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V. Hemmnisse
ОглавлениеDie Postfuhrwerke, die damals noch seit Napoleons Zeit zwischen Arras und Montreuil-sur-Mer den Briefverkehr besorgten, waren zweirädrige Kabriolette, die inwendig mit falbem Leder ausgeschlagen waren, auf Schraubenfedern ruhten und nur zwei Sitze hatten, einen für den Kourier, den andern für den Fahrgast. Die Räder waren mit langen Naben bewaffnet, die dazu dienten, andere Fuhrwerke in respektvoller Entfernung zu halten, und die man noch auf deutschen Landstraßen zu sehen bekommt. Der Depeschenkoffer, ein riesiger langer Kasten, war hinten angebracht und aus einem Stück mit dem Kabriolett. Der Koffer war schwarz, das Kabriolett gelb angestrichen.
Diese Wagen, die heutzutage vollständig abgekommen sind, sahen ungestaltet und bucklig aus. Wenn man sie aus der Ferne sah, glichen sie jenen Kriechthieren, die man, glaube ich, Termiten nennt und einen dünnen Vorderleib haben, während der hintere Theil des Körpers sehr stark ist. Sie fuhren übrigens sehr schnell. Die Briefpost, die um ein Uhr Nachts von Arras nach der Ankunft des Pariser Kouriers, abfuhr, traf in Montreuil-sur-Mer vor fünf Uhr Morgens ein.
In jener Nacht stieß das Postkabriolett auf dem Wege von Hesden nach Montreuil-sur-Mer bei der Biegung einer Straße; eben als es in die Stadt einfahren wollte, mit einem kleinen Tilbury heftig zusammen, der nach der entgegengesetzten Richtung fuhr und in dem nur eine Person saß, ein Mann in einen Mantel gehüllt. Der Kurier rief ihm zu, er solle anhalten; aber der Andre hörte nicht auf ihn und eilte in scharfem Trabe weiter.
»Der hat's verteufelt eilig!« meinte der Kurier.
Der sich so beeilte, war derselbe Mann, dessen bemitleidenswerten Seelenkampf wir oben beschrieben haben.
Wo wollte er hin? Er hätte es nicht sagen können. Warum eilte er so? Er wußte es nicht. Er fuhr auf's Gerathewohl vor sich hin? Wohin? Ohne Zweifel nach Arras; aber vielleicht auch noch anderswohin. Zeitweise fühlte er dies und erschrack. Er fuhr in die dunkle Zukunft, wie in einen Abgrund hinein. Es trieb, es zog ihn etwas hin. Was in ihm vorging, könnte Niemand sagen; Alle aber werden es verstehen. Welcher Mensch hat nicht wenigstens ein Mal in seinem Leben die dunkle Höhle des Unbekannten betreten?
Er hatte überhaupt nichts beschlossen, nichts entschieden, nichts geregelt, nichts abgemacht. Keiner der Akte seines Gewissens war ein endgültiger. Er stand immer am Anfang.
Warum begab er sich nach Arras?
Er wiederholte sich unaufhörlich seine Auffassung der Lage, wie er sie sich schon, als er den Wagen bei Scaufflaire bestellte, gebildet hatte. Wie die Sache auch ablaufen würde, dachte er, es könne nicht schaden, wenn er Alles mit seinen eigenen Augen sähe und selber die Entwickelung der Dinge beurtheile. Das gebiete ihm sogar die Vorsicht. So sei er der Gefahr ausgesetzt, zu ängstlich, zu skrupulös zu verfahren. Wüßte er erst, weß Geistes Kind Champmathieu sei, wäre es ein schlechter Kerl, so würde er sich kein Gewissen mehr daraus zumachen brauchen, daß er ihn an seiner Statt in's Zuchthaus wandern ließe. Allerdings würde Javert und Brevet, Chenildieu, Cochepaille zur Stelle sein; aber die würden ihn sicherlich nicht wiedererkennen. Das wäre! Javert lagen dergleichen Vermuthungen wer weiß wie fern. Alle hätten nun einmal Verdacht auf Champmathieu, und solch ein Verdacht sei schwer zu entwurzeln. Es sei also nichts zu befürchten. Eine schwere Prüfung wäre es freilich, aber er würde sie überstehen. Hänge doch sein Schicksal, möge ihm noch so Schlimmes drohen, von ihm ab. Namentlich an diesen Gedanken klammerte er sich.
Im Grunde genommen, freilich hätte er lieber nicht nach Arras gehen mögen.
Trotzdem ging er.
Während er sich diesen trübsinnigen Grübeleien hingab, peitschte er von Zeit zu Zeit sein Pferdchen, das wacker seine Schuldigkeit that.
In dem Maße, wie sein Wagen vorwärts kam, fühlte er etwas in sich, das mehr und mehr zurückwich.
Bei Tagesanbruch befand er sich auf freiem Felde; Montreuil-sur-Mer lag weit hinter ihm. Der Horizont färbte sich weiß, vor Madeleines Augen glitten, ohne daß er sie recht gewahrte, all die frostigen Gestalten hin, die dem Blick des Beschauers das Grauen eines Wintertages darbietet. Man kann auch des Morgens, eben so gut wie des Abends, graulige Dinge zu sehen bekommen. Er, freilich, sah sie nicht, aber ohne, daß er es inne wurde, so zu sagen auf physische Weise, verfinsterten die schwarzen Schatten der Bäume und Hügel sein wild aufgeregtes Gemüth noch mehr.
Jedesmal, wenn er an einem der hier sehr dünn gesäten Häuser vorbeikam, dachte er sich: »Wie glücklich, die schlafen dürfen!
Der Hufschlag des Pferdes, das Geklingel der Glöckchen, das Rädergerassel, einförmige Geräusche, die sich angenehm und gemüthlich anhören, wenn man guter Dinge ist, hatten für sein Ohr einen grausigen Klang.
Es war heller Tag, als er in Hesdin ankam. Er hielt vor einer Herberge an, um seinen Schimmel verschnaufen und füttern zu lassen.
Das Pferd war, wie Scaufflaire richtig gesagt hatte, von boulognischer Race, die verschiedne Fehler z. B. einen zu starken Kopf und zu starken Bauch hat, aber dafür besaß es eine breite Brust, ein starkes Kreuz, magre und schlanke Beine und solide Füße, so unschön diese Race auch sein mag sie ist kräftig und gesund. Das brave Thierchen hatte in zwei Stunden seine fünf Meilen zurückgelegt und kein Tropfen Schweiß war an seinem Kreuz zu sehen.
Madeleine war in dem Wagen sitzen geblieben. Da bückte sich plötzlich der Stallknecht, der den Hafer herbeibrachte und musterte scharf das linke Rad.
»Fahren Sie weit?« forschte er dann.
Zerstreut entgegnete Madeleine:
»Warum?«
»Kommen Sie weither?« forschte der Stallknecht weiter.
»Fünf Meilen habe ich jetzt hinter mir.«
»Hm!«
»Was haben Sie denn?«
Der Stallknecht beugte sich abermals nieder, schwieg eine Weile und richtete sich dann wieder in die Höhe mit den Worten:
»Ja, sehen Sie, das Rad da mag ja fünf Meilen hinter sich gekriegt haben; jetzt aber hält es keine Viertelmeile mehr.«
Madeleine sprang vom Wagen herab:
»Was sagen Sie da?«
»Ich sage, es ist ein wahres Wunder, daß Sie fünf Meilen gefahren und daß Sie sammt Ihrem Pferde nicht im Chausseegraben zu liegen gekommen sind. Sehen Sie mal her.«
Das Rad war allerdings stark beschädigt. Zwei Speichen waren entzwei und die Schraube, mit der die Nabe an die Achse befestigt war, saß nicht mehr fest.
»Guter Freund«, erkundigte sich Madeleine, »giebt es hier einen Stellmacher?«
»Gewiß, mein Herr.«
»Erweisen Sie mir den Gefallen und holen Sie ihn.«
»Er wohnt nebenan. Heda! Meister Bourgaillard!«
Meister Bourgaillard, der Stellmacher, stand gerade auf der Schwelle seiner Thür. Er kam, untersuchte das Rad und machte dabei eine Grimasse, wie ein Chirurg, der ein gebrochenes Bein ansieht.
»Können Sie dieses Rad auf der Stelle ausbessern?«
»Ja, mein Herr.«
»Wann werde ich weiter fahren können?«
»Morgen.«
»Morgen?«
»Ja, die Reparatur wird reichlich einen Tag Arbeit kosten. Hat der Herr Eile?«
»Große Eile. Ich muß spätestens in einer Stunde wieder aufbrechen.«
»Das geht nicht, mein Herr.«
»Ich bezahle, was verlangt wird.«
»Es geht nicht.«
»Nun dann gebe ich Ihnen zwei Stunden Zeit.«
»Heute geht's nicht mehr. Es sind zwei Speichen und eine Nabe zu repariren. Vor morgen früh kann der Herr nicht fahren.«
»Mein Geschäft duldet keinen Aufschub bis morgen. Statt das Rad auszubessern, könnte man es nicht durch ein anderes ersetzen?«
»Wie denn?«
»Sie sind Stellmacher?«
»Gewiß, mein Herr.«
»Haben Sie kein Rad, das Sie mir verkaufen könnten? Dann brauchte ich die Fahrt nicht zu unterbrechen.«
»Ich habe kein Rad vorräthig, das zu ihrem Wagen passen würde. Zu einem Paar gehören zwei Räder. Ein einzelnes Rad paßt nicht so leicht zu einem beliebigen andern.«
»Gut. Dann verkaufen Sie mir ein Paar.«
»Alle Räder passen nicht zu allen Achsen.«
»So versuchen Sie's doch.«
»Das hätte keinen Zweck. Ich habe nur große Wagenräder. Es ist ein kleiner Ort.«
»Haben Sie ein Kabriolett, das Sie vermiethen könnten?«
Der Stellmachermeister hatte auf den ersten Blick erkannt, daß der Tilbury ein Miethwagen war. Er zuckte die Achseln.
»Sie richten die Wagen, die Sie miethen, gut zu. Hätte ich einen, ich würde ihn Ihnen nicht anvertrauen.«
»Gut, so kaufe ich Ihnen einen ab.«
»Ich habe keinen.«
»Was! Auch keine Halbkutsche? Sie sehen, ich bin leicht zufrieden zu stellen.«
»In einem kleinen Ort kann man das Alles nicht bekommen. Ich habe allerdings da in der Remise eine alte Kalesche, die einem Herrn in der Stadt gehört. Er hat sie mir zur Aufbewahrung übergeben und gebraucht sie alle Jubeljahr ein Mal. Mir käm's nicht darauf an, sie Ihnen zu geben, aber der Einwohner dürfte nichts davon wissen. Und dann gehören auch zwei Pferde zu einer Kalesche.«
»So werde ich zwei Postpferde miethen.«
»Wohin reist der Herr?«
»Nach Arras.«
»Und der Herr muß heute schon da sein?«
»Ja freilich.«
»Mit Postpferden?«
»Warum denn nicht?«
»Ist es dem Herrn egal, wenn er heute Nacht um vier Uhr in Arras ankommt?«
»Durchaus nicht.«
»Ja, sehen Sie, mit den Postpferden ist das so 'ne Sache ... Der Herr hat seinen Paß mit?«
»Ja.«
»Nun, mit Postpferden wird der Herr nicht vor morgen früh in Arras ankommen. Unser Ort liegt an einem Querweg; da hat man nicht die Ordnung, die sich gehört. Die Pferde sind jetzt alle auf den Feldern. Es ist nämlich die Zeit, wo gepflügt wird und starke Thiere gebraucht werden. Da nimmt man die guten Pferde, wo man sie kriegt, auch die von der Post. Der Herr wird auf jeder Station drei bis vier Stunden warten müssen. Noch dazu geht's im Schritt. Es sind viel Anhöhen in unserer Gegend.«
»Gut, dann werde ich hin reiten. Spannen Sie den Wagen aus. Ein Sattel wird doch hoffentlich hier zu haben sein.«
»Gewiß. Aber ist das auch ein reitbares Pferd?«
»Richtig! Sie erinnern mich daran. Es ist nur ein Wagenpferd.«
»Ja dann ...«
»Aber ich werde doch im Dorfe ein Reitpferd finden, das ich miethen kann?«
»Das die ganze Strecke bis Arras hintereinander weg galoppieren soll?«
»Ja wohl.«
»Solch ein Pferd ist hier zu Lande nicht zu haben. Sie müßten's auch kaufen, denn Sie sind hier Keinem bekannt. Aber ob Sie's nun kaufen oder miethen ob Sie fünfhundert Franken bieten, oder tausend, Sie würden keins auftreiben können!«
»Was fange ich blos an?«
»Je nun, so wahr ich ein ehrlicher Mann bin, das Beste ist, ich setze das Rad wieder in Stand, und Sie schieben Ihre Abfahrt bis morgen auf.«
»Morgen ist es zu spät.«
»Ja dann!«
»Wann kommt die Postkutsche nach Arras hier durch!«
»Diese Nacht. Die hin, und die zurückfährt, fahren des Nachts.«
»Also Sie brauchen wirklich einen Tag dazu, ein Rad auszubessern?«
»Einen Tag mindestens.«
»Mit zwei Gesellen?«
»Auch wenn ich zehn hätte.«
»Wie wäre es, wenn man die Speichen mit Stricken bände?«
»Die Speichen, ja! Bei der Nabe geht das nicht. Uebrigens ist die Felge auch in schlechter Verfassung.«
»Giebt es in der Stadt einen Wagenvermiether?«
»Nein.«
»Einen andern Stellmacher?«
»Nein!« antworteten der Stallknecht und der Stellmacher einstimmig und schüttelten den Kopf.
Madeleine empfand eine grenzenlose Freude. Die Vorsehung mischte sich offenbar ins Spiel. Sie hatte es so gefügt, daß der Tilbury beschädigt wurde und die Reise nicht weiter fortgesetzt werden konnte. Er hatte den ersten Wink, den sie ihm gab, unbeachtet gelassen; hatte Alles, was in seinen Kräften stand, gethan um weiter fahren zu können, und redlich und gewissenhaft alle möglichen Mittel probiert; hatte weder die Winterkälte, noch Strapazen, noch Geldausgaben gescheut; kurz, sein Gewissen durfte ihm keine Vorwürfe machen. Wenn er nicht weiter fuhr, so ging ihn das nichts mehr an. Es war nicht seine Schuld. Nicht er, die Vorsehung hatte es so gewollt.
Er athmete auf, zum ersten Mal seit Javerts Besuch, frei und aus voller Brust. Ihm war, als löse sich die eiserne Hand, die ihm seit zwanzig Stunden das Herz zusammendrückte, und lasse ihn los.
Gott war jetzt für ihn und ließ es ihn wissen.
Jetzt, wo er alles Mögliche gethan, durfte er doch wohl ruhig nach Hause zurückkehren.
Wenn sein Gespräch mit dem Stellmacher in einem Zimmer der Herberge stattgefunden hätte, so würde es keine Zeugen gehabt haben. Niemand hätte etwas gehört, und die Dinge hätten eine ganz andre Wendung genommen. Madeleine und der Stellmacher standen aber auf der Straße und es finden sich immer Neugierige, die gern zuhören, wenn ein Fremder etwas fragt. So hatte sich auch allmählich um die Beiden eine Schaar Menschen angesammelt und unter ihnen ein kleiner Knabe auf den Niemand Acht gab. Dieser hörte einige Minuten dem Gespräch zu und eilte dann plötzlich spornstreichs davon.
Bald darauf, als Madeleine eben schlüssig geworden und im Begriff stand umzukehren, kam der Knabe mit einer alten Frau zurück.
»Lieber Herr,« begann die Alte, »mein Junge sagt mir, Sie wünschten ein Kabriolett zu miethen.«
Diese einfachen Worte einer greisen, von einem Kinde geführten Frau preßten ihm heftigen Angstschweiß aus. Er glaubte die Hand wieder zu sehen, die ihn eben erst freigelassen. Sie wollte ihn jetzt wieder packen.
»Ja wohl, gute Frau,« antwortete er, »ich brauche ein Kabriolett. Aber –« setzte er eilig hinzu – »es ist hier keins zu bekommen.«
»Doch, doch!« erwiderte die Alte.
»Wo denn!« fragte der Stellmacher.
»Bei mir,« lautete der Bescheid.
Madeleine erschrak. Die Hand des Schicksals hielt ihn wieder fest.
Die Greisin besaß in der That in einem Schuppen eine Halbkutsche. Davon wollten aber der Stallknecht und der Stellmacher, die es ärgerte, daß der reiche Fremde ihnen entwischen sollte, nichts wissen.
Solch' ein greulicher Rumpelkasten! Das Jammergestell ruhte auf der bloßen Achse, hatte keine Federn! Dafür freilich hingen die Sitze im Innern an Lederriemen!! Es regnete hinein. Die Räder waren vom Rost zerfressen. Das Ding würde nicht viel weiter kommen. Der Herr sollte keine Fahrt damit riskiren u.s.w., u.s.w.
Das war Alles wahr, aber der alte Klapperkasten war ein Ding mit zwei Rädern, in dem man nach Arras kommen konnte.
Er bezahlte, was man von ihm verlangte, ließ den Tilbury bei dem Stellmacher, bis er wiederkommen würde ihn abzuholen, hieß seinen Schimmel an die Halbkutsche spannen, stieg auf und setzte seine Reise fort.
In dem Augenblick, wo sich der Wagen in Bewegung setzte, gestand er sich ein, daß der Gedanke, nicht weiter reisen zu können, ihm eine gewisse Freude verursacht hatte. Ueber diese Freude dachte er mit einer Art Verdruß nach und fand sie abgeschmackt. Freude über die Umkehr! Wozu? Hatte er denn die Reise nicht aus freiem Willen unternommen? Es zwang ihn ja Niemand dazu.
Es würde doch immer das geschehen, was ihm beliebte.
Als er zum Dorfe hinausfuhr, hörte er Jemand rufen: »Halt! Halt!« Er hielt sofort an mit einem krampfhaften, hastigen Ruck, denn vielleicht bedeutete die Verzögerung etwas Gutes.
Es war der Junge der alten Frau.
»Mein Herr, ich bin Derjenige, der Ihnen den Wagen verschafft hat.«
»Nun?«
»Sie haben mir nichts dafür gegeben.«
Er, der sonst so bereitwillig gab, fand diese Forderung unverschämt und beinahe niederträchtig.
»Also Du warst es? Du infamer Lümmel, Du kriegst nichts.«
Damit peitschte er auf sein Pferd los und jagte im schnellsten Trabe davon.
Er hatte in Hesdin viel Zeit versäumt, die er wieder einbringen wollte. Das Pferdchen besaß Courage und zog so gut, wie zwei; aber es war im Februar, es hatte geregnet und die Wege befanden sich in schlechtem Zustande. Dann war der Wagen, in dem er jetzt saß, nicht so leicht, wie der Tilbury. Außerdem eine Menge Steilungen auf dem Wege.
Er brauchte vier Stunden, um von Hesdin nach Saint-Pol zu gelangen. In vier Stunden sechs Meilen!
In Saint-Pol kehrte er in der ersten besten Herberge ein und ließ das Pferd in den Stall führen. Dem Versprechen gemäß, das er Scaufflaire gegeben hatte, hielt er sich, während das Pferd seinen Hafer verzehrte, in der Nähe der Krippe auf und hing trübseligen, verworrenen Grübeleien nach.
Da kam die Frau des Gastwirtes in den Stall und fragte:
»Will der Herr nicht frühstücken?«
»Richtig, richtig! – Ich habe sogar ganz tüchtigen Appetit.«
Er folgte der Wirtin, die ein munteres, vergnügtes Aussehen hatte.
»Beeilen Sie sich,« mahnte er. »Ich habe Eile«.
Eine dicke flamländische Magd deckte rasch den Tisch. Er sah sie mit einem Gefühl des Behagens an.
»Das hat mir gefehlt,« meinte er. »Ich habe heute noch nicht gefrühstückt.«
Als das Essen aufgetragen wurde, fiel er über das Brot her, aß einen Bissen davon und legte es dann langsam auf den Tisch zurück.
»Wie kommt es, daß das Brot hier so bitter ist?« fragte er einen Fuhrmann, der an einem andern Tisch mit gutem Appetit speiste.
Der Fuhrmann aber war ein Ausländer und verstand ihn nicht.
Nun kehrte er in den Stall zu seinem Schimmel zurück.
Eine Stunde später hatte er Saint-Pol hinter sich und fuhr auf Tinques zu, das von Arras nur noch fünf Meilen entfernt ist.
Was that er während dieser Fahrt? Woran dachte er? Er sah sich, wie am Morgen, die Bäume, die Strohdächer, die Aecker an, wie sie an ihm vorüberwanderten, und die Landschaft, die an jeder Biegung des Weges eine andere wurde. Eine solche Betrachtung genügt bisweilen dem Menschen und befreit ihn fast von der Nothwendigkeit zu denken. Nichts Trübsinnigeres, nichts, das die Tiefen des Herzens stärker aufwühlt, als tausenderlei Dinge zum letzten Male sehen! Reisen heißt, jeden Augenblick an seinen Anfang und an sein Ende erinnert werden. Vielleicht beschäftigte sich sein Geist mit unbestimmten Vergleichen zwischen den Veränderungen des Horizontes und den Wechselfällen des menschlichen Lebens. Bei unserer Reise durch das Dasein sehen wir beständig alle Gegenstände uns fliehen. Helles und Dunkles wechseln mit einander ab. Man sieht etwas vorüberkommen, streckt eilig die Hände aus, es zu erfassen; jedes Ereigniß bezeichnet eine Biegung des Weges und ehe man sich dessen versieht, ist man alt geworden. Dann fühlt man einen Ruck, Alles ist finster, man erblickt ein dunkles Thor, das Pferd des Lebens, das Einen gezogen hat, bleibt stehen und ein tief vermummter Unbekannter spannt es in der Finsterniß aus.
Es dämmerte schon, als die Kinder, die in Tinques aus der Schule kamen, den Fremden vorbeifahren sahen. Allerdings waren die Tage noch kurz zu dieser Jahreszeit. Madeleine hielt an diesem Orte nicht an. Aber als er eben im Begriff stand, aus dem Dorf hinauszufahren, richtete sich ein Chausseearbeiter, der Steine einrammte, in die Höhe und sagte:
»Das Pferd da ist schön müde!«
In der That ging das arme Thier nur noch im Schritt.
»Fahren Sie nach Arras?« forschte der Arbeiter.
»Ja.«
»Wenn Sie Sich nicht mehr beeilen, werden Sie nicht früh ankommen.«
Madeleine hielt an und fragte ihn:
»Wie weit ist es noch von hier bis Arras?«
»Beinah gute sieben Meilen.«
»Wie so? Nach dem Postbuch sind es nur fünf und eine Viertelmeile.«
»Ja so, Sie wissen wohl nicht, daß der Weg neu gepflastert wird? Eine Viertelstunde weiterhin ist er gesperrt. Da geht's nicht weiter«
»Wirklich?«
»Sie schlagen den Weg links ein, nach Caremcy, fahren über den Fluß, und wenn Sie in Camblin sind, wenden Sie Sich rechts. Dann sind Sie auf dem Wege, der von Mont-Saint-Eloy nach Arras führt.«
»Aber es dunkelt schon: Ich werde mich verirren.« »Sie sind wohl nicht aus dieser Gegend.«
»Nein.«
»Na ja! Und dabei lauter Querwege. – Mein Herr, wollen Sie einen guten Rat von mir annehmen. Ihr Pferd ist müde. Kehren Sie um. In Tinques ist eine gute Herberge, wo Sie dann übernachten können. Morgen fahren Sie dann weiter.«
»Ich muß noch heute Abend dort sein.«
»Das ist was Andres.« Dann fahren Sie aber trotzdem bis zur Herberge zurück und holen Sie Sich noch ein Pferd zur Aushülfe. Sie können sich dann auch ein Stück führen lassen.«
Madeleine befolgte den Rath, kehrte um und kam eine halbe Stunde später an derselben Stelle wieder vorüber, aber in schnellem Trabe und mit einem guten Aushülfspferde. Ein Stallknecht der sich Postillon titulierte saß auf der Deichsel.
Indessen merkte Madeleine, daß die Zeit verging.
Schon war es finstre Nacht.
Sie fuhren in den Querweg hinein, der schlecht im Stande war. Der Wagen stürzte von einem Geleise in's andre. Madeleine feuerte den Postillon an:
»Immer Trab und doppeltes Trinkgeld.«
Da zerbrach in Folge eines heftigen Stoßes das Ortscheit.
»Mein Herr, ich weiß nicht mehr, wie ich mein Pferd anspannen soll. Auf diesem Wege führt es sich sehr schlecht bei Nacht; wenn Sie in Tinques übernachten wollen, können wir morgen in aller Frühe in Arras sei.«
»Hast Du einen Strick und ein Messer?« erwiederte er.
»Ja, mein Herr.«
Er schnitt einen Baumast ab und machte sich daraus ein Ortscheit zurecht.
So wurden wieder zwanzig Minuten Zeit versäumt; aber sie konnten nun im Galopp die Fahrt fortsetzen. Die Ebene war in Dunkelheit gehüllt. Ein niedriger kurzer und schwarzer Nebelstreifen lagerte auf den Hügeln und stieg stellenweise wie Rauchwolken empor. In den Wolken sah man hie und da weißliche, lichte Flecken. Ein starker Seewind rumorte überall am Horizont, als fuhrwerke er mit großen Möbeln herum. Alles, was man bemerken konnte, sah graulig aus. Womit treibt auch nicht der gewaltige Nachtwind sein Spiel!
Die Kälte drang ihm bis in's Mark. Seit dem Tage vorher hatte er nichts gegessen. Es fiel ihm wieder jene Nacht ein, wo er ziellos über die große Ebene bei Digne hin und hergeirrt war. Das war acht Jahre her, und es kam ihm vor, als sei es gestern gewesen.
Aus der Ferne ließ sich eine Thurmuhr hören.
»Was schlägt die Uhr?« fragte er den Stallknecht.
»Sieben, mein Herr. Um acht sind wir in Arras. Wir haben nur noch drei Meilen zurückzulegen.«
Erst jetzt fiel ihm ein – und er wundert! sich, daß er nicht früher auf den Gedanken gekommen war –. Daß all die Mühe vielleicht umsonst aufgewandt wäre; daß er nicht einmal wußte, zu welcher Stunde die Verhandlung des Prozesses angesetzt war; daß er sich danach hätte erkundigen sollen; daß er thöricht sei, so darauf los zu fahren, ohne danach zu fragen, ob es auch einen Zweck habe. Dann rechnete er: Gewöhnlich fingen die Sitzungen des Schwurgerichts um neun Uhr Vormittags an. Die Verhandlung der Anklage wegen des Apfeldiebstahls konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Dann kam die Feststellung der Personalien an die Reihe, vier bis fünf Zeugen zu vernehmen, die Reden des Staatsanwalts und des Vertheidigers, die alle Beide nicht viel zu sagen haben würden. Kurz er rechnete aus, daß er erst nach Beendigung der Verhandlung eintreffen würde.
Der Postillon trieb die Pferde zu noch größerer Eile an. Sie waren über den Fluß gefahren und hatten Mont-Saint-Eloy hinter sich.
Die Nacht wurde immer dunkler.