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Ein verkehrtes Märchen darüber, wie die Brüder Grimm alles verwechselten

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"Es waren einmal die Zwillinge Pit und Pat. Seltsamerweise konnte die Mutter sie unterscheiden, doch der Vater, der ständig auf Arbeit war und zu Hause vor dem Fernseher hockte, verwechselte seine Kinder manchmal, und das war ihm etwas peinlich.

Die Kinder trugen gleiche Hemden und Hosen, gingen zusammen in die Schule, liebten beide Makkaroni mit Tomatenketchup und dieselben Computerspiele...

Eines unterschied sie allerdings voneinander: Pit war barmherzig und gutmütig, Pat hart und lasterhaft. Aber das steht nicht im Gesicht geschrieben.

Die Eltern sorgten dafür, dass zwischen den Kindern alles gerecht verteilt wurde. Nur weil sie ihnen nicht einen zweiten Computer kaufen konnten, spielte immer zuerst Pat, und wenn die Zeit dazu langte, auch Pit. Pit war immer bereit, seinem Bruder den Platz vor dem Bildschirm zu räumen, auch wenn er gerade mitten im Spiel war. Pat setzte sich ganz selbstverständlich und spielte weiter.

Eigentlich lebten die Brüder sehr friedlich. Wenn sie sich aber manchmal zankten und verprügelten, wie es wohl fast alle Geschwister in einem bestimmten Alter tun, behielt Pat immer die Oberhand. Nicht, weil er kräftiger war, sondern weil er Pit im entscheidenden Moment in den Finger biß oder an den Haaren zog oder gar ins Gesicht spuckte. Pit weinte, aber erzählte den Eltern nichts davon, weil ihm Pat einredete, dass das mieses Petzen wäre.

Als sie in die Schule kamen, waren sie gleich gut in allen Fächern. Aber weil Pit oft nachdenklich war, und das manchem etwas Böses zu sein schien, bekam Pit den Spitznamen „Fiesi“. Pat dagegen nannte man „Fröhli“, weil er mehr lächelte. Besonders gut lachen konnte Fröhli, wenn er dem Fiesi ein Bein stellte. Einfach so, aus Spaß.

Auch in der Nachschulzeit war einer so fleißig wie der andere. Besonders gut waren sie im Malen. Jeder malte auf seine Weise, wählte andere Farben, doch die Bilder wurden stets gleich meisterlich.

Einmal kam es zum Malwettbewerb. Tage und Nächte saßen Pit und Pat und gestalteten ihre Bilder. Nachdem sie fertig waren, packten sie ihre Bilder ein und gingen zu Bett. Am nächsten Morgen, als sie ihre Arbeiten in die Schule brachten und der Wettbewerbskommission zeigen wollten, entdeckte Pit, dass auf seinem Bild große Kriksel-Kraksel-Kleckse aufgetaucht waren. Er wollte sich nicht blamieren und zeigte sein Bild nicht. Eine Woche später brachte Pat die goldene Urkunde nach Hause.

Es gab auch noch schwierigere Situationen in der Familie. Wie ihr wißt, versucht jedes Kind mal zu rauchen, obwohl das ganz ekelhaft schmeckt und man danach so aus dem Mund riecht, als ob man einen Aschenbecher verschluckt hätte. Eines Tages war es auch für Pit und Pat beschlossene Sache, das Rauchen auszuprobieren. Sie kauften von ihrem Taschengeld Zigaretten, zündeten sie an und pafften ein- oder zweimal... Das war, sage ich euch, unappetitlich. Die Lust aufs Rauchen war ihnen vergangen, sollten sie aber nun die teuren Zigaretten einfach wegwerfen? Dazu waren sie ihnen doch zu schade, und sie versteckten die Glimmstängel.

Pech, dass gerade mal einen Tag später der Vater etwas im Schuppen zu finden versuchte und die Zigarettenschachtel entdeckte! Beide Kinder wurden zum Gespräch geladen.

Pat erklärte leichthin, dass er mit diesen Zigaretten nichts zu tun hätte und sie womöglich Pit gehörten. Pit sah Pat verzweifelt an und ...nickte. Wäre die Mutter an Vaters Stelle gewesen, hätte sie diesen gequälten Blick natürlich bemerkt. Vater aber blieb ahnungslos. In Gedanken war er bei dem Spülautomaten, den sich die Familie demnächst anschaffen wollte.

Die Kinder wuchsen heran. Sie gingen auch ganz unterschiedliche Lebenswege: während Pit mit einem Hilfstransport gegen den Hunger in Afrika unterwegs war, hatte Pat eine Arbeit gefunden, die er ungern tat, aber die ihm viel Geld einbrachte.

Immer öfter hatte Pit Pech. Einmal wollte er einem Mädchen helfen, das von drei bösen Jungs in der Nacht überfallen wurde. Er konnte sich gegen die drei nicht wehren. Sie knüppelten ihn krankenhausreif und brachen ihm einen Arm. Das Mädchen jedoch entkam. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, konnte er den Arm nicht mehr bewegen. Deshalb wurde er von seiner Arbeit auf dem Bau entlassen - verständlich, auf dem Bau braucht man eben nur gesunde Leute.

Mit einem Arm konnte er nicht viel Geld verdienen. Und wenn das Geld weder vorn noch hinten reicht, wird man launisch. Deshalb stritt er sich mit seiner Frau immer häufiger, bis er wegging.

Als er starb, besaß er keine Wohnung mehr, und wo er begraben ist, wissen allein die Wolken, die ihn beweinten.

Sein Bruder Pat wurde immer reicher, weil er nicht nur seinem Bruder in der Kindheit, sondern auch anderen Menschen gern Beine stellte. Im Leben ist es so: wenn einer stolpert, ist der andere prompt oben.

Reiche Leute sind im Leben auch viel wichtiger als arme, das wissen wir. Deshalb kamen, als der Pat starb (und irgendwann einmal müssen alle Leute sterben), viele Trauergäste zur Beisetzung. Ja man las auch ein Beileidstelegramm des Königs vor. Womöglich war es auch gar nicht vom König, dann eben von seinem Kanzler.

Auf der Begräbnisfeier war ich auch dabei, habe dort Honig getrunken, der floß mir den Bart entlang und kein Tropfen in den Mund gelang.“

Ein schlechtes Märchen?

Mir selbst gefällt es auch nicht, aber nicht alle Märchen können, wie bei den Brüdern Grimm, gut ausgehen. Du erinnerst Dich: ein Wolf fraß ein Mädchen und seine Oma auf (welches Märchen ist das?). Dann kam ein Jäger, tötete den Wolf und ließ beide Bauchgefangene frei.

Und wenn der Jäger nicht gekommen wäre? Oder der faule Wolf nach dem Essen nicht in der Stube eingeschlafen, sondern in sein Versteck geschlichen wäre? Immerhin hatte er vorher viele Lämmer gefressen, und kein Jäger hatte ihn danach erwischt.

Oder warum stirbt die Mutter, die ihre Kinder in den dunklen Wald brachte, damit sie dort umkämen, bevor die Kinder (wie heißen sie, weißt Du es?) glücklich, mit Taschen voller Diamanten, nach Hause zurückkehrten? Warum bleibt der gutmütige Vater gesund und munter? Kannst Du Dir vorstellen, die Geschwister bleiben am Leben, bringen Reichtümer nach Hause, und der Vater ist tot, die böse Mutter jedoch lebt weiter?

Warum hatte das tapfere Schneiderlein einen Vogel parat, als er dem Riesen begegnete (was hat das Schneiderlein eigentlich mit dem Vogel gemacht)? Läuft man im wirklichen Leben immer mit einem Zoo in der Tasche herum?

So viele Fragen haben wir gestellt und keine Antwort gefunden, weil es keine Antwort gibt: im Leben ist wirklich vieles anders als in den Geschichten. Vielleicht sagt man deshalb, wenn jemand Unwahrheiten schildert: “Erzähl mir bloß keine Märchen!“

Wir leben eben nicht im Schlaraffenland. Das Gute siegt nicht immer in Wirklichkeit. Manchmal behält das Böse die Oberhand. Das ist meine Erfahrung.

Und wenn Du tatsächlich einmal das Böse triffst, wüsstest Du schon jetzt, wie Du dem Guten helfen kannst?

... Frage ich mich.

Briefbombe

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