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Zweites Kapitel, in dem ich mit den Sitten auf Moskaus Straßen heftiger aneinandergerate, als mir lieb ist

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Normalerweise kann ein in Bewegung befindliches Objekt A eine Strecke B in einem bestimmten Zeitintervall C zurücklegen. Zwischen achtzehn und zwanzig Uhr kann sich in Moskau dieses Intervall jedoch verzwei-, verdrei- und sogar verfünffachen, aufgrund einer in mathematischen Textaufgaben nicht anzutreffenden Variable namens »Stau«. Und da noch niemand die Subjektivität des Zeitempfindens abgeschafft hat und jede Minute im Stau mit ausgeschaltetem Motor zwei-, drei- oder fünfmal so lang dauert wie die Minute bei einer Tasse Kaffee, kommt für einen Teil der Moskauer die Zeit zwischen achtzehn und zwanzig Uhr vollkommen zum Stillstand, während sie sich für einen anderen Teil, den mit dem Kaffee und der sanften Hintergrundmusik, sogar beschleunigt bis zum Ohrensausen.

Die Universität, in der ich die Studierenden mit meinen Architekturvorlesungen quälte, hatte der Philanthrop (heute klingt dieses Wort hier fast so schräg wie »Entrepreneur« oder, sogar noch schräger, wie »Resident« oder »Ombudsmann«) George Soros in einer Zeit erbaut, da der Name Soros in Russland noch kein Schimpfwort war. Er hatte das vielgeschossige Gebäude mit Schwimmbecken und Bibliothek mitten auf den Nowy Arbat geklatscht.

Soros war überzeugt, der Grund dafür, dass »Demokratie« in Russland ein Schimpfwort ist, sei die mangelnde Bildung der Russen. Aus Unwissenheit hätten sie keinen Respekt vor den Werten, an die er glaubte, wenn er Hunderte von Millionen für Grundstück, Bau und Beamtenbestechung ausgab. Wenn man nur jedem Russen von Isaiah Berlin und Jürgen Habermas erzählte, würden sie schon aufhören zu saufen, sie würden sich vom Schlaf befrein, den Schein des wunderbaren Glücksterns schauen und in der Willkür Trümmer …, na ja, und so weiter.

Der Bau wurde hingestellt, Russland befreite sich nicht vom Schlaf. Mehrfach sollte die Uni geschlossen werden, sie wurde zwangsweise umbenannt, aber immer wieder lenkten sie unter dem Geheul der Botschafter ein, da sie verstanden, dass weder Berlin noch Habermas von Übel waren, eher trauerten sie um das Grundstück, auf dem man so schön einen Autosalon oder eine Spielhölle hätte hochziehen können. Die Eigentümer würden regelmäßig etwas springen lassen, und alles wäre in Butter. Stattdessen stand hier die »Moskauer Europa-Universität«, kurz MEU, die wir Entrepreneure westlichen humanistischen Denkens, Residenten halb legalen sozialen Wissens und Ombudsmänner der Kritischen Theorie und der Culture Studies unter uns nur MIAU nannten. Wäre die MIAU dichtgemacht und nach außerhalb der Ringautobahn verlegt worden, um Platz für im modernen Moskau zeitgemäßere Bauten zu schaffen, hätte mich das nur gefreut. Umso leichter hätte ich Raum und Zeit in Einklang bringen können auf dem Weg von meinem Arbeitsplatz zu unserer Küche im bläulichen Schein der Gastherme.

Aber gleich schläfere ich dich noch gänzlich ein mit meinen langweiligen Überlegungen, wichtig ist doch nur, dass ich an jenem Aprilabend in unserer Uni-Bar die Zeit zwischen achtzehn und zwanzig Uhr totschlug, damit nicht sie mich in meinem Auto erwischte, eingezwängt im Strom irgendwo bei der Auffahrt zum Prospekt Mira. Du warst als Japanerin in den Kurilen, deine Wiedergeburt als Tatarin konnte nicht mehr weit sein, wenn es nach dem Wiehern der Pferde und dem Hufgetrappel im Hintergrund ging, als wir telefonierten, um in den Hörer zu schnurren.

Die Zeit ist so ein mieses, sprunghaftes Vieh, dass man sie am besten mindestens zu zweit totschlägt, sonst schlägt sie einen raffinierten Haken, schlüpft aus deinem Blickfeld, und du lässt Kimme und Korn deines Blickes hilflos über die Wände gleiten, rührst mit dem Löffel das Sumpfgebiet aus kaffeegetränktem Zucker am Boden deiner Tasse durch und langweilst dich.

Ich lungerte mit Phäno-Andrjuscha, einem Husserl- und Merleau-Ponty-Spezialisten und entsprechend mit den Spitznamen »Monty«, »Andrjusserl« oder »das Phänomen« bedacht, an unserem Lieblingstischchen herum. Wir schnatterten wie zwei alte Segel im Gedankenwind. Dabei war von einem Gedankenwind nicht mal so viel zu spüren, wir schnatterten einfach, ohne Wind, wie zum Trocknen aufgehängte Wäsche.

Ich, gerupft von den Studierenden, er, zermürbt von der Übersetzung eines französischen Aufsatzes mit lauter Wörtern, für die es im Russischen keine begrifflichen Äquivalente gab, er musste sie alle erfinden und immer gleich erläutern. Darüber beklagte er sich nicht zum ersten Mal bei mir. Aber darum geht es ja gerade beim Schnattern, dass man sich wieder und wieder beklagen kann.

Andrej war mein bester Kumpel, und unsere Sitzungen in der Bar hatten für ihn manchmal etwas Tragisches, weil er sich bei jedem meiner Kaffees einen Whisky holte, aber ich habe dir ja viel von ihm erzählt, weißt du noch? Und weißt du noch, dass ich irgendwann plötzlich aufgehört habe, Andrjuscha in unseren Gesprächen zu erwähnen?

Die Bar, in der wir die verbleibende Zeit totzuschlagen versuchten, nannte sich Barthes. Das Barthes lag im obersten Stockwerk unserer MIAU, und die Bewohner der umliegenden Betonfelsen gönnten sich ab und zu ein Mittagessen im Kreise der tschilpenden Philosophen.

Beim Betreten der Bar durch den handtuchbreiten Alkoven vor den Aufzugtüren fand sich der nach dem Intellektuellen in sich forschende Besucher in einem großzügigen Raum mit etwa fünfzig Tischen wieder, dessen vollverglaste Stirnseite einen Ausblick auf die Hochhäuser am Arbat gewährte. Der Barmann, aus dem die harte Hand des Namefinders einen »Barthesmann« gemacht hatte, sah aus wie Einstein, dem die Flucht aus dem Reich nicht geglückt war. In einem ausführlichen Gespräch mit ihm über zweifelhafte Thesen in Lossews Interpretation der frühbyzantinischen Ästhetik hatte er sich einmal sorgsam des Slangs eines höheren Akademikers bedient. Wenn ich mit Andrjuscha noch eine halbe Stunde länger geblieben wäre, hätte ich den Barthesmann bitten müssen, ihm ein Taxi zu rufen, und er hätte mir hundertprozentig widersprochen. Andrjuscha steckte in weiser Voraussicht nie Taxigeld ein (er wollte sich auf dem Heimweg mit mir unterhalten).

Die gesamte Wand hinter der Bar zierte ein Porträt des großen B. höchstselbst, allerdings nicht desjenigen, den man in einem Hochschulcafé erwartet hätte, sondern eines von Bart Simpson, der auf der Tafel den immer gleichen Satz schrieb, in Spalten, vielfach wiederholt, wie jedes Mal im Vorspann der Simpsons: »Am Nullpunkt der Literatur … Am Nullpunkt der Literatur …«

Ich riss mich von diesem Bart los und sagte, manchmal sei es das Wichtigste, rechtzeitig aufzuhören, aber Andrjuscha wollte nicht, konnte nicht aufhören, er fing zum dritten Mal von seinen Vorbehalten gegenüber der Semiotik an (in einen Konflikt verwickeln, Versöhnung feiern und dann zur Festigung der emotionalen Bindung einen gemeinsamen Heimweg vorschlagen, alter Schluckspecht).

Er hoffte immer noch, mich an der Bar festhalten und sich in mein Auto einladen zu können, damit ich ihn nach Hause fuhr, wo er mich zum »Aquarium gucken« nötigen würde und, falls ich so töricht sein sollte, ihm keine Abfuhr zu erteilen, mich mit einem Segelflosser-Blick von Kopf bis Fuß messen und mir, unsystematisch mit seinen Flossen segelnd, vorschlagen würde, zu zweit abzustürzen, weil »das Sofa für dich ist ja da«.

Schon mehrfach war ich dieser Logik (sich besaufen, weil da ein Sofa ist, auf dem man den Rausch ausschlafen kann) phänomenologisch verkatert zum Opfer gefallen, aber dieser Aprilabend kam dann doch allzu klar daher. Wie der erste Regen seit einem Jahr auf verrunzelte, geschwärzte Schneewehen. Allzu verführerisch funkelten dort unten die Lichter der inzwischen weniger gewordenen Autos. Allzu verlockend leuchteten die Schaufenster der Nachtclubs – das Leben erschien, wie so häufig im beginnenden Frühjahr, viel attraktiver und geheimnisvoller, als es eigentlich war. Der Alkohol drohte alles einzuebnen und die denkbar banalsten Erklärungen für diese Geheimnisse zu liefern, sodass man sich der Geheimnisse selbst, vielmehr der Empfindung ihres Daseins im Leben, hinterher nur noch peinlich berührt erinnern könnte.

Ich klopfte Andrjuscha auf die Schulter und gab zum Abschied das Übliche über die Zeit von mir: »Jeder weiß, was das ist. Aber niemand kann es den anderen erklären.« Die alkoholzentrierte Conclusio aus Augustinus hörte ich mir nicht mehr bis zum Ende an, sondern beeilte mich, zum Aufzug zu kommen.

Es passierte, als ich unseren Rosenbaum aus der Tiefgarage fuhr, und jetzt muss ich den anderen erklären, was der »Rosenbaum« ist. Nach einem Jahr in Moskau ohne meinen schnittigen Mazda, den ich bei der überstürzten Abreise aus meiner Heimat nicht hatte mitnehmen können, hatte ich mir endlich wieder ein Auto zulegen wollen. Im vollen Bewusstsein, wie selbstmörderisch diese Idee unter Moskauer Bedingungen war.

In dieser Stadt gibt es drei Kategorien von Fahrzeugen:

Die WAZ-Fraktion, getunt, mit Schalldämpfer oder ohne (Sound identisch).

Dann die GAZellen, plattschnäuzige Monster, die eher an Weißwale erinnern als an springende, zierliche Gazellen. GAZellen reiten Viehzüchter, die hinterm Steuer leben, deshalb ist es trotz der schwachen Motoren und dem extremen Gewicht dieser menschenbepackten Blechbüchsen sinnlos, sich mit ihnen in Sachen Geschwindigkeit oder Dreistigkeit messen zu wollen. Sie werden dich sowieso bedrängen, überholen, abdrängen und dann auch noch beschimpfen.

Die dritte große Gruppe Moskauer Fahrzeuge bilden die ausländischen Fabrikate, kreditfinanziert und deshalb weniger aggressiv unterwegs. Die einzelnen Ordnungen (Nager, Paarhufer, Erectus) lassen sich in Unterklassen aufgliedern, es gibt Mutanten wie den Niva-Chevrolet, aber wer sich erstmals ans Steuer setzt, findet sich unweigerlich auf einer der Sprossen dieser Evolutionsleiter wieder. Mein Rang als Hochschullektor (ich war ja nicht mal Dozent, ungeachtet einer vor langer Zeit und in einem anderen Land erfolgreich verteidigten Doktorarbeit – wenigstens kein Fliesenleger!) berechtigte mich höchstens zu der Hoffnung, mich in die WAZiaten-Armee einzureihen. Blieb nur noch zu klären, welches der drei in den vergangenen zwanzig Jahren auf dem Markt befindlichen Modelle es sein sollte.

Als Mechaniker war ich nicht zu gebrauchen, also gab ich dem WAZ 2105 den Vorzug, den ein Datschenbesitzer aus dem Treppenaufgang nebenan fuhr. Ausschlaggebend für meine Entscheidung war, dass er sein Auto manchmal erfolgreich startete und zum Fahren brachte. Er wollte dafür so wenig haben, dass man sogar mit meinem Gehalt von dieser Art Erzeugnissen der Automobilindustrie gleich drei Exemplare zur Probe hätte kaufen können.

Die Begutachtung von Karosserie, Innenraum, Stutzen und Verbindungen unter der Kühlerhaube half mir nicht, die Frage zu klären, wann dieser WAZ zugelassen worden war. Rost war kaum zu finden, er konnte also aus dem Vorjahr stammen oder von Anfang der 1980er. Die Hauptsache aber war das vorsintflutliche Autoradio mit Kassettendeck.

Sobald man den Motor anließ, krächzte das Radio los, durch das weiße Rauschen drang eine kratzige Stimme: »polem, polem, polem, belym-belym polem dymmmm«, du klatschtest in die Hände und sagtest: »Ja, Wahnsinn! Das ist doch Rosenbaum!« Nachdem wir Alexander Rosenbaum dreimal beidseitig angehört hatten (Autoreverse funktionierte bei diesem Wunder sowjetischer Technik nicht), wollten wir den Chansonnier aus dem Kassettenfach befreien.

Aber Pustekuchen! Offenbar steckte Rosenbaum schon seit Jahrhunderten hier fest, so gründlich verklemmt, dass sich die Kassette nur noch herauszerren ließ, wenn man den Tonkopf gleich mit ruinierte. Weiterhin offenbarte sich, dass sich das Gerät mit Rosenbaum automatisch einschaltete, sobald man den Zündschlüssel umdrehte, dass es sich nicht mehr abschalten ließ, die Luft mit dieser Reibeisenstimme vermengte und nicht einmal leiser gestellt werden konnte – der Lautstärkeregler drehte durch. Vielleicht war auch gar keine Lautstärkeregelung vorgesehen, der Sowjetmensch hatte Musik so zu hören, wie es Partei und Institut für Fahrzeugbau festgelegt hatten.

Wir gaben uns natürlich nicht geschlagen. An einem schwülen Sommerabend, als wir Ruhe brauchten wie die Luft zum Atmen, zogst du eine Spange aus deinem Haar und versetztest dem rechten Lautsprecher einen schnellen Stich, in der Hoffnung, den rasselnden Opa ruhigzustellen. Aber der Sänger verstummte nicht. Sein Timbre wurde penetrant, unerträglich. Am Abend flog die rechte Achswelle raus. Und wir hatten gelernt, dass wir besser nicht versuchen sollten, die Seele des Wagens abzuwürgen.

Ich fuhr auf den Nowy Arbat, aus den Lautsprechern kam es wie Zugluft an den Füßen: »polem, polem, polem, belym-belym polem dymmmm, wolosss byl tscherneje smoli – stal sedymmmm«. Ich sang mit, weil ich guter Laune war und Rosenbaum nicht nervte, und der Rosenbaum hatte ordentlich Zug, die Gänge kamen beim Schalten auf Anhieb.

»Bei einem phänomenologischen Zugang zur Musik«, sagte ich mir heiter, »geht es wohl im Wesentlichen darum, dass gar nicht entscheidend ist, was da aus den Lautsprechern tönt. Wahre Musik kann sowieso nirgends entstehen. Sie ist eine Erfindung deines Bewusstseins, das Töne hört. In deinem Inneren entsteht aufgrund des Gehörten die Empfindung von Schönheit oder eben von Genervtheit. Deshalb kann der Weise, solange er will, mit derselben Kassette herumfahren und bei den längst auswendig gelernten Liedern bald glücklich sein, bald genervt.«

Bei diesem Gedanken bemerkte ich, dass sich ein winziger Jaguar Sport vor mich gesetzt hatte, Baujahr zwischen 1945 und 1970. Wie jeder teure Oldtimer sah er nach einer Perle aus dem Antiquitätenladen und nicht nach einer peinlichen Rostlaube vom Gebrauchtwagenhändler aus. Ich sehe seine Farbe noch vor mir, ein dunkles Kirschrot, sehe noch das Veloursverdeck, wie straff er nach den Ampeln beschleunigte. Ich wollte mich dahinterklemmen, aber der Rosenbaum packte es nicht, japste und griff sich an sein 1,2-Liter-Herz. Das Anhimmeln eines fremden Spielzeugs, dieses Raubtiers aus einer anderen Klasse, in die ich niemals aufsteigen würde, war keine grauen Rauchwolken aus einem zur Überdrehung genötigten Motor wert.

In diesem Augenblick, als ich die Verfolgung der kirschroten Schönheit, bei der noch die Bremsleuchten ihren eigenen, auf die Karosserie abgestimmten Ton hatten, gerade resigniert abbrechen wollte, tauchte hinter mir plötzlich ein überdimensionierter silberner Mitsubishi Pajero auf, mit Seilwinde, auf dem Dach eine Batterie Scheinwerfer. Als wäre er auf dem Sprung ins Walhall mit einem Zwischenstopp in deinen Kurilen, Olja. Der Jeep schubste mich an, fuhr so dicht auf, dass die Seilwinde die hintere Stoßstange meines kaum noch atmenden Rosenbaums touchierte. Ich drückte aufs Gas, wollte weg, hatte aber zu wenig Dampf. Der hinter mir ließ sein Fernlicht aufflammen: Bahn frei! In seiner Monstrosität ließ der japanische Transformer in mir nicht das Bedürfnis aufkommen, ihm durchs geöffnete Fenster den Mittelfinger meiner Linken zu zeigen (dabei hatten sie, wie ich jetzt weiß, genau darauf spekuliert).

Ich setzte den rechten Blinker und verzog mich auf die Außenbahn zu den Pflanzenfressern. Dort ging ich vom Gas, aber hinter mir strahlte es immer noch, als wäre der Rosenbaum ein Fußballstadion. Jetzt verstand ich nicht mehr so richtig, was da vor sich ging. Ich fuhr doch schon auf der »lahmen« rechten Spur, was denn noch? Der Jaguar war auch hier, er fuhr dasselbe Tempo wie der Pajero, sie gehörten zur selben Kolonne, und ich hatte mich wohl zwischen den Kaiser und die Samurai gedrängt, die folglich ihre Strahler leuchten ließen. Unverzüglich ordnete ich mich klaglos wieder auf der mittleren Spur ein.

Doch da schwenkten in einem synchronen Doppelmanöver auch Jaguar und Pajero auf die mittlere Spur um, einer vorn, einer hinten. Der Pajero beschleunigte wieder, drängelte mit seiner Seilwinde und schob mich förmlich vor sich her, dass auch ich Gas geben musste, und so schossen wir dahin: hinten der Jeep, vorne das Cabrio, dazwischen ich. Die anderen Spuren waren leer, wir waren ganz unter uns (was ging hier vor?).

Ich schwenkte wieder nach rechts, die beiden mir nach, wie die Ansaugerfische. Das Profil des Jaguarpiloten hatte etwas von einem Raubvogel. Offenbar hatte er sich nur deshalb kein Blaulicht aufs Dach gepappt, weil bei dem weichen Gewebe seines Cabrios unweigerlich die Schönheit des Wagens gelitten hätte.

Ich wedelte von Spur zu Spur, sie klebten weiterhin an mir, der Vordere hielt meine Geschwindigkeit, der Pajero schob, damit ich beschleunigte. Wir jagten den gesamten Nowy Arbat hinab, von der Moskwa bis zur Wosdwishenka, dort bog ich in eine Seitenstraße ab, in der Hoffnung, sie loszuwerden, aber sie kamen beide mit, zuerst nur der hinter mir, dann, nach einem Ritt über die Parallelstraße und einem Satz über die Gegenfahrbahn (was ging hier vor?), auch der Jaguar. Ich wollte unbedingt die Polizei rufen, aber dafür hätte ich anhalten müssen, schließlich flogen wir gerade mit neunzig Sachen über eine zweispurige, kurvenreiche, zugeparkte Straße. Ich versuchte zu bremsen, aber der hinter mir ließ seine Sirene aufheulen und stellte auf Dauerfernlicht. Von wegen anhalten, weiter geht’s!

Ich war wild entschlossen, rechts ranzufahren, sobald die Straße breiter würde, notfalls auch auf den Gehweg, und den Motor abzustellen, sollen sie doch zu zweit ihre Rennen fahren. Wir querten die Twerskaja, hier hätte ich einbiegen sollen, aber bei dem Tempo schaffte ich es einfach nicht, sondern hüpfte von einer Röhre in die nächste.

Ihr Genossen, die ihr die UdSSR lobpreist! Ihr mit eurer Verklärung von Pachmutowa-Melodien, Billigwurst, der Freiwilligen Gesellschaft zur Unterstützung von Armee, Luftstreitkräften und Flotte, von Stabilität und was ihr sonst noch so üblicherweise verklärt … Also, meine Lieben, ein Tipp: Versucht mal wieder, mit einem WAZ 2105 zu fahren! Steigt um von eurem SUV auf dieses Wunderkind der späten Sowjetunion und dreht eine Runde durch die Nachbarschaft. Versucht, den dritten Gang einzulegen. Versucht, auf über sechzig zu beschleunigen. Dann habt ihr ein für alle Mal diese UdSSR-Sache verstanden und empfunden. Dann kehrt ihr unverklärt ans Steuer eures SUV zurück.

Wieder diese Enge, das Entsetzen beim Blick auf den Tacho, Rosenbaum schwieg, nur das Klackern des kaputten Autoreverse, aber keine Zeit, den Knopf zu drücken.

Von hinten ein Leuchten wie bei einer Atombombenexplosion, sogar das Flutlicht hatte er zugeschaltet, der Nomade. Weiter vorn, noch vor dem Jaguar, weitete sich das Unterholz der Häuser zu einer rettenden Lichtung, dort war irgendein Platz, ich bereitete mein Manöver vor, aber da verschwand der Jaguar vor mir in einer Wolke aus Rauch und Tröpfchen (die Pfützen auf dem Asphalt); das kam daher, dass, wie ich fünf oder zehn Meter weiter erkennen sollte, ja, es kam daher, dass er hart auf die Bremse gestiegen war und die Fahrbahn blockierte, so hart, dass er sogar mit seinem sportlichen ABS und den Scheibenbremsen ins Schwimmen gekommen war. Den Jaguar hatte es leicht zur Seite gedreht, das Heck nach links, sodass er mir seine appetitliche Beifahrerseite zuwandte.

In diese Seite nun (fast ungebremst, da ich erst im letzten Moment aufs Pedal latschte, es bis zum Anschlag durchtrat, sodass ich spüren konnte, wie es sich in die Gummimatte presste, sie zusammenstauchte), in dieses lackierte Museumsmetall von dunklem Kirschrot – Metall aus einem Jahr, in dem ich, möglicherweise, noch gar nicht auf der Welt war … Alles in meinem Rosenbaum bremste, um den letalen Zusammenprall abzuwenden. Greisenhaft krallte er sich mit dem kahlen Gummi in den Asphalt, ächzte, brach sich die Nägel ab, ich glaubte, längst den Boden durchgetreten zu haben, nun mit dem Fuß zu bremsen und mir die Schuhsohle abzuschleifen … Komischerweise kam der Rosenbaum überhaupt nicht ins Schleudern. Er schleuderte nicht, weil er auch nicht ordentlich bremste – mit blockierten Rädern rutschte er wie auf Kufen geradewegs auf die kirschrote Vintage-Schönheit zu und semmelte mit Karacho mitten hinein. Ich nahm noch so einiges wahr, bevor der Sicherheitsgurt anzog und es mich dermaßen zurückriss, dass in meinem Hals etwas knackte (tot oder querschnittsgelähmt, dachte ich. Aber im nächsten Augenblick stieß ich mit den Ellbogen gegen das Armaturenbrett und wurde von einem stechenden Schmerz durchzuckt, der nur bedeuten konnte, die Halswirbel waren noch ganz, was mich freute). Folgendes hatte ich wahrgenommen: die zu Berge stehende Kühlerhaube, die, aufgeworfen, gegen die Windschutzscheibe schlug, zurückfederte und wieder runterrauschte, um zuzuklappen. Nur leider war da, wo sich vor Sekundenbruchteilen noch mein Motorraum befunden hatte, nun ein fremder Jaguar, und meine Kühlerhaube hieb gierig ins Veloursverdeck. Vor allem aber setzte der Stoß den Kassettenrekorder wieder in Gang, und es tönte: »Kak tschasto wishu ja son, moi udiwitelny son, w kotorom ossen mne tanzujet wals-boston«.

In der nächsten Sekunde bemerkte ich, dass von dem Zusammenprall die Fahrertür des Jaguars aufgesprungen war, der Airbag (offenbar nachträglich eingebaut, beim Tuning) sich aufgeblasen hatte und der Fahrer, der darauf lag, sich noch rührte – er war okay, lebte noch, Gott sei Dank.

Als ich gerade erleichtert durchatmen wollte, da ich glaubte, nun sei es vorbei (das alles hatte kaum anderthalb/zwei Sekunden gedauert), wuchs sich das Atombombengleißen hinter mir zur Druckwelle aus – der Pajero hatte mich erwischt. Der Stoß war heftiger als der Zusammenprall mit dem Jaguar – hatte es mich da nur nach vorn geworfen, hob es jetzt den ganzen Rosenbaum aus und bog ihn auseinander. Sein Boden hob sich und stand schief in der Luft, mein Gleichgewichtssinn drehte durch, als wäre ich zu lange Karussell gefahren. Wo der Asphalt gewesen war, stand jetzt eine Hauswand, wo die Hauswand gestanden hatte, waren Nachthimmel und Straßenlaterne. Der Gurt straffte sich und hielt mich, ich schwebte nämlich über dem Lenkrad. Der Mitsubishi hatte noch bremsen können und dabei ordentlich Tempo gelassen, das half aber nichts. Mit der ins Heck gegrabenen Seilwinde hob er den Rosenbaum hoch, um ihn anschließend plattzumachen und ihn noch weiter in den lädierten Jaguar hineinzudrücken. Meine zerknitterte Kühlerhaube hing jetzt auf dessen Fahrerseite, der Fahrer selbst hing im Gurt.

Von meiner Stirn troff heißer Schweiß, tiefrot gefärbt. Der in diesem verzerrten Raum diensteifrig unter mein Gesicht getauchte gesprungene Rückspiegel zeigte mir, dass ich ein Auge verloren hatte. In der schwarzen Höhle steckte eine Glasscherbe, ach nein, das war nur das Lid, das geschlossene Lid, und auf ihm, kaum einen Kratzer hinterlassend, tatsächlich eine Scherbe, aber nicht Glas, sondern Spiegel. Ich pflückte sie ab, stellte fest, dass alles heil war, Auge und Lid, und die Beine bewegten sich, und die Arme schmerzten, und Rosenbaum sang.

Der Fahrer des Jaguars klickte seinen Gurt auf, kroch aus den Trümmern, richtete sich schwankend auf und schüttelte den Kopf. Ich bedachte ihn mit einem warmen Blick – nach allem, was wir soeben durchgemacht hatten, kam es mir vor, als kennte ich ihn schon mein Leben lang.

Ich langte nach dem Türgriff, und der komplette Mechanismus, das Schloss, die ganze Verriegelung, fiel einfach heraus wie die Zahnprothese aus einem Totenschädel. Die Tür hatte es dermaßen verzogen, dass unten ein zentimeterbreiter Spalt klaffte und die Angeln nur noch ein Klumpen gestauchten Metalls waren – die bekam man jetzt höchstens noch mit dem Schneidbrenner auf. Die Frontscheibe war weg, aber das Seitenfenster noch da, und eben dort wollte ich hinaus, weil es über den Motorraum direkt in den üppig mit meinem Glas bestreuten und mit einer Mischung von Säure aus der zerquetschten Batterie, siedend heißem Öl und weiß der Teufel was benetzten Jaguar ging.

Ich griff nach der Fensterkurbel und machte ein paar Umdrehungen, die Scheibe senkte sich knirschend in die platt gedrückte Tür und blieb nach zwei Dritteln stecken. Ich kroch durch die Lücke und lernte dabei, dass ein von Blut und Schweiß überströmter Körper viel besser durch enge Spalten rutscht als ein trockener. Kopf, Schultern und die obere Hälfte meines Rumpfes hatte ich schon befreit, nur der Fuß klemmte immer noch irgendwo, wollte einfach nicht aus den Pedalen heraus, und so hing ich strampelnd fest. Der Fahrer des Jaguars umrundete, nachdem er sein Jackett ausgeklopft und glatt gestrichen hatte, rasch sein zusammengestauchtes Vintage-Raubtier, kam auf mich zu – ich legte den Kopf in den Nacken und schaffte es wohl auch noch zu sagen: »Hab’s überlebt.«

Statt der erwartbaren Frage, ob bei mir noch alles ganz sei, holte der kurz gewachsene Mann im dunklen Jackett mit weißem Hemd und schwarzen, gelockten Haaren über der hohen Stirn aus und knallte mir einfach so, mit Schwung, seine Faust gegen den Kiefer. Kein harter Schlag, aber sein Ring zerkratzte mir die Wange. Und sogleich sah ich das sonderbare Rennen in allen Einzelheiten wieder vor mir. Ich wollte schreien: »Was war denn das für eine Scheiße?« Aber halb aus dem Seitenfenster eines WAZ 2105 hängend Hühnchen rupfen zu wollen, ist so ziemlich das Dümmste, was einem einfallen kann.

Unterdessen war aus dem Pajero hinter mir ein bulliger Typ in Anzug und dunklem Hemd ausgestiegen, eine Art Sumoringer, der sich nach zehn Jahren in Russland assimiliert hatte. Geschäftstüchtig kam er auf mich zu und stellte mir mit einem kurzen Nicken den Schläger vor: »Pjotr Wikentjewitsch.«

Der Sumotori nahm vor ihm Haltung an.

Offenbar wurde von mir erwartet, dass ich, aus dem Fenster hängend wie Pu der Bär aus dem Kaninchenbau, mich nun meinerseits mit Pjotr Wikentjewitsch bekannt machte und ein gepflegtes Gespräch über die Vorzüge moderner japanischer und britischer Fahrzeuge gegenüber den moralisch veralteten Hervorbringungen der vaterländischen Automobilindustrie anknüpfte. Stattdessen fuhrwerkte ich weiter strampelnd im Fahrgastraum herum, um mich aus dem vernichtend geschlagenen Greis zu befreien. Nicht zu vergessen über dieser wortlosen Szene das lyrische »Kak tschasto wishu ja son, moi udiwitelny son, w kotorom ossen mne tanzujet wals-boston.«

Mir schweigend den Rücken zugewandt, schaute Pjotr Wikentjewitsch zu dem Sumotori auf und sagte knapp: »Fünfzigtausend.«

»Sind Sie sicher?«, fragte der ironisch zurück. »Günstiger geht’s wohl nicht?«

»Fünfzigtausend«, wiederholte er und ging, ohne sich noch einmal nach mir umzuwenden, mit schnellen Schritten zur nächsten Gasse, bog darin ein, verschwand aus meinem Gesichtsfeld und ließ nur Vor- und Vatersnamen zurück, die sich mir bis an mein Lebensende einprägen sollten.

Kaum hatte sich der Fahrer entfernt, war auch das Ironische aus den Zügen des Sumotori verschwunden. Er kam mit einem eher erschöpften Ausdruck auf mich zu. Wieder rechnete ich mit der Frage, ob ich mir nichts gebrochen hätte, aber stattdessen packte er mich am Kragen. Nicht wie eine Katzenmutter ihr Junges, sondern wie ein Löwe das Lamm, das er schon gerissen hat und jetzt zum Fressplatz schleppt, an Nacken, Jackett und Hemd zugleich. Er packte mich, als hätte ich unter meiner Kleidung einen Tragegriff, riss mich mit einem kräftigen Ruck aus dem Autofenster und trug mich, ohne auch nur daran zu denken, mich loszulassen, einfach so zu seinem Jeep. Das Blut schoss mir in den Kopf, ich brüllte, wollte mich empören, streckte Arme und Beine von mir, um mich loszureißen oder wenigstens abzufangen, sollte er mich einfach auf den Asphalt stürzen lassen. Aber der Sumotori hatte einen festen Griff, er hatte nicht vor, mich freizugeben oder fallen zu lassen. Er öffnete die Tür, warf mich auf die Rückbank, und ich flog tatsächlich im Bogen durch die Luft, flog wie ein Hündchen, halb erstickend an meiner Erregung, das Wort »Miliz« rufend, als könnte die Miliz in dieser Stadt in solchen Situationen auch nur irgendetwas ausrichten. Er umrundete den Jeep, der meinen Rosenbaum zusammengefaltet hatte, ohne selbst Schaden genommen zu haben, von etwaigen Kratzern an der Seilwinde einmal abgesehen, startete und drehte die Musik lauter, in der ich einen mir bekannten Elektroniksound erkannte (Prodigy?). Dann setzte er scharf zurück, dass das angehobene Hinterteil meines Rosenbaums scheppernd auf die Erde schlug. Ich fürchtete schon, er würde beim Aufprall einfach auseinanderfallen. Ist er vielleicht auch.

Ich rief, das wäre quasi eine Entführung. Dass wir den Unfallort nicht verlassen dürften. Ich fing wieder von der Miliz an. Ich packte ihn sogar an der Schulter, wollte ihn am Fahren hindern. Aber er griff seinerseits, ohne sich umzusehen, meine Finger und bog sie einfach nach hinten, dass ich von einer kochenden Schmerzwelle überrollt wurde, vom Sitz auf die Knie rutschte und, als er wieder losließ, zurückkroch, die Beine unterschlug, sie mit den Armen umfasste, die Hose blutbefleckt, und verstummte, nicht mehr schrie, es half ja nichts, hier nicht, niemand konnte es hören, nur der Sado-Sumotori würde wieder böse.

Wir rasten durch Moskau, verstießen gegen alle möglichen Geschwindigkeitsbegrenzungen, bogen in Prospekte ein, überquerten Brücken, passierten lange Garagenreihen, fuhren an Betonwänden voller Graffiti entlang, die eher Aggressivität als Ästhetik verrieten. Ich hatte Schwierigkeiten zu folgen, mein Kopf war so schwer, als wären unter den Brauen dunkle Gewitterwolken aufgezogen, irgendwo im Hinterkopf grummelte es auch schon, und ich war kurz davor, mich hier mitten in den Innenraum zu übergeben (nicht auszudenken, was der Bulle dann mit mir anstellen würde).

Der Jeep bremste langsam ab, während er an einem stacheldrahtbewehrten Dreimeterzaun entlangfuhr. Es sah ganz danach aus, als würde ich direkt ins Untersuchungsgefängnis gesteckt, wo ich wegen Verschandelung des Jaguars einer wichtigen Persönlichkeit mit Blaulicht über beiden Ohren für vierzehn Tage in einer Zelle verschwinden sollte. Aber von wegen – das Tor, an dem wir hielten, sah eher wie die Zufahrt zum Lager eines Handelskonzerns aus, ja selbst das orangefarbene Blinklicht, das die bevorstehende Öffnung des Tores anzuzeigen hat, war da, es blinkte, und das Tor öffnete sich. Hinter dem Tor tauchten mehrere unbeleuchtete Plattenbauten auf, deren triste Anmutung keinen Zweifel daran ließ, dass sie mitten in den besonders stahlbetonhaltigen Jahren der sowjetischen Architekturgeschichte errichtet (oder bei diesem Gebäudetypus eher »hingestellt«) worden waren, in den 1970ern. Hier, vor einem eingeschossigen Flachbau bei der Einfahrt, gleich hinter dem Tor, würgte der Sumotori den Motor ab. Ich suchte mit den Augen irgendein Täfelchen über der Tür mit Adresse oder Name des Betriebs, befingerte mein Telefon, das schon den Miliz-Notruf wählte – ich hoffte immer noch auf Schutz. Und aus dem Hörer antwortete es mir schon streng und ernsthaft, ich wäre an der richtigen Stelle gelandet, warten Sie auf die Antwort des diensthabenden Beamten, als der Fahrer die Tür zuschlug, um den Wagen herumging und meine Tür öffnete. Ich streckte, in den Sitz gekrallt, die Beine vor, bereit zuzutreten, ihn wegzutreten, wenn er mir zu nahe kommen sollte.

Aber er sagte ungerührt und eine Spur verächtlich: »Jetzt kriech schon raus, dir tut keiner was. Und leg auf, dass du nachher nicht den Fehlalarm zahlen musst.«

Und er sagte das irgendwie so, dass ich auf »Abbrechen« drückte, da ich meinte, diese kurze Nummer könnte ich jederzeit wieder wählen, sogar mit dem Telefon in der Tasche, einfach wählen, damit sie dort, am anderen Ende der Leitung hörten, was hier vor sich ging.

Und ich wagte mich ein Stückchen vor, als ich rief: »Was geht hier eigentlich vor? Spinnt ihr, oder was?«

Aber ich stieg schon aus, leistete schon Gehorsam. Kaum war ich draußen, schon drehte er mir mit einer geübten Bewegung das Telefon aus der Hand, um mich anschließend so zügig und professionell, dass mir das Aufmucken sofort verging, von Fuß (erst rechts, dann links) bis Kopf abzutasten, als suche er nach Waffen, doch das, was er tatsächlich suchte, befand sich in meiner rechten Hemdtasche – ein Lederetui mit meinen Papieren: Fahrzeugbrief, Führerschein, Versicherung, Prüfbericht der Technikinspektion. Er angelte alles aus dem Hemd, schlug sogleich das Heftchen auf, hielt es unter die Taschenlampe und studierte es mit dem Ausdruck eines Beamten der Verkehrsmiliz.

Nachdem er sich durchgeblättert und alles gelesen hatte (die Lippen bewegten sich mit und offenbarten den Wenigleser, der so selten las, dass seine Lesefertigkeit nicht über das kindliche Mitbuchstabierenmüssen hinausging), meinte er nickend: »Alles da. Immer mir nach.«

Er schloss die Tür auf, und wir standen in einem hell erleuchteten Kasten mit mehreren Reihen ausgeschalteter Monitore – offenbar war hier die Stube des Wachmanns. Er schob mich in den Nachbarraum, nachdem er am Schlüsselbund endlich den passenden Schlüssel für die Stahltür ausfindig gemacht hatte. Kaum war ich über die Schwelle getreten, hinein ins Dunkel (das Licht war noch aus), schlug er resolut und professionell wie ein Knastschließer die Tür hinter mir zu und nahm mir damit die einzige Lichtquelle. In der totalen Finsternis war ich so perplex, dass ich nicht sofort gegen die Tür hämmerte, meine unverzügliche Freilassung forderte, den FSB anzurufen drohte, das Amt für Terrorismusbekämpfung, meinen Freund Alik, der allen Entführern die Köpfe abreißt (das alles war natürlich, wie du weißt, Olja, völliger Schwachsinn, ich hatte keine Alik-Freunde, aber dort, in diesem muffigen Zimmerchen, in totaler Finsternis, hinter der Stahltür, hatte ich die blanke Kindergartenangst). Ich tastete die Wand entlang, fürchtete schon, mit der Hand in den aufgerissenen Mund eines weiteren Opfers zu geraten, das hier vor ein paar Tagen ums Leben gekommen war, ertastete natürlich auf Augenhöhe einen Schalter, knipste ihn an und musste angesichts der neuerlichen Atomexplosion die Augen zusammenkneifen, so grell, so unerträglich grell knallten die Leuchtstofflampen von oben.

Als die Augen aufhörten, dem Gehirn das Weiß eines belichteten Films zu melden, und sich hinter dem unerträglichen Schleier Tisch, Schrank, Safe und Gitterfenster abzeichneten, erkannte ich, dass ich mich in einem winzigen Zimmerchen befand, zwei mal drei Meter, in dem dennoch irgendwie Tisch, Schrank, Safe und sogar ein breites Fensterbrett unter dem Gitterfenster (Zeichnung »Sonnenaufgang über dem Gefängnis«) Platz fanden. Als Semiotiker ging ich natürlich zuerst zum Schrank, einem Bücherschrank, in dem Bücher standen. Ich wollte wissen, was das für Bücher waren, ich spürte, dass ich verstehen könnte, an was für einem Ort ich hier war, nur anhand der Buchrücken, der Titel (dabei wäre die einzig richtige Entscheidung gewesen, sich den Tisch genauer anzusehen – in der Schublade hätten irgendwelche Papiere sein können, aber ich hatte anders entschieden). Also, in diesem Schrank, einem tschechoslowakischen Schrank aus goldfarbenen Spanplatten, standen weiße Taschenbücher in Reih und Glied, ohne Titel auf dem Rücken, eigentlich überhaupt ohne Rücken. Es waren eher Broschüren, hemdsärmelig geheftet, mit Klammern oder Kunststoffspiralen. Die Bücher waren unterschiedlich dick und machten einen ziemlich mitgenommenen Eindruck. Ich drückte gegen die Glasscheibe, schob die eine Hälfte beiseite, griff mir willkürlich ein Buch heraus, und ich fand einen Titel, nach dem ich mich sofort setzen musste, auf den Tisch, die Kante, da stand nämlich: Die Makarow PM im Gefechtseinsatz. Aber das allein war es noch nicht einmal, was bringen findige Verleger zur Befriedigung der von einer krankhaften Leidenschaft für Mordwaffen befallenen Psychopathen nicht alles heraus? Ein Stückchen oberhalb, in der Kopfzeile stand: »Ministerium des Inneren der Russischen Föderation«. Und das ganze Layout war dermaßen holprig, und dann die dämlichen Illustrationen, wie gewollt und nicht gekonnt, Konturzeichnungen, in denen Milizionäre mit aufmerksamen Gesichtern, ein Auge zugekniffen, Verbrecher umnieteten, die vor ihnen Reißaus nahmen, gebückt nach Räuberart (wieso lehrte dieses Lehrwerk eigentlich, auf Unbewaffnete zu feuern? Hätte man den Bösewichtern nicht wenigstens eine abgesägte Schrotflinte in die Hand drücken können? Oder ein Stück Heizungsrohr? Aber das hier war alles dermaßen »für den Dienstgebrauch«, dermaßen hausintern, dass diese Fragen unweigerlich ins Leere laufen mussten).

Ich schob die Broschüre schnell wieder zwischen ihresgleichen und wurde dabei auf eine weitere gleich daneben aufmerksam, etwas über die psychologische Grundierung von Ermittlungsmaßnahmen, wiederum mit MdI-Signet, und ich schloss, sicher ist sicher, die Glasfront und sah ein, dass es tatsächlich denkbar unsinnig gewesen war, die Polizei anrufen zu wollen, und ich schaute in das Spiegelbild mit meiner erschrockenen Visage und der gespaltenen Stirn und versuchte, mich mit einem Lächeln aufzumuntern.

Aber ich wollte dann doch noch wissen, was im Safe war. Er wäre natürlich zu. Bei einem Zahlenschloss könnte ich die ganze Nacht hindurch nach dem sechsstelligen Code suchen, bis sie mich dann am Morgen holten, sich entschuldigten und mir erklärten, ihr Untergebener hätte es übertrieben und überzogen. Aber das Schloss war ganz simpel, ein schamhaft verdeckter Schnapper, überstrichen in der Farbe des Safes (der in der Farbe der Wände gestrichen war), ein Schlüsselloch. Und ich streckte die Hand nach dem Griff, mir freilich keinerlei Hoffnung machend, der Safe könnte nicht verschlossen sein, lag doch in den Geschichten mit einem hinter vergitterten Fenstern eingesperrten Helden der Schlüssel zur Flucht immer im Safe, nur krieg den mal auf! Die Nuss wird immer geknackt, der Safe springt auf, darin liegt der Türschlüssel oder die Feile für das Gitter vor dem Fenster, Happy End eben!

Aber der Griff gab nach, der Schnapper klackte, die zentimeterdicke Stahltür schwang auf, und drinnen, im Safe, lag nur ein Revolver, mit einem »Iss mich, Alice«-Aufkleber auf dem Griff. Nein, das mit dem Aufkleber war natürlich nur ein Witz. Da war kein Aufkleber auf dem Griff, aber der Revolver war da. Wahrhaftig, schwer und kalt wie ein Fossil aus dem Paläozoikum. Und ich ergriff ihn sogleich, griff nicht nach ihm, sondern ergriff ihn tatsächlich, wie einen Rettungsring, der mich natürlich retten würde.

Und ich fand die Sicherung unter meinem linken Daumen, ganz primitiv, zur Arretierung der Trommel, ich spannte den Hahn vor, jetzt konnte ich mich locker erschießen, ha ha. Mich überkam ein leichtes Zittern. Mir war klar, dass sie in einem Raum, der mit MdI-Broschüren zum Waffengebrauch vollgestellt war, kaum eine Schreckschusspistole oder Gummigeschosse aufbewahren würden, außerdem ließ der Umstand, dass jemand vergessen hatte, den Waffenschrank abzuschließen, auf einen äußerst sorglosen Umgang der Hausherren mit diesen tödlichen Spielzeugen schließen. Ich hielt die Mündung nach oben und schaute in den Lauf – da war keine Laufsperre drin, blieb nur noch zu klären, ob das Ding geladen war. Bei eingelegter Sicherung betätigte ich sämtliche Hebel, dass es ein paarmal klickte, ein bisschen wie Russisch Roulette, wobei der Gewinn am Ende unklar blieb – ich würde ja nicht auf den Mann schießen, der mit all meinen Papieren irgendwohin verschwunden war. Des rätselhaften Trommelzugangs Lösung lag in dem Stift unterm Griff, den ich zunächst für einen Putzstock gehalten hatte. Als ich daran zog, klappte die Pistole klirrend auseinander wie ein Jagdgewehr. Die Trommel war leer: nichts. Natürlich gab es noch die vage Möglichkeit, dass derjenige, der mich hier wieder einsammeln würde, das nicht wusste, doch das Knirschen des Schlüssels im Schloss hinderte mich daran, handfeste Pläne rund um die Pistole zu schmieden, und schon schwang die Stahltür weit auf. Dahinter stand der nämliche Sumotori, der umstandslos hereinkam (sofort wurde die Luft dünner), den Revolver in meiner Hand registrierte, ignorierte und Platz nahm.

Moment mal. Ich wedelte mit dem Lauf, um deutlich zu machen, dass ich gewissermaßen bewaffnet war, wedelte allerdings, ohne recht an meine eigene Stärke, meine Bewaffnung zu glauben, und er brummte: »Pack das Spielzeug zurück in den Safe!«

Das Ganze mit einer Beiläufigkeit, die mir verdeutlichte, dass ich selbst mit Panzerpatronen in der Trommel keine Bedrohung für ihn darstellen könnte. Und sollte ich es dennoch versuchen, bekäme er keinen Schreck, sondern bestenfalls einen Lachanfall. Also schob ich die Pistole schnellstens wieder in den Safe und machte mich mit dem Ausdruck eines braven Bürgers, den die Drogenaufsicht zu Hause beim Abpacken von hundert Gramm Marihuana erwischt hat, daran, ihm zuzuhören.

»In den finsteren Neunzigern«, fing er an und verlieh seinem runden Gesicht mit den schmalen Augenschlitzen einen Anschein von Weisheit, »hätten wir dich für so eine Nummer achtkantig aus der Wohnung gekickt, du Pisser. Hast du gesehen, was du aus Pjotr Wikentjewitschs Sammlerstück gemacht hast?«

»Was ich gemacht habe?«, blaffte ich zurück. Ich versuchte, mich zu ereifern. »Was habt ihr denn selber gemacht? Sie sind mir doch hinten drauf, was sollte denn der Scheiß? Und der … Selber schuld, wenn er so scharf bremst!«

Er hörte mich an, als wäre er der Arzt in einer psychiatrischen Klinik und ich der frisch eingelieferte große Lyriker Iwan Besdomny.

»Sicherheitsabstand einhalten, Genosse Fahrer. Hast du die Plakate nicht ordentlich gelesen, du Flachpfeife?«, fragte er gutmütig.

Ich verschluckte mich an meinen Gegenargumenten, während er stur seine Linie weiterfuhr.

»Also. Zwei Probleme: Erstens hast du keine Wohnung. Zweitens haben wir nicht mehr die finsteren Neunziger.«

Meine Gesäßmuskulatur entspannte sich leicht. Anscheinend sah alles doch nicht ganz so düster aus, wie ich gedacht hatte.

»Heute werden die Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft und …« Er hatte Mühe, das Format unserer Beziehung in Worte zu fassen, seinen Status und meinen, und brachte den Gedanken nach einer kurzen Pause folgendermaßen zu Ende: »… und zwischen der Wirtschaft und dem Rest der Welt ausschließlich auf der Grundlage von Recht und Gesetz geklärt.«

Bei seiner Formulierung »Recht und Gesetz« kam mir sofort meine Haftpflicht in den Sinn, und ich beruhigte mich vollends. Aber er meinte etwas anderes.

»Dir ist schon klar, dass keine Police den Schaden abdecken kann, den du Vollpenner angerichtet hast. Da ist bei hunderttausend Riesen Schicht im Schacht, und du hast hier locker für zweihundertfünfzig abgeliefert. Oder noch mehr, weiß gar nicht genau, was die Karre grad kostet. Und was man beim Flohmarkt noch für die zwei Räder kriegt, die du übrig gelassen hast. Aber die Leute haben entschieden, mit dir, Ficker, menschlich umzugehen. Keine Ahnung, wieso, ist nicht mein Bier. Du hast es gehört: Du schuldest uns nur fünfzigtausend. Ganz ehrlich, ich hätte bei dir dreimal so viel rausgeholt. Und wär immer noch für mich im Recht. Aber wenn es fünfzig heißt, dann eben fünfzig. Und wenn du Pfeife das Geld nicht in drei, ach egal, in fünf … ja, normal gibt es fünf … Also, wenn du uns diese fünfzigtausend in fünf Tagen nicht abgeliefert hast, weißt du, was wir dann mit dir machen?«

Da orgelte sein Telefon eine ausgesprochene Schmachtmelodie, und eine klebrige Frauenstimme sang »A tyyyyyy …«, aber schon hatte sie der Sumotori wieder abgewürgt, kurz und knapp wie ein Ringrichter beim Boxkampf.

»Ah, der Genosse Oberst!« Diese Begrüßung klang bei ihm nicht kriecherisch, eher kumpelhaft, es war zu spüren, dass er mit dem »Genossen Oberst« schon seit Jahrzehnten per Du war. »Wir wollen grade drüber sprechen. Ich stell mal auf laut, kann er mithören.«

Und er drückte auf den Freisprechknopf und gleichzeitig noch auf drei unwillig maunzende Knöpfe, bei seinen Pranken hätte er Tasten von einem halben Meter gebraucht.

Aus seinem Telefon war unter leichtem Störgeblubber zu hören: »Welche Personendaten denn noch? Meldeadresse weißt du schon. Liiert mit einer Kellnerin. Arbeitet richtig in der Universität. Nach seinem Sozio- und Psychogramm, bei seinem Einkommen, passt am besten Entwendung von Kommunikationsmitteln. Und laufende Verfahren haben wir wahrscheinlich auch. Da hängt noch eine Anzeige der Bürgerin M. S. Wolobujewa, gemeldet in Sokolniki, komplett durch und bearbeitet. Zeugenaussagen sind da, nur der Tatverdächtige muss noch eingetragen werden, der passt doch genau. Entwendung eines Mobiltelefons mit einem Schätzwert von siebenhundert Tacken, setzen wir im Gutachten noch hoch, dass ihr zufrieden seid, also, ohne strafverschärfende Umstände läuft das auf fünfe im allgemeinen Vollzug raus. Passt das?«

»Ist doch pillepalle fürs Erste. Wenn er dann rauskommt, geben wir ihm noch mal fünf Tage zum Geldeintreiben. Danach drücken wir ihm sieben rein, wenn er’s wieder nicht packt«, antwortete der Sumotori gut gelaunt.

»Am Eingang kommt er gleich ins Auto, das regeln wir«, erklärte sein Gesprächspartner.

»Verstanden, Genosse Oberst! Danke für die Hilfe! Dann geben wir ihm fünf Tage, und ihr macht schon mal die Zelle klar.«

Das Mondgesicht unterbrach die Verbindung und grinste mich hämisch an. »So, du hast alles gehört, Professor. Da bei euch in den Universitäten haben sie dir wohl beigebracht, was fünf Tage sind. Du kannst natürlich versuchen, aus Moskau abzuhauen, aber wir finden dich sowieso, und dann reden wir nicht mehr nach Recht und Gesetz, bestimmt nicht. Fünfzigtausend in fünf Tagen, ganz simpel. Heute ist Dienstagabend. Sonntag Punkt achtzehn Uhr hast du die Kohle. Also ich. Klar?«

Die ganze Zeit, seit diese Zahl gefallen war, saß ich völlig perplex da, unfähig, auf ihr Hin und Her zu reagieren. Die Summe war jenseits von Gut und Böse, selbst ein Zehntel davon wäre das noch gewesen. Ich hatte keine fünfzig- und auch keine fünftausend, auch dreitausend hätte ich erst in einem halben Jahr zusammengekratzt. Und ich überlegte, ob ich nicht gleich sagen sollte, es gibt kein Geld und wird auch keins geben, ich bekomme das nicht zusammen, ob ich nicht gleich in die Zelle gehen sollte. Aber dann musste ich an dich denken, Olja, ganz fest. Ich musste daran denken, dass fünf gemeinsame Tage … dass das sehr viel ist, weißt du?

Das Mondgesicht schubste mich schon aus dem Gebäude, schob mich schon zum Tor.

»Dann mal los, geh Flaschen sammeln, oder wie ihr Professoren euch sonst eure Brötchen verdient. Wir haben dich im Blick. Wenn du das Geld früher zusammenhast, kriegen wir das mit und gehen aktiv an dich ran. Du siehst schon, wir haben dich schön in der Hand. Aber mach hin, klar? Sonst packst du’s nicht bis Sonntag! Die Kolonie ist für die einen trautes Heim, Glück allein, den anderen, Typen wie dir, bricht sie gern mal das Genick. Weißt schon, was sie da mit solchen Gerippen … Also los, auf geht’s!«

Das Tor schwang auf, direkt davor wartete ein Taxi auf mich, in das ich mich setzte, ohne zu wissen, wo ich es hinschicken sollte, also bat ich es in die Kopjowski-Gasse, ich musste schließlich einsammeln, was vom Rosenbaum noch übrig war. Dort angekommen sah ich, dass der von Glassplittern umgebene leckende Metallhaufen nicht mehr da war, nur noch eine Ölpfütze und ein paar Splitter, die hier, mitten im Zentrum von Moskau, noch eine Woche, einen Monat liegen konnten, bis sie der Regen mitnahm. Die Straßenwacht hatte die beiden kalten Leichen entfernt und dabei sicher anständig gefeixt: dass ein Exemplar der niedrigsten Kategorie die Krone der Evolution aus der höchsten dermaßen zugerichtet hatte, zu komisch! Ich trauerte meinem Rosenbaum nach, trauerte aufrichtig im Andenken an den kunstledernen Innenraum mit seinem aus den Nähten platzenden Fahrersitz, dem einem Kinderbaukasten entsprungenen Spielzeuggetriebe.

Ein Anruf bei der Verkehrspolizei ergab, dass sie die Überreste zu einem kostenpflichtigen Verwahrplatz geschleppt hatten und ein Liegetag in dieser Leichenhalle mehr kostete als die Rosenbaum’schen Überreste, dass mein Geld für die eine Übernachtung dort noch ausreichen würde, aber wie sollte ich ihn dort wegbekommen? Wie den Abschleppdienst bezahlen? Und wohin mit ihm? Und ich verabschiedete mich von dem verstorbenen Greis, verabschiedete mich befleckten Herzens, verabschiedete mich im Bewusstsein, mich zu versündigen, und versuchte, mich damit zu reinzuwaschen, dass meine eigene Lage noch weitaus verzweifelter war. Und ich dorthin nicht zuletzt dadurch geraten war, dass er nicht hatte bremsen können. Überhaupt würde ich schon in fünf Tagen in Untersuchungshaft sitzen und der Verlegung in eine Strafkolonie entgegensehen, was sollte ich mir da Gedanken um ein Unfallauto machen? Möge es in Ewigkeit in dieser Leichenhalle der Miliz ruhen, bis die Posaunen des Jüngsten Automobilgerichts ihm dereinst zur Auferstehung blasen!

Nach einer Schweigeminute für den Alten am Ort seines Ablebens machte ich mich auf in Richtung Ostankino. Es war schon spät, Busse und Bahnen fuhren nicht mehr, dafür hielten immer wieder die privaten Taxigeier mit möglichst effektiven Bremsmanövern, schnitten mich scharf und hüpften sogar noch auf den Gehweg, mir direkt vor die Nase: »Wo soll’s denn hingehn, mein Lieber?« Aber ich winkte nur müde ab und bedeutete so, ich sei vollkommen ruiniert, auch finanziell, und sie jagten weiter, dreist und verwegen, nächtliche Großstadtkakerlaken, und ich war hier der Auswurf, unbrauchbar selbst für die Kakerlaken. Und es waren an die zehn Kilometer bis nach Hause, eine halbe Nacht zu Fuß, und die Beine konnten kaum noch. Aber jetzt musste Geld gespart werden, ich wollte dir etwas hinterlassen, bevor ich für fünf Jahre würde von dir lassen müssen. Nein, Olja, das ist nicht wahr, ich hatte damals noch gar nicht begriffen, dass sie mich tatsächlich einlochen würden. Ich dachte noch nicht ans Gefängnis, schmiedete noch keine Pläne, nein, ich spürte einfach instinktiv, dass ich besser kein Geld ausgab, vielleicht liefen mir ja irgendwo siebenundvierzigtausenddreihundert Dollar über den Weg, dass mir bis zu den fünfzigtausend nur noch ein am Ende durchaus zusammenkratzbares Sümmchen fehlte, und es wäre doch zu ärgerlich, es dann doch nicht ganz zusammengekratzt zu bekommen, nur weil ich mit einer völlig überteuerten Kakerlake zu diesem Fünfgeschosser gefahren war, wo ich dich sowieso nicht antreffen konnte, weil du nachts in deinen Kurilen arbeitetest.

Nach einem Zehntel der Strecke, als mich plötzlich entsetzliches Selbstmitleid überkam (ein gänzlich neues Gefühl, Moskau macht einen hart gegen sich selbst), hielt neben mir ein unbeleuchteter Bus mit einem Schild »Depot«, und die Tür zischte auf, und der Fahrer rief laut: »Wohin, Kumpel?« Ich antwortete und sagte, ich hätte kein Geld, aber er wies nur mit dem Kinn auf die leeren Sitzreihen und brauste los und gab während der gesamten Fahrt ganze zwei Halbsätze von sich: »Liegt nicht auf meiner Strecke, aber egal, ich bring dich hin.« Da sage noch einer, in Moskau gebe es keine guten Menschen.

Zu Hause angekommen wusch ich mir das Blut ab, klebte mir Pflaster über die Schürfwunden und riss, da ich so beklebt endgültig wie ein Invalide aussah, die Pflaster wieder runter und begann, auf dich zu warten. Ich wollte dich bestimmt nicht anlügen, Olja, aber ich wollte auch nicht gleich Gefängniszwieback auf Vorrat rösten, die verbleibende Zeit galt es so zu verbringen, als hinge keinerlei Bedrohung über mir. Ich saß im Sessel neben der Schlagseitenstehlampe mit dem Zugschalter und ging in Gedanken durch, was ich dir in viereinhalb Tagen sagen würde, bevor sie mir die Handschellen anlegten.

Als ich unten schon das Röhren der Dienst-GAZelle hörte, die euch immer nach Hause fuhr, wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit über am Wesentlichen vorbeigedacht hatte. Und dass ich erklären musste (wobei diese Erklärung jetzt schnellstens erfunden werden wollte), warum mein Gesicht so zerschrammt und wo der Rosenbaum abgeblieben war. Du kamst rein, müde, ein Päckchen zerquetschte Honigwaffeln in Plastikfolie in der Hand, deine Trophäe vom Schlachtfeld. Nach einem Kuss auf die Wange gingst du ohne weitere Fragen in die Küche und erkundigtest dich, ob ich nicht einen Kaffee wollte, und ich wollte natürlich.

Mit einem Blick auf meine zerschrammte Stirn sagtest du: »Ich habe eine Schwäche für Männer mit Schrammen und Kampfwunden. Es waren ihrer fünfzig, verborgen im Gebüsch?«

»Ach was, ich hab mich beim Rasieren geschnitten.«

Nichts weiter!

»Lass uns eine Weile auf den Rosenbaum verzichten, ja?«

»Ist gut, kleine Polem-polem-polem-Pause.«

Genau so, immer nur das Nötigste beredend, lebten wir zusammen. Dann gingst du schlafen, und ich verfluchte den Wecker, der mich wieder zu den »Kindern« rief, zur Architektursemiotik. Ich verrate deinen Geheimtipp, ja? Weißt du noch, wie du, die Expertin für Vierundzwanzig-Stunden-Schichten, einmal gesagt hast, wenn man mit nur drei Stunden Schlaf auskommen möchte, muss man das Fenster gekippt lassen, und dass das im Winter besonders gut funktioniert? Ich führe das hier nicht als Beispiel für ein Rezept gegen Schlafmangel an, ich kann nicht behaupten, dass es besonders wirksam ist, aber mir hilft es, weil du es mir gesagt hast. Ja, ich erzähle das an dieser Stelle, um deinen Kosmos zu veranschaulichen, deine Ansichten zur Metaphysik, denn, weißt du noch, wie du die Notwendigkeit des gekippten Fensters begründet hast? Du hast gesagt, dass die Seele so leichter aus der Wohnung und in den Himmel findet, wo sie fliegen und richtig ausspannen kann. Dass die Seele nachts die meiste Zeit auf der Suche nach einem Ausgang an Wände stößt, während sie hier gleich nach oben kann – was für ein rührender Stuss!

Und während ich mich anzog, wusch, heißes Wasser schluckte, den Kaktus goss, der die wunderbare Eigenschaft hatte, dass man ihn auch ein Vierteljahr vergessen und nur füreinander da sein konnte, während ich also all dies tat, dachte ich nicht mehr an das, womit ich nachts eingeschlafen war. Meine Seele war wahrhaftig durchs offene Fenster bis zum hohen Himmelszelt hinaufgeflogen, sodass ich erst auf der Treppe bei der Rekonstruktion des Themas meiner anstehenden Vorlesung plötzlich begriff, was da schon den ganzen Morgen für ein Gewusel, Gefiepe und Gekratze unter dem Bodenbelag meines Gedächtnisses hervordrang. Eine Sekunde später, an der Tür, stand es mir vor Augen. Mein Herz stolperte, die Ratten fiepten im Ultraschall. Dort stand ein Milizfahrzeug mit zwei Ordnungshütern, die Fenster geöffnet, die Funkgeräte, in Betrieb, bekrächzten etwas. Ich dachte, die würden mich bestimmt vom Fleck weg verhaften, dabei hatte ich doch noch vier Tage (ganze vier!), aber die Miliz war wegen einer anderen Sache hier, sie schauten mich nicht einmal an, und ich schritt aus zur Metro, schluckte die Ratten im Hals herunter. Zwei Stunden später kam ich in unseren Hof zurück, nachdem ich mich krankgemeldet hatte und vor den Studierenden geflohen war, die ob dieser Flucht in helle Begeisterung gerieten (in solchen Momenten war mir der Sinn meiner Arbeit immer besonders schleierhaft, wenn der Ausfall einer Vorlesung so eine Freude auslöste, bei mir wie bei ihnen). Ich entschied, dass die vier Tage des mir noch verbleibenden Lebens zu kurz waren, um sie mit so einem Mumpitz zu vergeuden.

Kaum im Hof angekommen, erblickte ich dasselbe Fahrzeug, in unveränderter Position, und nun, da ich es von hinten betrachtete, erkannte ich in den Kopfstützen der Rücksitze zwei Gefechtshelme und stellte mir vor, wie ich gleich im Vorbeigehen zu hören bekäme: »Augenblick, junger Mann …« Und die ersten Wolken hoch am Himmel kamen mir vor wie aus Stacheldraht, aber ich kam heran, erstarrte, erwartete den Schuss der Frage, aber die Miliz blieb stumm. Und der auf dem Fahrersitz schlief, schnarchte, den Kopf im Nacken. Würden sie vier Tage lang hier stehen? Und mich in vier Tagen in den Wagen bitten und ins Untersuchungsgefängnis fahren?

Ich kehrte zu dir zurück, und du schliefst, deine Seele war irgendwo dort oben, in den Federwolken. Ich setzte mich zu dir aufs Bett, wusste nicht, wie dich wecken und ob, und ich berührte dein Haar, streichelte sogar über dein Gesicht, im Millimeterabstand, um dich nicht zu erschrecken. Ich zeichnete dich mit meinen Fingern, prägte dich mir ein, für immer. In diese stehen gebliebene Stille brüllte unser Schnurtelefon, das grundsätzlich noch existierte, sich aber in eine Art Einrichtungsgegenstand verwandelt hatte, schließlich nutzten wir längst unsere mobilen Kleinen, war jenes doch wuchtig, schwarz und grobschlächtig. Wir wollten sogar schon einmal ein Museumsstück daraus machen, die Schnur abschneiden und es an einem repräsentativen Ort aufstellen, auf dem Fernseher zum Beispiel, fürchteten aber sicher nicht zu Unrecht, dass die Wohnungsinhaberin wegen der abgeschnittenen Schnur mir etwas abschneiden würde, das nicht so leicht zu ersetzen war wie ein Telefonkabel. Ich wühlte mich durch die Ecken, versuchte, mich zu erinnern, wo wir es versenkt hatten, und es lärmte weiter, im Timbre einer Schulglocke nicht unähnlich, einer aus diesen grün angestrichenen sowjetischen Schulen, in die wir beide vor langer, langer Zeit gegangen sind. Das Telefon stand weder auf dem Bord im Eingang noch über dem Spiegel, und ich griff nach dem Ariadnefaden neben der Wohnungstür und spürte den Schuft auf, während ich deine Sachen durchpflügte. Das Telefon hatte sich hinter dem Schrank versteckt.

»Ja?«, sagte ich erstaunt.

»Gmanmchalaxejitsch?« Die brünierte Amtsstimme schien ohne Lippen auszukommen, sie hatte die Hälfte verschluckt wie aus dem Zahnfleisch gefallene Zähne – so liederlich konnte nur sprechen, wer von niemandem zurechtgewiesen, von niemandem korrigiert und belehrt werden konnte.

Aber ich wollte sie zu einer Wiederholung zwingen: »Was? Ich habe Sie nicht verstanden.«

»German, Michail Alexejewitsch?«

»Ja, am Apparat.«

»Hier Abteilung Inneres. Wir haben da eine Anfrage aus der städtischen Staatsanwaltschaft.«

Beim Wort »Staatsanwaltschaft«, nein, schon bei der »Abteilung Inneres«, schrillte natürlich alles in mir, und die zahnlose Aussprache der Frau war plötzlich glasklar, krallte ich mich doch in jede einzelne Klangfärbung.

»Wo ist denn jetzt Ihre Wohnanschrift?«

»Ich wohne unter der Anschrift, bei der Sie angerufen haben«, sagte ich. »Hier, in dieser Wohnung.«

»Aaah, verstehe. Weil sie hier zeitweise auf eine andere Adresse gemeldet sind. Da haben sie nicht gewusst, wo Sie im Zweifel zu finden sind.«

»Verzeihung, aber seit wann überprüft denn die Abteilung Inneres die Meldeadressen der Bürger?« Ich war eher erschrocken als erregt. Meine Registrierung hatte ich mir wie die meisten eingeborenen Moskauer auf ein Inserat in der Zeitung »Von Hand zu Hand« hin für fünfzig Dollar das Halbjahr gekauft.

»Was schreien Sie mich so an?«, brauste die brünierte Stimme merklich auf. »Wir sollen prüfen, also prüfe ich. Wohnen Sie, wo Sie wollen. Hauptsache, die Staatsanwaltschaft weiß, wo Sie im Zweifel zu finden sind.«

»Im Zweifel?«, wiederholte ich stumpfsinnig.

»Im Bedarfsfall«, schloss die Frau friedfertig und legte auf.

Ich ließ mich an der Wand zu Boden sinken, kühlte runter, hielt inne, »im Bedarfsfall«, hatte sie gesagt, »Anfrage aus der Staatsanwaltschaft« … Die Tür knarrte, du kamst aus dem Schlafzimmer, verschlafen, aufgeweckt vom Klingeln des Museumstelefons, und wenn du nun gefragt hättest: »Wer hat denn angerufen?«, hätte ich mich bestimmt ereifert, dass sie angerufen haben, um meine Meldeadresse zu überprüfen, dass unten die Bullen stehen, dass sie mich in vier Tagen holen werden, dass das alles wegen ein paar abgedrehter MdI-ler passiert ist, die im Jaguar mit Begleitschutz unterwegs sind; und wäre wohl, hätte ich dir das erzählt, alles Weitere überhaupt geschehen? Oder hätten sie die Finger von mir gelassen, da sie einsehen mussten, dass ich dir alles erzähle und dies nicht ihren Erwartungen an mein Verhalten entsprach, an mein Porträt, an »den, den sie brauchten«?

Aber du kamst aus der Tür, und statt der vorgefertigten Antwort auf deine Frage »Wer hat angerufen?«, der Antwort, die mit den Worten »Die Staatsanwaltschaft sucht mich« angefangen hätte, lächelte ich dich an. Weil du, anstatt auch nur ein Wort zu sagen, mich anlächeltest, zerzaust wie ein aus dem Winterschlaf aufgestörtes Tier, schwankend, so kamst du auf mich zu und setztest dich mir auf den Schoß. Du legtest deine Arme um mich und wolltest wieder einschlafen, aber ich wimmelte dich ab wie ein Kind und schlug vor, einen Kaffee zu trinken, und du dämmertest weiter vor dich hin, während ich versuchte, dein Ballett mit der unsichtbaren Allegro-Maschine nachzutanzen.

Und ein bisschen Semiotik: Als wir Kaffee tranken, hingefläzt auf das Sofa, und ich ironisch war und du träge, lief dort in der Nachrichtensendung ein Beitrag zum Geburtstag eines gewissen Alexej Borissowitsch Noide. Der Beitrag, in dem ein greiser Opa, aus unerfindlichen Gründen sitzend, herumwuselnde Bienen beräucherte, hatte damals für uns keinerlei Bedeutung. Doch später, Olja, sollten in meinem Leben eine ganze Reihe von Ereignissen eintreten, die jedes Detail dieses Beitrags zu einem Zeichen werden ließen. Wir lernen daraus, dass die Semiose sich bisweilen auch in sinnlosen Fernsehnachrichten ereignen kann.

Hier will ich dir ins Gedächtnis rufen, was in dieser von uns in der trägen Mittagsstunde gesehenen Sendung gesagt wurde, und die nachfolgenden Seiten werden dir erklären, weshalb das wichtig ist. Die Semiose, Olja, ereignet sich durch die Vereinigung der Information, die ich dir hier gebe, mit derjenigen, die du noch wirst herauslesen müssen.

Der Opa, dessen Alter schon so fortgeschritten war, dass sie es kokett unterschlugen, obwohl doch der alleinige Inhalt der Nachricht in seinem Geburtstag bestand, war mit den Bienen zugange, schaute in die Kamera, drehte seinen Kopf (offenbar auf Ansage des Regisseurs) zur Seite, zeigte sein hageres, biblisches Profil, und eben in jener Pose setzte das Erkennen ein, entstand die Relation zu den ungelenken, schwerfälligen Gestalten, die uns dereinst vor Ewigkeiten vom Mausoleum aus monumental zugewinkt hatten. Und eine sich überschlagende männliche Stimme verkündete, wir hätten Alexej Borissowitsch Noide vor uns, den letzten GenSek der UdSSR, den Mann, der die Perestroika initiiert hatte, noch bevor der andere, kahlköpfige, umtriebige Typ sich einmischte, der mit der Grammatik auf Kriegsfuß stand und sich der Bevölkerung vor allem mit seinem jedes vernünftige Maß übersteigenden Antialkoholgesetz eingeprägt hatte. Und dieser hinfällige Patrizier hier hätte seinerzeit eigenhändig »um der zukünftigen Demokratie willen« auf den ihm vom damals bereits in Auflösung befindlichen ZK angetragenen Posten des »ersten Präsidenten« verzichtet. Die Reporterphrase lautete: »Alexej Borissowitsch Noide könnte heute noch regieren, so wie manch andere« (ein Seitenhieb auf mein armes, armes Heimatland, keine Frage, denn Seitenhiebe auf andere, näherliegende Beispiele, sind im Staatskanal für uns undenkbar, nicht wahr, Olja?). »Aber er stand über seinen Ambitionen.« Jetzt macht er bei sich auf der Datsche in Bienen (das Honigthema gab visuell nicht viel her, der Alte drehte Rähmchen hin und her, hielt sie gegen das Licht, nahm Geschmacksproben, kurzum, sie hätten ihn besser irgendwo im Säulensaal im Haus der Sowjets gefilmt und nicht in dieser komischen Pastorale). Und der Reporter sprach von »Entsagung«, von »Selbstlosigkeit« und den »stillen Freuden des Lebens«, und es war schon zu spüren, dass sein kulturelles Niveau ihm den Vergleich regelrecht aufzwang: den Vergleich (die anderen wissen’s ja nicht!) des »heroischen« Machtverzichts des Alten mit der Geschichte, die der Schlosser Goscha im Film Moskau glaubt den Tränen nicht erzählt, vom römischen Kaiser Diokletian, der auf den Thron verzichtet und sich in die Landwirtschaft zurückzieht. Und als Diokletian gefragt wurde, warum er abgetreten sei (hier hob Goscha die Stimme wie vor der Pointe eines guten Witzes, damit auch alle lachten), antwortete er: »Ihr müsstet mal sehen, was bei mir für Kohlköpfe wachsen!«

Noch scharwenzelte der Reporter herum, kam ins Straucheln, kein Verweis auf Moskau glaubt den Tränen nicht, sondern von sich aus, mit einem Dreher in Diokletian, den er »Dialektian« nannte, dieses Kohlkopfzitat, aus dem Munde eines Medienpropheten mit rosigen Wangen, großer Gott, welche Weisheiten tragen uns die Mikrofonträger des Ersten Kanals zu! Dass der gärtnernde Diokletian vor seiner Abdankung eine Diktatur errichtet und die Grundlagen für das Dominat und die gesamte römische Spätantike gelegt hat, das muss doch auf Wikipedia zu finden sein! Aber wir unterrichten Geschichte ausschließlich nach dem Film Moskau glaubt den Tränen nicht!

Nach Diokletians Kohlköpfen ein leichtes Nicken und der Rückpass ans Studio mit einem samten gehauchten: »Mariana?«

Hier halten wir unser Fernsehprogramm an, obwohl wir an diesem Mittag noch ziemlich lange auf dem Sofa herumgelegen haben. Und der Umstand, der diesem unserem Herumgewälze einen Sinn verlieh, war die Tatsache, dass unten vor unseren Fenstern ein Fahrzeug mit in semiotischen Fragen völlig unbedarften, mit der ihnen aufgetragenen Semiose fremder Leben dagegen bestens zurechtkommender Ordnungshüter stand.

Revolution

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