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Keiner wird erwachsen
ОглавлениеMein Sohn will mit seiner Freundin nach Usedom. Er ist noch der Meinung, die Eltern sollen gefragt werden. Von der Idee sind wir nicht begeistert. Unser Sohn ist 15. Das Mädchen ist zwei Jahre älter. Wir möchten absagen, suchen nach Einwänden bzw. Vorwänden. Überlegungen von der Art: „Du bist zu jung“ gehen nicht mehr. Er meint, alt genug zu sein. Das Gegenteil können wir ihm nicht beweisen.
Er raucht bereits. Danach hat er uns nicht gefragt. Das ist cool und verbindet. Mit wem ihn die Zigarette verbindet und mit welchen Folgen ist für ihn bis zum ersten Hautarztbesuch unwesentlich. Ich habe ihn gefragt, ob er auch kiffen würde, in seiner Klasse ist das gang und gäbe. Er sagt, das sei nur eine Frage der Zeit.
Zumindest ist er offen. Er hat keine Angst, für schlimme Gedanken bestraft (in dem Fall angeschrieen) zu werden. Er ist eben erwachsen. Vielleicht erwachsener als ich. Ich selber bin oftmals ein Kind und gucke vergnügt mit meiner Tochter den Sandmann.
Schon immer fühlte ich mich als kleines Kind und suchte fortwährend nach Wärme und Geborgenheit, ich verstand jeden Tag meines Lebens als Vorbereitung auf das Leben als solches; das was vorher war, betrachtete ich als Skizze, Schmierblatt, das richtige echte Erwachsenenleben wird erst später eintreten, dachte ich... Manchmal nur, unter großer geistiger Anstrengung kann ich dieses langhaarige und muskulöse Räuchermännlein als meinen leiblichen Sohn akzeptieren. Ich bin selbst noch ein Kind. Man wird nie erwachsen und alt, deshalb hat man Angst vor dem Tod.
...Der Böse in der Familie bin ich. Ich erlaube meinem Kind wegzufahren. Mit einer Auflage übrigens: das Geld muss er selber hinlegen.
Ich bin gemein. Das ist ein Schlag unter die Gürtellinie: er hat kein Geld. Das weiß ich auch. Woher denn? Er ist noch zu klein, um Geld zu verdienen.
Ich sehe die Augen voller Tränen. Aber ich bin stur und unbeugsam. Ich bin erwachsen, ich entscheide, was gut und was schlecht für mein Sohn ist. KV. Klare Verhältnisse. Er geht in sein Zimmer und macht laut Musik. Ich denke, er macht das, um mich zu ärgern. Die Musik ist von der Sorte, die ich lieber im Stummfilm erleben würde.
Mein Herz tut mir weh. Und das schon seit langem. Ich möchte nur Gutes für meinen Sohn. Ich bin erwachsen und vernünftig, er ist unerwachsen und deshalb unvernünftig. Ich lese alle Packungsbeilagen und frage den Arzt oder Apotheker, und er ist nicht mal in der Lage, dem EU-Gesundheitsminister zuzuhören. Ich weiß bestens, wo das Glück meines Sohnes liegt. Ich bin sein Lenin und sein Stalin gleichzeitig, die auch bloß ein unvernünftiges und unerwachsenes Volk zum Glück bringen wollten. Das Volk hat dabei ebenfalls geweint, aber das hat dem Volk nicht geholfen. Sein Stück vom Glück zwang man ihm in den Rachen. Die daran erstickt sind, sind selber Schuld.
Am Morgen gehe ich aus dem Haus und verstehe, warum ich auf meinen Sohn so wütend war. Mein Auto steht mit halbem Rad auf dem Fußweg und unter dem Scheibenwischer verabschieden sich meine 20 Euro von mir. Ich bin böse zu meinem Sohn, weil ich selber wie Dreck von den vernünftigen und erwachsenen Oberen behandelt werde. Das heißt Demokratie. Die ganze Demokratie ist darauf aufgebaut, dass es die professionelle Erwachsene gibt, die besser wissen, wo es bei mir, Halbwüchsigen, lang gehen soll. Sie wissen, welche Fächer und wie lange ich studieren muss, sie schreiben vor, ab wann man die Pille nehmen darf und was ich für Gut und Böse halten muss. Sie sagen mir sogar, wann ich mich erwachsen zählen darf und wie viel ich für den Kosovo-Einsatz und für ihre eigenen Diäten am Monatsende rausrücken soll. Ich denke, die Erwachsenen oben interessiert überhaupt nicht, ob ich schon mannbar oder noch unreif bin. Ich bin nur eine Nummer für sie - in der Steuerbehörde, im Krankenhaus, bei der Bank und auf der Hardthöhe, bei der Polizei und im Telefonbuch, bei Beate Uhse und im zähfließenden Verkehr, im Schuhladen und bei der Post. Nur die Unterschrift zählt. Alles andere - Geist, Seele, Atem, Sinn, Verstand, Begabung, Weltanschauung, Denkart, Glauben - interessiert sie nicht. Verzeihung, den Glauben muss man aus dieser Liste streichen - die Kirchensteuer habe ich vergessen.
Mit kleinen Schikanen machen die erwachsenen Brüder mich unmündig. Was kann ich über die Schreibweise von Thomas Mann sagen, wenn meine Straße nicht gekehrt ist? Welche Menschenrechte hat meine Frau, wenn sie ihre Weißglasflasche in den Plastecontainer geworfen hat?
Die ganze Menschheit, abgesehen von Tausend Jahren Zivilisation, scheint auch noch nicht aus den Kinderschuhen raus. Sie ist naiv, wie ein Kind in dem Glauben, dass es Politiker gibt, die für ihr Bestes kämpfen. Wie ein Kind verträgt das Volk die Beleidigungen sehr schmerzhaft, aber es vergisst auch schnell und ist nicht nachtragend. Es lässt sich übern Tisch ziehen und an der Nase herumführen, es glaubt an Gott und vertraut den Parteien, es ist faul, wenn es nicht gepeitscht wird, und das Zuckerbrot lässt es durch Sacharin ersetzen. Es weint bitterlich, wenn ihm die Puppe abhanden kommt und merkt kaum, wenn die Mutter ihre tuberkulosegeplagte Lungen stückchenweiße ins Taschentuch speit.
Wir alle sind wie die Kinder sehr schlau, wenn es um uns höchstpersönlich geht, und hartgesotten den anderen gegenüber. Die Menschen kommen sich besonders gerissen vor, wenn sie versuchen, die Natur zu überlisten, die wie eine aufmerksame Mutter alle Fehler bemerkt, doch nicht über alle Dummheiten mit uns redet. Sie glaubt, wir werden erwachsen und kapieren es selbst. Welch ein Irrtum! Wie die Kinder, sehen wir nur bis zur Nasenspitze und nicht weiter, der morgige Tag wird dem Morgen überlassen, und die Weisheit „Kommt Zeit, kommt Rat“ stammt aus der unbeholfenen kindlichen Machtlosigkeit, dem uns aus dem Konzept bringenden Etwas ein Vernünftiges entgegen zu setzen.
Im Leben gibt es kein Erwachsenwerden, es gibt keinen Prozess, keine Entwicklung. Einige werden als Erwachsene geboren und andere Grauhaarige sterben als Dreikäsehoch.
Was ist da erstaunlich?
Rauchen gefährdet meine Gesundheit und Trinken ist nicht eben förderlich für die Leber, Fett steigert Cholesterin, Fernsehen Hämoglobin, im Obst sind Pestizide und im Fleisch BSE, von der Sonne kommt der Hautkrebs, von der Kälte Schnupfen, von Pollen Allergie, aber mit der Gasmaske auf der Wiese sieht man auch bescheuert. Unvernünftiges Verhalten wird als Infantilismus abgestempelt, ernstes führt unausweichlich zum Herzinfarkt. „Was man mit dem Menschen auch anstellt, er kriecht beflissen in Richtung Friedhof.“ Letzteres ist übrigens ein Zitat.
Wie viel ist mir bis zum Ende meiner Kindheit noch geblieben: zehn Jahre oder gar zwanzig?
...Ich gehe zu meinem Sohn und bitte ihn um Erlaubnis, heute nach Mitternacht angetrunken nach Hause zu kommen. Er blinzelt mich empört an und denkt, ich nehme ihn auf den Arm.
Ach Junge, Junge...