sich nach rechts oder nach links wandte; es war mit seinem Glück oder mit seiner Tugend zu Ende,

Ach! die Unschlüssigkeit war wieder da. Er war nicht weiter, als zu Anfang,

So qualvoll rang der Unglückliche mit seinen Zweifeln. Achtzehnhundert Jahre vor ihm hatte in derselben Weise, das geheimnisvolle Wesen, in dem sich alle Tugenden und alle Leiden der Menschheit konzentrirten, umrauscht von den Oelbäumen Gethsemanes lange den Kelch von sich gewiesen, auf dessen Grund sein Auge die dichte Finsterniß der Hölle und das heitere Licht des Himmels schaute.

Les Misérables / Die Elenden

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