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PROLOG

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16. November 2018

„ Vera Campbell“

Ich nickte.

„ Siebzehn Jahre alt. Braune Haare und Augen, bleiches Gesicht, nicht besonders groß, fast schon zu zierlich … Kurz gesagt, gewöhnlich“ bemerkte die Mutter Oberin geringschätzig und lies ihren Blick über meinen gesamten Körper schweifen, während ich wie eine Violinsaite gespannt vor ihr stand.

Eine weitere Spitze gegen mein eher mittelmäßiges Aussehen. Ich wusste es schon, aber wenn man es so direkt gesagt bekam, wurde die Sache noch offensichtlicher und brutal.

„ Aus den Noten deines letzten Zeugnisses kann ich sehen, dass es auch in Bezug auf die Leistungen kaum etwas Bemerkenswertes gibt“ fuhr die Schwester mit strenger und boshafter Stimme fort, wobei sie durch die Seiten meiner persönlichen Akte blätterte, die ihren mächtigen Schreibtisch bedeckte.

„ Ich hatte in Wahrheit noch nie eine mangelhafte Note in meinem Zeugnis gehabt und versuche, mich zu bemühen …“ protestierte ich. Es genügte schon, dass ich hässlich war, aber dumm - nein!

Außerdem war es ja nicht meine Schuld, dass ich aufgrund meiner schlechten Gesundheit viele Stunden versäumt hatte.

„ Habe ich dir vielleicht erlaubt, zu reden?“ donnerte die Frau voller Abscheu.

Ich fühlte, wie meine Kräfte schwanden. Ich stand schon seit fast zwanzig Minuten in strammer Haltung vor der Leiterin des katholischen Internats, in dem ich sicherlich zumindest die nächsten beiden Monate verbringen würde, weit weg von meiner Tante Cecilia, meiner einzigen wahren Bezugsperson. Ganz zu schweigen von dem, was ich in den letzten Tagen durchgemacht hatte und was der wahre Grund für meinen erzwungenen Aufenthalt war!

„ Mutter gestorben. Vater unbekannt. Cecilia Campbell, einer Nonne anvertraut, die aus dem Orden ausgetreten ist, um sich um ihre Nicht zu kümmern. Mmh… Hier steht auch, dass du krank bist … Eine sehr seltene Form der Anämie“ las die Mutter Oberin mit einem missbilligenden Ton auf einer anderen Seite.

Es kam mir vor, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen. Ich war es nicht gewohnt, Abscheu zu erregen, wenn von meiner Gesundheit gesprochen wurde. Normalerweise wurde ich von Zuneigung und Verständnis umringt.

„ Es gibt sogar eine Anweisung für deine Ernährung. Reich an Proteinen und viel Schweine- oder Rindfleisch, fast roh. Kein Geflügel“ kommentierte die Frau, so als ob sie eine starke Übelkeit niederringen müsse.

Ich konnte kaum noch nicken. Es kam mir vor, als ob mich diese grauen Augen schonungslos ins Visier nehmen würden, um mich wie Dolche zu durchbohren.

„ Als wenn das noch nicht genug wäre steht hier auch noch, dass du ein Mal im Monat mindestens 50 cl Flüssigkeit aus dem arterio-venösen System von Schweinen oder Rindern trinken musst … das ist ungeheuerlich! Du musst Tierblut trinken? Das ist abscheulich!“ explodierte die Leiterin, die vor Ekel hochrot im Gesicht war und weiter in meiner Akte las, in der sich jemand ganz offenbar die Mühe gemacht hatte, wirklich alles über mich und mein Leben niederzuschreiben.

Ich hätte gerne vorgebracht, dass dies die einzige Möglichkeit gewesen war, mich am Leben zu erhalten und dass meine Tante tausend Opfer gebracht hatte, um mich zu retten, nachdem ich ihr nach dem Tod meiner Mutter, die kurz nach meiner Geburt starb, anvertraut wurde.

Außerdem sagte meine Tante immer, dass das Trinken von Blut gar nicht so schockierend sei, denn in einigen Ländern des Ostens war es üblich, heißes Schlangenblut gegen Rheuma zu trinken. So seltsam war es also gar nicht.

„ Weiß dein Arzt nicht, dass es heutzutage Transfusionen gibt?“

„ Doch, aber leider hat sich herausgestellt, dass mein Körper besser reagiert, wenn auch das Verdauungssystem beteiligt ist, um einen unmittelbareren und länger anhaltenden Nutzen zu haben“, flüsterte ich, wobei ich über die Worte stolperte. Selbst ich hatte nie wirklich verstanden, warum Transfusionen mich nicht so sehr belebten, wie das Trinken meiner „Hämodose“, wie meine Tante und ich es nannten.

Manchmal konnte mich meine Anämie so sehr schwächen, dass ich das Bewusstsein verlor.

Alles, was ich brauchte, war meine „Medizin“ und ich erlangte sofort mein perfektes Gehör und Sehvermögen zurück und das Gefühl der Müdigkeit, das ich davor empfand, verschwand völlig.

Die Mutter Oberin seufzte tief und ließ sich in den harten, schwarzen Sessel sinken, auf dem sie saß, während mir noch nicht einmal ein Stuhl angeboten wurde.

„ Du bist nur hier, weil Kardinal Siringer selbst mich darum gebeten hat, aber ich möchte, dass dir klar ist, dass dies keine Zufluchtsstätte für Außenseiter ist, sondern ein angesehenes Internat, das dem Willen des Herrn folgt und achtet".

Pater Dominick hatte mir bereits von diesem erlauchten Internat erzählt, dem alten Schloss von Melmore, das auf den heiligen Ruinen von Melmore Abbey errichtet worden war, einer der ältesten Abteien, die den verschiedenen Kriegen Irlands standgehalten hatte. Ich wusste, dass ich dort sicher sein würde, aber jetzt kam ich mir vor wie in einem dunklen, kalten Gefängnis. Selbst das Klima war gegen mich. Der Winter stand vor der Tür und ich wusste, dass ich die Sonne jetzt länger nicht mehr zu Gesicht bekommen würde.

Außerdem war dieses Gebiet berühmt für seine Regenfälle und Nebelbänke.

Wenn ich überleben wollte, musste ich mir etwas Schönes suchen, sonst wäre ich verrückt geworden.

„ Gut. Du kannst gehen. Schwester Agatha wird dich zu deinem Zimmer führen, wo du zwei Uniformen vorfinden wirst, die du immer tragen musst, einen Trainingsanzug und den Stundenplan, den du ab morgen früh einzuhalten hast. Du hast eine Stunde Zeit, um deine Sachen auszupacken und dich einzurichten. Dann ist es Zeit für die Messe in der Kirche. Sei pünktlich“, die Mutter Oberin entließ mich mit einem frostigen Nicken.

Ich fühlte mich, als ob ich Wurzeln geschlagen hätte und schaffte es nur mit Mühe, meine Füße zu bewegen.

Ich sagte nichts. Ich drehte mich um, öffnete die schwere Tür und ging hinaus.

Kaum trat ich aus der Tür des Büros, als eine Nonne mittleren Alters nervös zu mir kam, die die ganze Zeit draußen in einem Stuhl aus dunklen Nussbaumholz auf mich gewartet hatte.

„ Ich bin Schwester Agatha. Du musst Vera Campbell sein, die Neue. Komm. Ich bringe dich in dein neues Zimmer, das du mit Maria Kelson teilen wirst, einem Mädchen in deinem Alter. Sie ist ein wenig schüchtern, aber dem Herrn sehr ergeben... Ich wäre nicht überrascht, wenn sie sich irgendwann entscheiden würde, ihre Gelübde abzulegen“, erklärte die Nonne, in Gedanken versunken.

Vor mir lagen kalte, feuchte Gänge und Treppen aus Stein. Die Stille, die an diesem Ort herrschte, war eisig.

Ich konnte nur den Klang unserer Schritte hören.

Es kam mir vor, als ob ich plötzlich in eine andere Ära katapultiert worden wäre.

Ich hatte ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass solche Orte noch bewohnt oder gar als Internat für Jugendliche genutzt werden könnten.

Ich sah mich immer wieder ehrfürchtig um.

Auf der rechten Seite gab es viele hohe, schmale, gotisch anmutende Fenster, die die Atmosphäre noch unheimlicher machten. Ich war so von der Strenge des Ortes beeindruckt, dass ich kaum auf die Worte der Nonne hörte, die unentwegt weiter plapperte: „Nach den neuen Integrationsgesetzen musste sich auch unser Internat anpassen, so dass diese Einrichtung jetzt sowohl für Männer als auch für Frauen offen ist. Im Erdgeschoss befinden sich die Klassenzimmer, die Turnhalle und die Kantine, während sich im zweiten Stock der Schlafsaal befindet. Der Westflügel ist für die Jungen und der Ostflügel für die Mädchen reserviert. Im dritten Stock befinden sich, wie du ja gesehen hast, die verschiedenen Büros und die Privaträume der Lehrerinnen, sowie eine riesige Bibliothek, zu der du nur mit der Erlaubnis von Schwester Elizabeth Zugang hast. Die Kapelle liegt direkt gegenüber der Gärten und Ställe und nimmt den gesamten Nordflügel ein. Du musst, um dahin zu gelangen, nach draußen und dann um das Internat herumgehen.“

Schwester Agatha sprach weiterhin in ihrem flachen, aber schnellen Tonfall. Auch sie schien nicht besonders freundlich oder warmherzig zu sein. Wie war es möglich, dass niemand ein wenig Mitgefühl für die Neuankömmlinge zeigte?

„ Ich möchte dich auch darauf hinweisen, dass in den Gängen nicht geschrien und gerannt wird und dass du die Uhrzeiten einhalten musst. Um sieben wird gefrühstückt, Mittagessen ist um zwölf und Abendessen gibt es um sieben Uhr abends nach der Messe um sechs. Denk daran, immer deine Schuluniform zu tragen, wenn du dein Zimmer verlässt, und lass deine Sachen nicht in deinem Zimmer herumliegen, sonst werden sie beschlagnahmt und weggeworfen.“

Das war ja schlimmer als in einem Gefängnis!

Wir gingen die Treppe hinunter, liefen einen langen Gang entlang und bogen dann nach links in einen weiteren finsteren, feuchten Korridor mit dunklen Wänden ab.

Ich fühlte, wie die Feuchtigkeit in meine Knochen eindrang und ein Geruch von Schimmel meine Lungen füllte, so dass mir übel wurde.

„ Das ist der Schlafsaal. Dein Zimmer ist die dritte Tür rechts. Ganz hinten ist das Badezimmer. Mach dich fertig, in fünfzig Minuten geht es zum Gebet“, schloss die Nonne, bevor sie ging.

„ Danke“ flüsterte ich, aber es kam nur ein schwacher, kaum vernehmbarer Hauch aus meinem Mund.

Ich ging die letzten paar Meter alleine und öffnete diese schreckliche dunkle Holztür mit der schwarzen Klinke, die mein Zimmer verbarg.

Mir genügte ein kurzer Blick: zwei Betten, zwei Nachttische, zwei Schränke für das Notwendigste, zwei kleine Tische mit zwei Stühlen und ein riesiges Kruzifix in der Mitte.

Auf dem Bett links lag mein Koffer und einige Kleider, während auf dem Stuhl neben dem Bett rechts ein Mädchen saß, das das Buch „In den Händen Gottes“ las.

„ Hallo, ich bin Vera Campbell, deine neue Mitbewohnerin. Du musst Maria sein?“ versuchte ich, ein Gespräch zu beginnen.

Das Mädchen hob den Blick von dem Buch und nickte lächelnd.

Ihr Gesicht war rund und sommersprossig. Ihr hellbraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und ihre grünen Augen sahen freundlich aus.

Sie trug die Uniform, die ich auch bald tragen sollte: ein schlicht geschnittenes, blaues Kostüm, auf dessen Brusttasche das Abzeichen der Abtei gestickt war, und ein weißes Hemd.

Mein erster Gedanke war: Blau steht mir nicht, aber ich war zu müde, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen.

Ich öffnete langsam die Tasche. Sie enthielt nur das Nötigste, das ich hatte zusammenpacken können, bevor ich plötzlich verzweifelt fliehen musste.

Ganz oben auf den Kleiderstapel hatte ich auch ein Bild von mir und Tante Cecilia gelegt, auf dem wir uns vor dem Hoftor umarmten.

Das Bild trieb mir die Tränen in die Augen.

Wie sehr sie mir fehlte!

Ich wünschte, sie wäre hier bei mir!

Sicherlich hätte sie niemals erlaubt, dass jemand so mit mir sprechen würde, wie es die Mutter Oberin gerade getan hatte.

Ich stellte das Bild auf den Nachttisch. Ich wollte sie so nah wie möglich bei mir haben.

„ Entschuldige, aber das Foto solltest du besser in der Schublade des Nachttisches aufbewahren, sonst wird es morgen weggeworfen“, warnte mich Maria, als sie auf mich zukam.

„ Aber ich…“.

„ Ja, ich weiß, ich weiß. Das ist mir auch passiert... und am nächsten Morgen war das Bild meiner Großmutter weg. Hör auf mich“, ermutigte sie mich freundlich.

Mit einem traurigen Seufzer legte ich das Bild weg. Es war zu wertvoll, um von irgendjemanden in den Müll geworfen zu werden.

Ich räumte meine Kleider und persönlichen Sachen ein.

Ich war gerade dabei, den Koffer wegzuräumen, als ich merkte, dass etwas fehlte.

Der Schminkkasten!

„ Mein Lippenstift, meine Wimperntusche, mein Lidschatten... sie sind nicht mehr da!“, rief ich empört.

Ich sah Maria an.

Sie zuckte nur mit den Schultern und erklärte: „Weg! Wahrscheinlich haben die Nonnen deine Tasche kontrolliert, wie sie es bei den Neuen immer machen und das, was du hier nicht brauchst, haben sie weggenommen.“

Ich hätte schreien können! Nicht so sehr wegen der weggeworfenen Kosmetika, sondern weil ich es hasste, wenn Leute in meine privaten Angelegenheiten herumschnüffelten!

Nun, am Ende meiner Kräfte, zog ich mich vor Marias verlegenem Blick um, die sich wieder auf den Stuhl gesetzt und ihre Lektüre wiederaufgenommen hatte.

Und ich hatte Recht: Blau stand mir nicht besonders gut!

Ich schaute auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten bis zur Messe. Ich warf einen letzten Blick auf das Zimmer.

Die Wände waren grau und die Möbel aus dunklem Nussbaumholz.

Einfach deprimierend. Wie alles andere auch.

Ich warf den Koffer auf den Boden und lies mich auf das Bett fallen.

Ich wollte einfach nur vergessen. Ich schloss meine Augen.

Sofort sah ich das Bild zweier eisfarbener Augen in meinem Geist, die mich durchbohrten.

Ein Schauer lief mir über den Rücken.

Voller Angst sprang ich auf.

Schon wieder er! Es war die reinste Qual. Es war seine Schuld, dass ich hier war.

Ich war so erschöpft! Ich hätte so gerne die Stimme meiner Tante Cecilia vernommen, die mich beruhigte, wie sie es immer tat, wenn etwas schief ging.

Ich versuchte, an sie zu denken und mir ihr lächelndes Gesicht vor meine Augen zu rufen, aber ich konnte diese schrecklichen blauen Augen einfach nicht abschütteln.

Schließlich, ohne es zu merken, schlief ich ein.

Ich war erschöpft und unfähig, mir meine Zukunft vorzustellen.

Mein Leben war erst einen Monat zuvor in Stücke gegangen und nun wusste ich nicht mehr, wer ich war und wohin ich gehen sollte.

Alles hatte sich geändert.


Blutige Verlockung

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