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Drittes Kapitel, in dem ich in eine Zeitschleife gerate und all meine Probleme sich auf höchst überraschende Weise auflösen
ОглавлениеJeden Tag zerstückeln in vierundzwanzig Stunden. Jede Stunde in sechzig Minuten. Jede Minute in sechzig Sekunden. Eine Sekunde – das ist so viel! Eine Sekunde dein Aroma einatmen, würzig, aus tausend Blüten gemischt. Eine Sekunde ausatmen, in dein Ohr, deine Halsbeuge. Eine Sekunde deine Haut betrachten, eine Sekunde, in der du dich umdrehst, diese Sonne in den Augen, Aprilsonne, und wir spazieren am Puschkindenkmal vorbei, und du, du bist da, sagst etwas, nicht zu verstehen, wenn man sein Leben so lebt, in Sekunden, im Storyboard-Modus, jede Szene ein Kunstwerk, nach jeder Szene kann der Tod nicht mehr schrecken (der Tod ist ja überhaupt nicht schrecklich, schrecklich ist das Gefängnis, weil niemand genau weiß, was Gefängnis bedeutet, und wer wieder rauskommt, ist irgendwie nicht mehr ganz Mensch, spricht eine andere Sprache, und diese halb menschlichen Überlegungen über »die Zone« – »wenn du scheiße reingehst, wirst du scheiße bleiben«, und wenn du »als ganzer Kerl reingehst, gehst du als ganzer Kerl wieder raus« – das kann kein Mensch kapieren, der nicht dort gewesen ist). Natürlich bereitete ich mich vor, »röstete Zwieback«, aber auf meine Art, wie sich ein Akademiker eben aufs Gefängnis vorbereiten kann. Mein »Zwieback« waren Bücher, ich war ja selbst spröde wie trocken Brot.
Ich ging zum Bücherbasar in der Krasnoselskaja, schlug das Buch Die Gefängnisse Russlands auf, verschlang das Kapitel »Was ein Neuling wissen muss« und stieß sofort auf den Ratschlag, sich möglichst aggressiv zu gebärden, jemandem mit dem Hocker den Schädel einzuschlagen, um einen jähzornigen Charakter zu signalisieren. Und ich versuchte, mir die Gesellschaft vorzustellen, in der man sich durch gegenseitiges Schädeleinschlagen miteinander bekannt machte. Ich konnte doch sowieso keine Schädel einschlagen, so war ich nicht, und ich sah auch keine Möglichkeit, so zu werden. Aber ich bin es, ich bin so geworden, jawohl!
Ich dachte, es wäre nicht verkehrt, in die Bibliothek zu gehen und diese Frage eingehender zu untersuchen – Zwieback den Zwiebäcken –, aber dann rief ich mich selber zur Ordnung. Das wäre vertane Zeit, dieses Wissen ließe sich sowieso nicht in die Praxis konvertieren, durch Lektüre machst du keine Bestie aus dir. Ich merkte mir, merkte mir für alle Fälle, Olja, dass man die Venen nicht quer aufschneiden darf, das kriegst du leicht wieder verbunden und genäht, sondern längs, der ganzen Länge nach, dann bist du auf der sicheren Seite.
Das Milizfahrzeug in unserem Hof stand immer da, Tag und Nacht, dreimal täglich wechselte die Besetzung, zwei verschlafene Milizionäre wurden von zwei genauso verschlafenen abgelöst. Und am zweiten oder dritten Tag kam dir das komisch vor, und du wolltest mich fragen schicken, was denn los sei, aber ich antwortete mit ihren Worten (und die Antwort konnte gar nicht anders lauten): »Wir sind hier, weil die operative Notwendigkeit gegeben ist.« Und ich hielt dich fern, schob dich aus dem Hof, erklärte, sie hätten überhaupt nichts mit uns zu tun, und mutmaßte, was diese Show wohl kosten mochte, zwei Milizionäre vor der Tür, rund um die Uhr, fünf Tage am Stück. Und ich redete mir ein, es gehe nicht um meine Wenigkeit, sie stünden bloß da, aber als ich vor die Tür ging, bemerkte ich, wie der eine dem anderen einen Rippenstoß gab und eindeutig zu mir zeigte, und ich hatte das gesehen, und für diese Geste konnte es nur eine Lesart geben, ja, sie überwachten mich. Sie hatten mir de facto einen Wachtposten vorgesetzt, unser Quartier war nun eine Bastion, bewacht von Gendarmen. Eigentlich, sagte ich mir leichthin in einem jener Momente, da die gute Laune überschäumte und mich zum schwarzen Humor hintrieb, eigentlich kommt mir dieses Fahrzeug als eine Art mobile U-Haftzelle entgegen, damit ich genau weiß, wo ich mich zu stellen habe. »Grüß Gott, Sie haben meinetwegen tagelang hier gestanden, ich werde verdächtigt (bzw. soll in zehn Minuten, wenn es sechse schlägt, verdächtigt werden), ein Mobiltelefon entwendet zu haben, können wir schon mal die Formalitäten regeln?«
Was wir getan haben? Womit uns beschäftigt? Lauter Nichtigkeiten. Wir waren im Kino Puschkinski, haben Händchen gehalten, und der Arm auf der Lehne ist eingeschlafen. Die Leinwandwelt, wo wer wen verfolgte und beschoss, wirkte langweilig, so langweilig im Vergleich, ich weiß nicht, im Vergleich damit, wie dieses schwarze, fluffige Gummi dein Haar hinten zu einem Pferdeschwanz zusammenband. So schlicht und so schön! Und ich zerrte dich an der Hand nach draußen, gebückt wie im Kugelhagel, und die Reihe wollte kein Ende nehmen. Wir kämpften uns durch den Saal und purzelten ins Licht, in tausend strahlende Sonnenlichtsekunden, Herr im Himmel, wie lang das ist, eine Stunde! Wie viel das ist, ein Tag! Und es war sonderbar zu entdecken, dass die Zeit – eine Zeit, aus einer Schlange aneinandergereihter Sekunden –, dass sie, diese Zeit, trotz allem weiterlief. Unabwendbar. Aber ich hatte doch noch so viele dieser Kleinodien, dieser Sandkörner im Stundenglas. Ganze drei Tage, zwei! Einen ganzen Tag! Ganze acht Stunden, vom Aufwachen Sonntagfrüh bis zu dem verfluchten und noch so fernen Achtzehn-Uhr-Schlag!
Ich berauschte mich förmlich an der Lust auf das Leben, von dem ich Abschied nahm. Was haben wir noch getan an diesen letzten Tagen? An einen kann ich mich noch erinnern, da roch es noch nicht im Entferntesten nach Abschied, wohl der Donnerstag oder Freitag, wir gingen in die Innenstadt, und ich sprudelte über von meiner Architektur, überall sah ich Musik und fühlte mich als Dirigent. Ich zeigte dir den raren Konstruktivismus, der sich zwischen den allgegenwärtigen Klassizismus geschmuggelt hatte, und natürlich die Stalinbauten, und ich schwafelte von den Stalinbauten, was wäre Moskau ohne die Stalinbauten, ich schwafelte viel und ohne System. Von meinem Beitrag zu der uralten Polemik über die Bezeichnung des »Stalinstils«, der nach Lenins Tod den sterilen, platonowartig utopischen Konstruktivismus abgelöst hatte.
Ich erzählte dir von den Idioten, die diesen Stil »Stalin-Empire« und »Stalin-Klassizismus« nannten, nannte dir selbst die Namen dieser Kannibalen und spielte szenisch die Höhepunkte meiner Debatten mit ihnen auf diversen Konferenzen nach. Du unterbrachst mich mit einem kurzen Maunzen und dem unnachgiebigen Fingerzeig auf eine junge Frau, die Luftballons verkaufte, und der Disput musste begraben werden zugunsten dieser wie Kosmonauten in der Schwerelosigkeit schwebenden, jedes Gewicht verloren habenden, farbigen Riesenpelmeni, weil du Hilfe brauchtest bei der Wahl des strahlendsten, der »am meisten in den Himmel will«. Und dann, als der Ballon über dem Handgelenk gehisst war, redete ich mich weiter in Rage. Ich betete dir meine Thesen her, nachzulesen in den »Massengräbern« (wie die von unserer MIAU mit Soros-Geldern finanzierten Sammelbände wissenschaftlicher Aufsätze so treffend genannt werden). Dass Akroterien und Statuen nicht kennzeichnend für den Klassizismus seien, sondern eben für das Barock. Und dass diese ganze von Sholtowski im Westen zusammengeklaute Fusion nicht anders bezeichnet werden könne als Stalin-Barock. Du lehntest deinen Kopf an meine Schulter und schautest in den Himmel, ich zeigte mit dem Finger auf die Häuser ringsum und wiederholte in einem fort: »Akroterion!«, »Epistylion!«, »Baluster!«, »Flachrelieffries!«, um abschließend zu rufen: »Stalin-Empire?!«
Du lachtest, sagtest wieder einmal, ich sei verrückt, und, komm, kaufen wir uns lieber ein Eis. Statt eines Eises tranken wir Kaffee im erstbesten Café, und ich stieg noch mal von der anderen Seite aus ein (keine Ahnung, weshalb ich so über mein »Stalin-Barock« salbaderte, vielleicht sah ich anlässlich meines bevorstehenden Abschieds von dieser Welt in dir meine Schülerin, diejenige, die mein Wissen, meine Argumente erben und meinen Kampf fortsetzen sollte, hahaha).
Ich sprach zu dir, ereiferte mich. »Schau«, sagte ich zu dir, »früher lebten die Menschen mit der Natur und hatten Worte für alle Dinge, mit denen Wald, Wiese und Fluss sie umgaben. Sie hatten Schlingen und Auen (für Flüsse), sie hatten Erle, Hasel, Eiche und Kiefer (für Wald). Sie hatten Huflattich, Besenheide, Federgras und Weidenröschen (für Wiese). Die Umwelt war ihnen verständlich, weil sie jedes Ding in ihrer Umgebung benennen konnten. Doch dann zog der Mensch in die Stadt und entfernte sich von Fluss, Wald und Wiese. Und heute kann längst nicht mehr jeder erklären, was eine Schlinge ist, was eine Aue, was Erle von Hasel unterscheidet oder was Weidenröschen und Besenheide sind. Der Mensch braucht das nicht mehr. Der Mensch lebt mit steinernen Blumen, mit Fenstern, Bogengängen, Flachreliefs und Fluchten. Die Architektur gibt uns die Worte, Wald und Wiese zu erklären, die nun zu unserer natürlichen Umwelt geworden sind. Meine ganzen lächerlichen Baluster, Voluten, Gesimsvorsprünge, Stäbe und Ordnungen waren alle nur Besenheide, Aue, Schlinge, Weidenröschen unserer Stein-Ziegel-Stahlbeton-Welt. Dabei haben die meisten Menschen inzwischen auch diese Worte vergessen, sie können Erker nicht von Arkade unterscheiden, und die Welt bleibt unbenannt, wird unerklärbar, beängstigend.«
Du hast dir das ohne den vormaligen Eifer in einem stillen Singsang vertraulich Vorgebrachte bis zu Ende angehört und gefragt (dir schien das logisch an das Gehörte anzuschließen), ob ich nicht wüsste, warum Flugzeuge sich mit ihren Flügeln in der Luft halten können, wo sie doch aus Eisen sind und eine Tonne wiegen. Und warum du, wenn du deine Flügelarme ausbreitest mit deinen fünfundvierzig Kilogramm nicht oben bleiben kannst. Warum du hochhüpfst und wieder runterfällst. Aber nein, ich wusste es nicht, und allein die Frage brachte mich wieder zur Besinnung, und ich begriff, dass in unserer Welt die Dinge nicht benannt werden mussten. Dass wir beide wie Adam und Eva im Garten Eden waren, bevor sie den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen haben: ursprünglich, unwissend. Und daher unendlich glücklich.
Ich erinnere mich noch an unsere Begeisterung (ich habe wohl, überwältigt von Emotionen, sogar gelallt), als wir zu dem Hochhaus in der Kotelnitscheskaja spaziert sind. Wir hielten absichtlich unterwegs die Köpfe gesenkt. Dort angekommen, im Hof, schauten wir, ta-damm!, hinauf, und es hätte uns fast auf den Hosenboden gesetzt, so brandete und stürzte es auf uns ein. Als donnerte eine Bachfuge aus Boxen so groß wie dieses Haus, während irgendwo ganz oben die Statuen der Arbeiter, Soldaten, Bauern und Architekten schwiegen, das Pantheon der Stalin-Götter. Vom Himmel blickten sie auf uns Ameisen herab. Wir setzten uns auf eine Bank, der Nacken wurde schon taub, und ich schwadronierte weiter, diese Architektur sei wie der Sozrealismus in der Malerei von Menschen geschaffen, die an etwas Lichtes, Machtvolles geglaubt hatten. Und dass man angesichts dieser Gebäude spüren könne, wie es sie gekickt haben muss. Die Schrecken jener Zeiten seien vergessen, und diese sich durch ganz Moskau bahnbrechenden Fugen erinnerten heute noch an ihre Träume.
Aber ich schaute dabei schon dich an, nicht mehr den Wolkenkratzer, und ich fand selbst dumm und zweitrangig, wovon ich sprach. Dann versuchten wir, ins Haus einzudringen, wurden aber grob, schier mit dem Besen, vom Hauswart vertrieben. Dieses Atrium-Hochhaus war nur für diejenigen, welche bestimmt, natürlich nicht für uns, ausgeschlossen, niemals, nie im Leben! Und die Zeit – trotz dieser meiner gedehnten Sekunden schritt die Zeit voran. Nächte kamen, die Tagseiten umzublättern. Tatsächlich, mag dich das Rieseln der Sandkörnchen noch so stark in seinen Bann schlagen, gehen sie früher oder später doch zu Ende.
Und ich fand nicht die richtigen Worte für dich. Ich wollte dir gar nichts sagen, Olja. Ich wusste nicht, wie mich von dir verabschieden. Die Zeit lief, und ich brachte diese Worte nicht über die Lippen: Gefängnis, U-Haft, Prozess. Sie waren meinem Kopf dermaßen fremd, dass sie sich nicht einmal in die richtige Reihenfolge (U-Haft, Prozess, Gefängnis) bequemen wollten.
Eine Stunde vorher war ich schon im Vierten des Fünfers, in unserem Abschiedszimmer, und startete meine Versuche, von dir Abschied zu nehmen. Ich hielt all meine verbleibenden Sekunden in der Hand und verschleuderte sie, nun war schon alles zu spät, es gab kein Halten mehr. Ich wusste, dass man dir meine Verhaftung noch x-mal erklären, dir alle Details dieses nie begangenen Verbrechens offenbaren würde, die auch mir unbekannt waren – bei Verhören, zu denen sie dich als Zeugin laden würden, aber jetzt musste ich dich einfach in den Arm nehmen und etwas zum Abschied sagen.
Ich brummelte, wir hätten keine Milch mehr, du entgegnetest, wir tränken doch gar keine Milch, aber ich beharrte weiter auf meiner Milch und schlüpfte in die bereitgelegten Klamotten, die zu warm waren, viel zu warm für diesen von der Frühlingssonne erwärmten Abend. Auf diesen Abend sollte die Nacht folgen, eine Nacht in der unbeheizten Zelle, feucht, aber nein, nicht daran denken, sich nur anziehen und dich dabei ansehen. Du amüsiertest dich köstlich und sagtest, du würdest mich begleiten bei diesem sinnlosen Milchkreuzzug (hätte ich mir wirklich nichts Schlaueres ausdenken können?), aber ich flüchtete mich ins Gewitzel, klammerte mich an den Komikstrohhalm, witzelte mit bereits gramvoll verzerrten Lippen, Milch hole man nicht zu zweit, für diese Mission seien nur Einzelne auserwählt.
So ging ich, umarmte dich, zu fest für einmal Milch holen gehen und verstand bei dieser Umarmung: Liebe ist, wenn die Worte fehlen. (Wann sehe ich dich wieder? Gewähren sie mir ein Treffen vor der Urteilsverkündung? Besuchst du mich im Gefängnis? Verstehst du, dass es Verleumdung ist? Wer wird bei dir sein?) Ich beschreibe dir das alles, weil es an dir vorbeigegangen ist, ich war zehn Minuten weg und dann wieder zurück. Ja, ich kam zurück. Zusammengekrümmt, bereit für das Jüngste Gericht und doch nicht bereit, weil man dafür nicht bereit sein kann (ich wollte die Treppe hochrennen, die Tür aufreißen und sagen: »Ich gehe ins Gefängnis. Leb wohl«, aber ich konnte dir nicht Lebewohl sagen). Noch fünfzehn Minuten. Wie würde es aussehen? Würden sie auf mich zukommen? Oder müsste ich die Autotüre öffnen, mich auf die Rückbank setzen und die Hände vorstrecken, dass sie die Handschellen zuklicken können? Oder sollte ich das Ganze zur Farce verkehren und mit einem Shakespeare-Zitat einsteigen (nur kam mir nichts Passendes in den Sinn, ich konnte ja schlecht mit »Die ganze Welt ist Bühne« ankommen wie ein Gangster mit drei Klassen Schulbildung und das »pair of star-crossed lovers« wäre zu hoch für sie), ulken und frotzeln? Aber wozu Pläne schmieden, wenn alle Pläne mich betreffend schon längst fremdgeschmiedet sind? Ich riss die Haustür auf und sah den typischen Geländewagen, in dem der Chef, der Dicke am Steuer, mit großer Geste auf die Uhr sah (noch dreizehn Minuten in dieser Welt).
Ich sah Olja, die echte, im flauschigen Anzug, wie sie mir ihren Busen antrug, mit oriflame-glänzendem Gesicht, wie sie mich ihr folgen hieß, die Wasserleitung durchputzen, bitte, bitte, in fünf Jahren ist sie ein altes Weib!
Ich sah das erste Grün durch die feuchte, fette Frühlingserde brechen.
Ich sah den Himmel, den es so reichlich gab in unserem mit den immer gleichen Fünfgeschossern vollgestellten Stadtviertel.
Ich sah den immer noch ungerösteten Ostankino-Turm seinen Mittelfinger himmelwärts recken.
Ich sah den Rosenbaum stehen, wo ich ihn immer abstellte.
Ich sah …
Moment …
Ich sah den Rosenbaum stehen, wo ich ihn immer abstellte.
Leicht angerostet, aber durchaus funktionstüchtig.
WIE DAS? Der Greis, vielmehr seine zerquetschten Überreste, die abgerissenen Extremitäten und der zertrümmerte Kopf lagen jetzt in der Leichenhalle namens »Verwahrplatz der Verkehrsmiliz«. Seine unversehrte, nicht eingedrückte Kühlerhaube erinnerte an einen ausgefallenen Oberkiefer, vom Schädel selbst war ja nichts mehr übrig. Der Kühler Schutt und Asche, die Batterie über den Motorblock verspritzt, der Motor selbst verdreht und durch den Stabilisator gebrochen auf dem Asphalt, das Heck mit dem Kofferraum zur Ziehharmonika gefaltet und angehoben vom zweiten Aufprall des Jeeps, die Fahrzeugsäulen verformt, als wäre das Auto lediglich ein Modell aus dünnem Papier, einseitig verzogen von einer Kinderhand. So hatte ich ihn zuletzt gesehen, deshalb erschien er mir nun seltsam eingetrübt, wie er da vor mir stand – aufrecht, ältlich, mit Rostflecken (alle, wo sie hingehörten). Alle Scheiben heil, der gute alte Rosenbaum. Ich fasste mir unwillkürlich an die Stirn mit der inzwischen von einer rauen Kruste überzogenen Schramme, dem einzigen Beleg dafür, dass der Unfall, der meinen Rosenbaum das Leben gekostet hatte, auch außerhalb meiner Fantasie stattgefunden haben musste. Die Wunde war noch an Ort und Stelle, sie brannte. Was war das für ein Irrsinn? Kein Unfall? Was wollte dann die Miliz hier? Oder sah die nur ich? Andrjuscha hatte mich diese perzeptive Skepsis gelehrt, die Phänomenologen oder Freunde von Phänomenologen, die regelmäßig mit Phänomenologen tranken, auszeichnete: Wie sollte man seinen Sinnesorganen trauen, wenn es keinerlei Beweise dafür gab, dass sie die Angaben der Wirklichkeit korrekt »abbildeten«? Wenn es keine Beweise dafür gab, dass Schwarz tatsächlich schwarz war? Unser Weiß könnte ja eine kollektive Störung des Homo sapiens sein. Libellen sehen anstelle von Weiß zum Beispiel Violett. Aber was ich vor mir sah, war weder weiß noch violett, sondern kaffeebraun. Und dieses Kaffeebraune war der Rosenbaum. Und ein Stück hinter dem Rosenbaum, der bei einem Autounfall unwiderruflich sein Leben gelassen hatte, stand der Wagen mit den Milizionären, die erst infolge dieses Unfalls aufgetaucht waren. Der Wagen, den auch du gesehen hattest, da du mich hattest zu ihnen schicken wollen, also waren diese Milizionäre keine Ausgeburt meines kranken Kopfes. Also hat es entweder den Unfall nie gegeben, und die Miliz dürfte nicht hier stehen. Oder, was wahrscheinlicher ist, der Unfall war echt, und ich trage sein Mal auf der Stirn. Dann kann hier unmöglich, weder phänomenologisch noch semiotisch oder idiotisch, dann kann hier einfach nicht der ins Jenseits abberufene Rosenbaum stehen.
Ich umrundete das Auto (die Zeit lief), um mich davon zu überzeugen, dass das eine Halluzination war, logisch, kein Zweifel, dabei war sie nicht ganz perfekt. Die Rostspur an der rechten Hintertür des Rosenbaums hatte sich in zwei Arme geteilt, die oberhalb des Griffs in einen kleinen See eingemündet waren, während hier nur ein Rostrinnsal floss, ganz am Rand, das eher etwas von einem Meerbusen hatte – sonderbar, nicht? Kann man von einer Halluzination das genaue Abbild des Objekts erwarten, das sie nachzuahmen versucht? Schließlich existieren sowohl Objekt als auch Halluzination ausschließlich in meinem Bewusstsein, das Original als Erinnerung und die illusorische Kopie als ein in dieses Erinnerungsbild verstricktes taktiles, sensorisches Spiel. Wieso also diese Diskrepanz? Und was tue ich jetzt »im wirklichen Leben«? Alles für die Miliz? Stiefle ich hier um ein fremdes Auto herum? Einen zufälligen dunkelblauen Lada?
Moment, das ließ sich überprüfen, ein Blick auf das Nummernschild sagte mir, dass er es war. Also doch keine Halluzination? Wobei, die Nummer könnte auch meiner verzerrten Wahrnehmung geschuldet sein, dann wäre ich noch ein Stück weiter neben der Spur, und da bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich konnte körperlich spüren, wie sich mein Bewusstsein trübte, konnte spüren, wie jemand anderes, vollkommen Verrücktes in mir erwachte. Und wenn sich nun die Tür öffnen ließ und ich mich ans Steuer setzen könnte, welchen Streich sollte mir meine Wahrnehmung dann noch gespielt haben? Wie könnten meine Schlüssel zu dem anderen Auto passen, das diese Illusion hervorgebracht hat? Der Schlüssel glitt problemlos ins Schloss, ließ sich drehen, und die Tür sprang auf. Sogar der Geruch drinnen war derselbe, wenn auch vielleicht nicht ganz, wieder diese kleine Abweichung vom Bild, das in meinem Gedächtnis abgelegt war? Vom Bild, das die Halluzination minutiös hätte wiedergeben müssen? Ich setzte mich (noch zehn Minuten), legte die Hände um das Lenkrad (nein, das stimmte auch nicht ganz überein), griff nach dem Schalthebel, und da, da passte es auch nicht richtig. Der Griff war »getunt« mit einer Rosenblüte in transparentem Kunstharz. Meine Rose war blasser gewesen, wie verblüht, erloschen, diese hier war voller Saft und Kraft, als wäre sie eben frisch gekauft. Da plötzlich durchzuckte mich mit der eisigen Erkenntnis, dass auch dies ein Zeichen für meinen Wahnsinn, für mein unter der Belastung des bevorstehenden Gefängnisaufenthalts zersprungenes Bewusstsein war, eine Idee. Könnte ich nicht vielleicht in eine Zeitschleife geraten sein? Oder (immerhin bin ich Akademiker, also Lacan statt Stephen King) könnte der Mensch oder ein Individuum in Momenten extremer, krisenhafter Konzentration nicht in seiner Umgebung, in jener Welt, die ausschließlich in seinem Bewusstsein existiert, könnte er dort nicht eine gewisse Verfremdung bewirken, die ihn zeitlich zurückversetzt? Das würde den lebenden Rosenbaum erklären, das noch nicht verblühte Röslein, die andere Rostzeichnung (vielleicht hatte sie ja so ausgesehen, bevor sie zum x-ten Mal überlackiert worden war). Wenn Alkohol uns berauscht und Musik uns erfreut, nur aus unserem Gehirn heraus, kann dann nicht auch das Gehirn die Wirklichkeit verändern, wie es gerade lustig ist? Die von uns besiedelte Matrix umprogrammieren, um kritische Situationen für den Körper zu umgehen (natürlich nicht jedes Gehirn. Nur das gebildete, belesene, sich seiner selbst bewusste Hirn! Eines wie meines!)?
Die Milizionäre hatten unterdessen darauf reagiert, dass ich mich ans Steuer gesetzt hatte. Sie waren ausgestiegen, einer hatte sich gähnend in der Ausfahrt postiert und sein Holster aufgeknöpft, um deutlich zu machen, dass es kein Entkommen gab, sollte ich durchbrennen wollen. Sie führten sich auf, als säße ich tatsächlich in meinem Auto, als könnte ich es starten und wegfahren. Aber entweder gab es die Milizionäre nicht oder das Auto nicht (oder mich nicht, aber dann wird es ganz wild!). Ich bewegte meine Lippen und versuchte, hinter die Logik zu kommen, zu verstehen, ob ich wahnsinnig war oder genial. Ich versuchte sogar (aus Panik, vor Stress), die Milizionäre kraft meiner Gedanken fortzuspülen, mit einer weiteren Woge meiner gedanklichen Wirklichkeitsverfremdung, den abgerungenen Rosenbaum am fünften Tage auferstehen zu lassen (besser am dritten, dann würde Lada ihn, den auf dem Verwahrplatz gekreuzigten, zum Werbeträger machen: Der Erlöser ist da!)
Aber die Bullen verschwanden nicht, im Gegenteil, mit der Geschwindigkeit eines das Flachwasser durchkämmenden Haifischs kam der Pajero in den Hof gefahren, der den wiederauferstandenen Rosenbaum umgebracht hatte. Der rundgesichtige Sumotori stieg aus, kniff verwundert die Augen zusammen, entdeckte mich hinterm Steuer (er wunderte sich auch? Hatte er auch angenommen, der Rosenbaum gehörte in die Leichenhalle, in unsere Erinnerung? Dachte er auch an Halluzination? Oder sind diese Typen weniger reflexiv veranlagt?) und knüpfte ein Gespräch mit den Ordnungshütern an. Nach der Uhr blieben noch vier Minuten. Würde ich so in U-Haft gehen, mit Dachschaden? Ohne kapiert zu haben, wo dieses Auto herkam? Ob es mein Rosenbaum war? Der Sumotori erzählte den Milizionären etwas und maß mit seinen Handflächen ein Stück Raum, das für einen Schwanz, eine Brachse oder eine Pistole hätte stehen können. Ich drehte schnell den Zündschlüssel, um mir das Gehuste anzuhören, das sich von Greis zu Greis unterscheidet, und es klang tatsächlich anders. Zu massiv, wenn auch in der richtigen Lage. Als säße ich in einem Rosenbaum mit leerer Batterie, aber diese Batterie hier war nicht runter. Das war mein Rosenbaum, fünf Jahre bevor ich ihn gekauft hatte. So wurde man also verrückt.
Dann ging der Kassettenrekorder los. Aus den Lautsprechern kam ein Rauschen. Ich drehte am Regler, der die Lautstärke natürlich nicht regelte. Aus dem Rauschen, an der Stelle, wo eigentlich schon das »polem, polem, polem …« hätte beginnen müssen, über diesem Rauschen erklang plötzlich sonderbar klar, in einer Klarheit, die ich den alten Sowjetboxen gar nicht zugetraut hätte, eine Stimme. Eine trockene Männerstimme, ähnlich der Stimme meines Super-Ichs, meiner Angst und meiner Vernunft.
»Guten Tag, Michail. (Pause.) Wir wissen, dass Sie in Schwierigkeiten sind. (Erneute Pause, diesmal länger.) Wir sind Ihre Freunde. Wir wollen Ihnen helfen. Es steht Ihnen frei, unsere Hilfe anzunehmen oder sie auszuschlagen. Im Kofferraum liegen fünfzigtausend US-Dollar. (Pause mit feierlichem Unterton.) Steigen Sie aus dem Wagen. Öffnen Sie den Kofferraum. Nehmen Sie das Geld. Wenn Sie das Geld anrühren, gehen wir davon aus, dass Sie bereit sind, unser Freund zu sein.«
Und nicht ein Wort darüber, zu welchen Konditionen mir diese fünfzigtausend überlassen werden. Nicht ein Wort darüber, wer sie waren, diese Freunde. Die Nachricht war stümperhaft verfasst, aber der wichtigste Satz – das mit den fünfzigtausend – war drin. Nichts anderes hätte ich jetzt, in diesen zwei Minuten (anderthalb nur noch, da der Sumotori die letzten Worte an die Polizisten gerichtet hatte und seine Schritte gemütlich, ohne Hast, in meine Richtung lenkte) noch gehört. Trotzdem saß ich bloß da und wartete, sagte sogar etwas (peinlich, das zuzugeben), wie ein Vollidiot, der mit dem Fernseher redet. Sagte etwas, zum Rekorder gebeugt, als hätte dieses sowjetische Riesenbaby eine eingebaute Videokamera mit Skype-Verbindung. Sagte: »Wer sind Sie?«
Und er antwortete mir, durchaus kreativ übrigens, indem er mir eine lange zerkaute Magnetbandnudel ins Gesicht spuckte, und das Band ergoss sich knisternd über den Sitz, und ich drückte auf »Stopp«, obwohl ich wusste, dass »Stopp« nicht funktionierte. Der Kopf knirschte gegen die Kassette und zerbröselte sie (offenbar hatten sie das Gerät ein bisschen bearbeitet). Das ließ sich natürlich alles aufsammeln, aufwickeln, zusammenflicken, rekonstruieren und nachhören (nur in den frühen Filmen der Coen-Brüder schmeißen die Detektive Kassetten mit Bandsalat gleich in den Müll).
Aber wozu? Wozu, wo doch eh alles klar war: Freunde, Kofferraum, fünfzigtausend. Und der Sumotori noch zehn Meter entfernt. Sein Gesicht schon in einem breiten Shar-Pei-Lächeln schwimmend. Ich stieg hastig aus, bekam den Schlüssel nicht gleich ins runde Schloss, drehte ihn, riss die Klappe hoch und – reingefallen! Reingefallen! Der letzte Scherz des Pjotr Wikentjewitsch, oder was? Erst der Hoffnungsschimmer, der dich bald in den Wahnsinn treibt, und dann gleich der Genickbruch?
Ich hatte den gerippten Koffer mit Handschelle am Griff erwartet. Die stabile schwarze Plastiktüte. Den Kopierpapierkarton. Jedes denkbare Behältnis zur Aufbewahrung von Geld, das wir aus den Medien kennen. Aber im Kofferraum lagen auf einer leicht verschmutzten Gummimatte (genau wie seinerzeit in meinem Rosenbaum) ein kahler Ersatzreifen, ein in Kunstleder eingeschlagener Satz Schlüssel, ein rostiger Wagenheber und ein Verbandskasten.
Halt, Sekunde.
Die Instinkte meiner jugendlichen Shooter-Vergangenheit sprangen an (der Sumotori schnaufte schon neben mir, damit ich ihn schneller bemerkte). Der Verbandskasten bringt Minimum zwanzig Healthpunkte. Das rote Kreuz bedeutet, du kannst noch ein paar Monster abknallen, so war das von Doom über Heretic, wo schon die violetten Kolben diese Funktion übernommen hatten, dann in Hexen und so weiter. Duke Nukem, Half-Life – der Verbandskasten hatte Eingang gefunden in unsere Kultur des Wartens auf erlösende Hilfe. Man musste kein Semiotiker sein für diese simple, auf die grundsätzliche Tragik der Situation zugeschnittene Semiose.
Ich holte das dünnwandige Plastikgehäuse heraus, klickte die Schnallen auf (und wunderte mich schon über das Gewicht – der Koffer sollte anders in der Hand liegen, nicht so angenehm schwer, da waren doch nur drei Schachteln Tabletten, Stauschlauch und Spritze drin). Der Deckel flog von alleine auf, unter dem Druck der hineingestopften Bündel: fünf identische Packen, kreuzweise gebündelt, mit Banderolen mit Emblem und Siegel der Außenhandelsbank. Fünfmal zehntausend Dollar. Erstaunt, wie wenig Platz dieser Reichtum brauchte, wie knackig kompakt sich eine halbe Moskauer Wohnung im Verbandskasten einquartieren ließ, hielt ich die Zaubertruhe mit dem erlösenden roten Kreuz meinem Peiniger hin.
Er zog ein Bündel heraus, bog es hin und her, als sei es ein Barsch oder eine Rotfeder, besah sich die Kanten, fuhr sie mit dem Nagel ab, um sicherzustellen, dass das hier kein Spielgeld war, sondern alle Scheine echt. Er sah irritiert aus, köstlich irritiert, zu schön war diese Irritation anzusehen, während er schnaufend die Bündel in seine Jacketttaschen stopfte und schließlich, ausgestopft, die Achseln zuckte. Nach kurzer Besinnungspause wusste er dann doch wieder etwas zu sagen: »Du hast echt den Arsch auf! Fünfzig Tacken in so einem Schrotthaufen liegen lassen. Und wenn sie den geknackt hätten?«
Ich konnte nichts antworten. Mir fehlten die Worte. Die Gedanken. Der Sarkasmus. Die Angst war mir auch vergangen, da war nur noch das leere Plastik des Verbandskastens. Und du winktest von oben, hieltest den Daumen hoch, super, Spitzenidee von mir, den Rosenbaum heimlich reparieren zu lassen und dich damit zu überraschen. Ich öffnete noch einmal kurz die Fahrertür, kratzte die langen Magnetbandzotteln zusammen, zerrte die Überreste der Kassette an den Haaren aus dem Rekorder und warf das Ganze auf den nächsten überfüllten Mülleimer.
Die Miliz war weg. Der Pajero preschte davon. Da war nichts, alles frei erfunden. Du empfingst mich, die Hände in die Hüften gestemmt mit den Worten: »Und wo ist jetzt die Milch?«, und ich wunderte mich noch, dass ich angesichts dieser magischen Geschichte nicht plötzlich eine Milchtüte in der Hand hielt.
Wir schauten einen Film, ich sprang ab und zu auf und schaute in den Hof, um festzustellen, dass der Rosenbaum noch dastand, er war nicht verschwunden. Also hatte ich die Wirklichkeit um mich herum wirklich mustergültig verändert. Nein, Scherz beiseite, ich hielt Ausschau nach meinen geheimnisvollen »Freunden« und überlegte, womit ich die geschenkten fünfzigtausend wohl würde bezahlen müssen. Aber im Hof waren nur die alten Weibsen, die Katzen und unsere klebrige Olja. Und plötzlich konnte ich glauben, dass es so zugehen kann in der Welt, dass dir jemand, zack, einfach so einen Haufen Geld gibt. Einfach, weil du dringend darauf angewiesen bist. Er gibt es dir, ohne etwas dafür zu verlangen.
Wir waren ja in Moskau. Der Stadt, die nichts mehr überraschen kann. Der Stadt, in der Millionen vor mir gedacht haben, sie würden alle fertigmachen, würden die Welt kraft ihres Bewusstseins aus den Angeln heben, die Zeit anhalten – und sie haben es tatsächlich getan. Aber dann sind sie gestorben. Wo einst mancher Welt-aus-den-Angeln-Heber im schneeweißen Mezzanin mit Blick auf den Flieder seinen abendlichen Tee mit Bergamotte trank, werden heute schmutzige Laster betankt. Und die Stadt zuckt gleichmütig die Achseln. Wie viele ihr wart, meine Lieben! Und wie viele noch kommen werden! Auf, messt euch! Greift nach den Sternen! Setzt neue Sternbilder aus ihnen zusammen! Haltet die Zeit an! Mir ist alles gleich. Ich habe schon alle Gedanken durchdacht, die ihr für neu haltet. Ich kann nur lachen über eure Lieder, in denen »ganz Moskau glihihitzert«. Ich war hier und werde noch sein, wenn ihr nicht mehr seid. Ich bin ewig. Deshalb kann ich mir ein paar billige Wunder leisten.