Читать книгу Tattoos & Tequila - Vince Neil - Страница 4

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Ein nachtschwarzer Lamborghini Gallardo Spyder gleitet mit schnurrendem Motor auf den Parkplatz von Feelgoods Rock Bar & Grill, ein gutes Stück abseits des Strip in Las Vegas. Über die Sahara Avenue rauscht wie üblich zur Mittagszeit viel Verkehr, und acht Kilometer südöstlich ist die Skyline von Sin City zu sehen, die sich wie eine Fata Morgana über die zersiedelte Landschaft erhebt. Wir befinden uns in einem gesichtslosen Vorort im westlichen Teil der Stadt, wo Einkaufszentren, Neubaugebiete und Schulen in direkter Nähe von Massagesalons, Headshops und Spielhallen liegen. Über dieser Kulisse wölbt sich ein blauer Himmel wie gemalt; schneebedeckt und schroff ragen die Spitzen der Berge in der Ferne auf und leuchten im hellen, dünnen Winterlicht.

Es ist Dezember und ziemlich kühl. Weihnachten steht vor der Tür. Hier und da haben sich einige Leute die Mühe gemacht, ihre Palmen mit Leinensäcken zu umwickeln. Laut unserem Zeitplan sind wir schon einen Tag in Verzug. Tag eins war gestern, und da gab es drei abgesagte Verabredungen. Die ganze Sache fängt richtig rock’n’roll-mäßig an – der Star lässt sich nicht blicken, die Manager und Agenten sind eilig bemüht, noch einen Ausweichtermin zu organisieren, die Spesenausgaben schnellen in die Höhe und die ohnehin schon viel zu kurze Zeit bis zum Abgabetermin verrinnt … Natürlich wird immer wieder versichert: Wir versuchen, diese tolle Sache irgendwie zum Laufen zu kriegen. Wir haben ja schon endlos drüber geredet. Es fehlt ja nur noch unser Star.

Und jetzt hat gerade jemand auf Reset gedrückt.

Es ist Dienstag.

Klappe, die zweite.

Der Star kommt zu unserer Verabredung am Mittag eine Viertelstunde zu früh.

„Dafür ist er berüchtigt“, hatte mir schon gestern sein Management gesagt, als er unser Treffen gerade nach hinten verschoben hatte. „Du solltest unbedingt auch früh erscheinen. Er hasst es, wenn die Leute zu spät kommen.“

Er ist dafür berüchtigt, zu früh zu kommen …

… wenn er beschlossen hat, dass er überhaupt kommt.

So sollte dieser Satz wohl lauten.

Kleine Korrekturen wie diese, das stelle ich in den folgenden Monaten fest, sind an vielen Stellen nötig, wenn man das Leben eines anderen aufschreiben soll. (Nicht, dass ich etwas anderes erwartet hätte.) Wir haben alle unsere Rollen. Und es ist gut, wenn man sich seiner eigenen bewusst ist.

Ein eleganter italienischer Zweisitzer bremst in schrägem Winkel auf einem schraffierten Feld, hinter dem ein Schild mit der Aufschrift „nur für Motorräder“ aufragt: 512 PS, Nummernschild mit personalisierter TATUUD-Buchstabenkombi, schwarze Ledersitze mit gelber Stickerei, passend zu den gelben Bremssatteln, und ein einsamer Dosenhalter, den sich seine vierte Frau gewünscht hat („Man sollte für eine Viertelmillion Dollar doch wohl einen Dosenhalter erwarten können“, hat sie gesagt.)

Nach einem Augenblick öffnet sich die Fahrertür. Als erstes wird ein abgewetzter UGG-Stiefel aus Kalbsleder sichtbar, dann ein Bein in trendgerecht zerrissener Jeans. Durch die größeren Risse blitzt ein muskulöser Oberschenkel – zu seinen besten Zeiten füllte niemand eine Spandexhose mit Leopardenmuster so gut aus wie er. Eine Hand greift nach der Türfüllung – der Wagen ist schließlich sehr tief gelegt. Um das Handgelenk schlingt sich eine Dunamis-Armbanduhr aus Platin mit 40-karätigen Diamanten. Im übergroßen Sichtglas schwebt ein Totenkopf herum. Eine Spielerei im Wert von 300.000 Dollar, von der es weltweit nur fünf Exemplare gibt, wie er später erzählt. Ein Fakt, der sich schwer überprüfen lässt.

Mit etwas Mühe hievt er sich hinaus und richtet sich auf, und nun sehe ich ihn zum ersten Mal vor mir, unverkennbar nach 30 Jahren im Rampenlicht.

Vince Neil Wharton – früher bekannt für seine toupierte Haarspray-Frisur und die durchdringende Kreischstimme, das Gesicht des Macho-Glamrocks der Achtziger, der Frontmann von Mötley Crüe.

Inzwischen ist er 48, ein Mann im dritten Lebensabschnitt, etwas gedrungener als erwartet und auch kleiner – 77 Kilo auf 175 Zentimeter. Er trägt einen stoppligen Kinnbart, dünn und mit grauen Strähnen, und lächelt entspannt – vor allem dann, wenn die Menschen ihn beachten. Seinen rechten oberen Schneidezahn schmückt ein kleiner Diamant, eingebettet in eine Reihe perlweißer Kronen, oben wie unten; in der Dunkelheit eines Rock-Clubs funkelt der Stein.

Mit seinen Drogen- und Alkoholexzessen ist er ebenso in die Rockgeschichte eingegangen wie mit den hohen Absätzen, dem Make-up und den ärmellosen Glitzer-T-Shirts, die ihn Anfang der Achtziger zum androgynen Sexsymbol machten. Heute ist Vince Neil ein gesetzter Mann mittleren Alters. Einen Teil des Jahres verbringt er in Las Vegas, den anderen im Norden Kaliforniens, woher seine Frau stammt. Er hat schon „Geld, aber nicht scheißegal viel Geld“, wie er gern sagt. Oft weist er darauf hin, dass man in einer Band wesentlich weniger verdient als solo. (Und dass von diesem Geld die Agenten, Anwälte, Manager und Steuerberater rund 30 Prozent abschöpfen.) Vince ist nicht nur Rocksänger, er ist auch Geschäftsmann, der sich an verschiedenen Fronten engagiert. Da ist zum einen Tres Rios Tequila, ein Unternehmen, das im mexikanischen Guadalajara Tequila der Extraklasse produziert. Bei Vince Neil Aviation kann man echte Rockstar-Jets chartern – komplett mit Leopardenfellen und dunkelroter Samtausstattung, wie man sich das eben vorstellt. Vince Neil Ink, ein nobles Tattoo-Studio mit Boutique, ist gleich zweimal auf dem Strip in Las Vegas vertreten. Er liebt exotische Sportwagen und Uhren, hat eine ganze Garage voller alter Poster und Kostüme, von denen er einzelne Exemplare an die Restaurantkette Hard Rock Café verkauft hat … und einen ganzen Haufen Gitarren, die ihm ständig von den Instrumentenherstellern geschickt werden, obwohl er in seinem Repertoire lediglich zwei Titel hat, bei denen er dieses Instrument überhaupt spielt – einen Solo-Song, einen von Mötley Crüe. Der Löwenanteil seines Einkommens stammt noch immer aus der Arbeit mit der Band, die in drei Jahrzehnten 80 Millionen Alben umgesetzt hat. (Mötley Crüe verkaufen sich immer noch gut, obwohl sie keine neuen Songs mehr geschrieben haben, seit 2008 Saints Of Los Angeles erschien, eine Art musikalische Autobiografie der Bandmitglieder und ihr vermutlich bestes Werk seit Jahren – zudem das einzige der jüngeren Zeit, das neue Original-Songs enthält.)

Anstatt eines Spandex-Oberteils trägt Vince ein T-Shirt von Vince Neil Ink mit ausgerissenem Halsausschnitt. Da ich ihm während unserer Zusammenarbeit bei vier weiteren Treffen in zwei verschiedenen Städten in diesem Shirt begegne, ist zu vermuten, dass die ausgefranste Kante Absicht ist. Ein pelzgesäumtes Kapuzenshirt spannt sich über einem kleinen Bauch, wenn er sich streckt, um die Falten glatt zu ziehen. Sein einst so wild toupiertes Haar wird inzwischen regelmäßig in seinem Lieblingsfriseursalon auf dem Strip in Form gebracht. Dort hat man es dunkelblond auf Netter-Junge-von-nebenan gefärbt, mit honigfarbenen Strähnchen versehen, geglättet und mittels der neuesten Technik zu seidiger Vollendung getrimmt; eine wirklich rockstarwürdige Frisur. Der Zahn der Zeit nagt lediglich am leicht zurückgehenden Haaransatz. Eine goldeingefasste Chanel-Sonnenbrille versteckt die nussbraunen Augen.

Der Gedanke an Vince lässt drei Bilder vor meinem geistigen Auge erscheinen. Eines davon ist der Vince von heute, den ich gerade beschrieben habe, wie er aus seinem Sportwagen aussteigt. Das zweite ist der Vince vom Cover des (wiederveröffentlichten) zweiten Mötley-Albums Shout At The Devil: Wie könnte man diese Augen vergessen, mit diesem gleichermaßen verletzlichen wie völlig geistesabwesenden Ausdruck? Ebenso einprägsam ist das dritte: Sein straff in Leder verpackter Schritt auf dem Cover des Mötley-Debüts Too Fast For Love, auf dem er den linken Daumen mit leichtem Druck an seinen sich deutlich abzeichnenden Penis legt.

Beim Lesen dieses Buches wäre es sicher nicht verkehrt, das zweite Bild im Kopf zu haben. (Wobei ich sicher bin, dass auch das dritte sich des Öfteren aufdrängen wird; schließlich hat Vince einen großen Teil seiner gesammelten wachen Minuten auf diesem Planeten damit verbracht, sich sexuell auszutoben.) Jenes Foto entstand, als Mötley Crüe 1983 auf der ersten großen Erfolgswelle schwammen, als die Band einem postapokalyptischen Stil frönte, der stark von Filmen wie Mad Max und Die Klapperschlange beeinflusst war. Mit seinen hohen Wangenknochen und den vollen Lippen, die er seinen teils mexikanischen, teils indianischen Vorfahren verdankt, war Vince die ideale Verkörperung der Goldenen Generation des Neuen Westens. Ein Hauch James Dean, ein Hauch Tony Hawk, ein Hauch Jeff Spicoli, dem coolen Surfer aus der Komödie Ich glaub, ich steh im Wald – Vince war die männliche Ausgabe des sonnengebräunten California Girls.

Man stelle sich einmal vor, wie es gewesen sein muss, dieser Mann zu sein – ein Rockstar, reich, verdammt gut aussehend, der in einem Privatjet zu einer Zeit durch die Welt gondelte, als es noch kein Aids gab, als Kokain, Quaaludes, Jack Daniel’s und wilder einvernehmlicher Sex die ganz normale abendliche Unterhaltung darstellten, so wie heute Karaoke. Selbst im konservativen Mittelwesten feierten die Leute wie die Rockstars. Vince musste einem Ruf gerecht werden und nutzte das weidlich aus. Er hatte das unverschämte Glück aller schönen Menschen: Er musste sich um nichts bemühen, er brauchte nur auszusuchen. Er tat, was er wollte, ohne sich allzu viele Gedanken zu machen. Er zog über den Strip, vögelte die Mädchen im Gebüsch an der Straße und geriet in Schlägereien mit Polizeistreifen in Zivil oder mit betrunkenen Yuppie-Porschefahrern. In dem Maße, in dem es mit seiner Karriere nach oben ging, vergrößerten sich auch seine Möglichkeiten. Er fuhr Rennwagen und Rennbote. Er feierte Orgien auf Yachten in der Karibik. Er reiste um die Welt. Seine leere Jack-Daniel’s-Flasche warf er aus dem nächsten Fenster. Auch, wenn das vielleicht gerade gar nicht offen war. Nichts war ihm zu wild oder zu skandalös. Nichts verstieß gegen die Regeln, weil es keine Regeln gab. Er verdankte seine Existenz, seinen Platz im Rampenlicht dem menschlichen Bedürfnis nach Helden und Unterhaltung. Er war die Show. Exzesse wurden von ihm erwartet, und die Speichellecker, die ihn umgaben, unterstützten ihn nach Kräften oder stifteten ihn sogar noch an. Groupies standen für ihn Schlange, vor seiner Garderobe, seinem Hotelzimmer, seinem Tourbus oder hinten im Flugzeug. Groupies warteten hinter dem Schlagzeugpodest darauf, ihm während des Drum-Solos einen zu blasen – „das vermittelt vielleicht eine Vorstellung davon, was ich wirklich von diesem egozentrischen Kerl hielt“, sagte Vince später über den Mötley-Crüe-Schlagzeuger Tommy Lee. Aerosmith schrieben ihren Klassiker aus dem Jahr 1987, „Dude (Looks Like A Lady)“, nachdem Steven Tyler und Joe Perry ihn in einer Bar entdeckt und fälschlicherweise für eine heiße Braut gehalten hatten. War es ein Wunder, dass der 17-jährige Vince der erste auf seiner Highschool war, der Unterhaltszahlungen leisten musste?

Zu einem Zehntel war er der Mann mit dem größten Sex-Appeal der Welt. Zu neun Zehnteln war er eine drohende Katastrophe, die jeden Augenblick über die Welt hereinbrechen konnte.

Stell dir vor, dieser Typ wärst du selbst gewesen.

Es war ein Jahrzehnt, geprägt von Kokain, Reagans Wirtschaftpolitik, der Entdeckung von HIV und wachsendem Neofundamentalismus, und die Mötley-Crüe-Mitglieder – Gitarrist Mick Mars, Schlagzeuger Tommy Lee, Bassist Nikki Sixx und Sänger Vince Neil – setzten neue Maßstäbe, was Dekadenz, Selbstzerstörung und Exzesse aller Art anging. Sie gaben jedem Impuls nach und waren fest entschlossen, den Rock’n’Roll-Lifestyle bis zum Äußersten auszukosten. Ihr Sound basierte auf dem Hard Rock und dem Bombast von KISS, versetzt mit der androgynen, schrillen Mode des Glam, einer Portion Bubblegum-Pop und der Dreistigkeit der Punkszene von Los Angeles … großzügig angemischt mit Wimperntusche und Blut. Die Songs der Band waren nie so einprägsam wie ihre Ausstrahlung und ihre Haltung. Schnell, laut und auf Showelemente ausgelegt, aber auch voller melodischem Zuckerguss, bot ihre Musik das Bindeglied zwischen den Poser-Bands der Achtziger und der gehemmten, selbstmörderischen Grunge-Bewegung der Neunziger.

Die Crües waren fast alle im idyllischen Südkalifornien aufgewachsen, dem Land der Surfer, Skater, Garagenbands und selbstverliebten Schauläufer, und dementsprechend gab es für sie keine politische oder gesellschaftliche Agenda, die über das nächste High, die nächste Schlägerei, den nächsten Streich und die nächsten schön geformten Hinterbacken hinausging. Was Mötley Crüe jedoch von allen anderen abhob, was sie so erinnerungswürdig machte, war ihre unausgesprochene Bandphilosophie – eine aggressiv perverse Begeisterung für alle Dinge, die dunkler, fieser und hässlicher waren als alle anderen, eine amerikanische Spielart der ungehobelten, wilden Tradition des englischen Punk, eine Art Nihilismus light. Ja, sie machten Musik. Aber es war mehr als das. Sie waren die Musik. Um mit Freud zu sprechen, sie waren das reine Es. Sie taten das, was ihnen ihr Gefühl eingab, was ihnen cool erschien, und verschwendeten keinen Gedanken an die Folgen – Rebellen ohne Durchblick. Später würde Vince mir erklären: „Die Antwort auf die Frage Warum? lautete stets: Warum nicht?“

Über die Jahre brachten es Mötley Crüe auf eine vergleichsweise kleine Sammlung von Hits, die aber schnell zum Synonym für jugendliche Wildheit wurde, für Missachtung der Regeln und ein Leben ohne Angst vor möglichen Folgen, das so nahe an den Abgrund führte, wie irgend möglich. Im Laufe der Achtziger, Neunziger und der Zeit danach durchlebte die Band eine wechselvolle Karriere voller Höhe- und Tiefpunkte. Heute zählt das Werk von Mötley Crüe zum Standardvokabular des Rock und hat überall auf der Welt enorme Zugkraft. Während ich diese Zeilen schreibe, sind Vince und die anderen drei auf dem Weg nach Angeles, um dort mit den Proben für die anstehende Kanada-Tournee zu beginnen. Sie spielen immer noch zusammen, nach all den Blödeleien und Streitereien, den Höhen und Tiefen, und sie sind in der Welt des Rock auch noch immer von Bedeutung. Allerdings macht es den Anschein, als sei es inzwischen gar nicht mehr so einfach, sie alle auf ein- und dieselbe Bühne zu locken. In sämtlichen Interviews, die ich für dieses Buch führte – insgesamt mehr als 40 Stunden –, tat Vince sich damit schwer, auch nur ein nettes Wort über seine langjährigen Mitstreiter zu sagen. Von seinen Kollegen war lediglich Nikki Sixx bereit, für dieses Buch Rede und Antwort zu stehen, und er schwärmte von Vince. Verletzte Gefühle spielen in ihrem Verhältnis ganz offensichtlich eine große Rolle. Zum aktuellen Zeitpunkt sind alle vier Crüe-Mitglieder mehrfache Millionäre, obwohl es ihnen unterschiedlich gut gelungen ist, ihr Geld zusammenzuhalten. Sie alle haben es mit einer Solokarriere versucht und dabei zweifelsohne davon profitiert, sich auf die Vergangenheit mit der Band berufen zu können. Letztlich haben sie sich, wenn auch unwillig, der Erkenntnis gebeugt, dass Mötley Crüe als Ganzes größer ist als die Summe seiner Teile. Nach drei Jahrzehnten sind sie wie eine große dysfunktionale Familie: Ihre Beziehung zueinander ist geprägt von Liebe und Hass, wobei die Liebe für Uneingeweihte kaum zu erkennen ist.

Nach der Mötley-Tour wird Vince auf eine Solo-Tournee durch Mexiko, Latein- und Südamerika gehen, um sein neues Album und dieses Buch vorzustellen, die beide unter dem Titel Tattoos & Tequila erscheinen werden. Mötley Crüe haben eine ganze Reihe verschiedenster Bands beeinflusst, darunter Papa Roach, Linkin Park, Marilyn Manson, Nine Inch Nails, Moby, Slipknot und Belladonna – vor allem mit ihren ersten beiden Erfolgsalben Too Fast For Love und Shout At The Devil. Auch das Image, das Mötley Crüe in ihren Videos prägten, wurde von zahlreichen anderen Künstlern zitiert, von Beck und den Red Hot Chili Peppers bis zu New Order, Aerosmith und den Backstreet Boys. Und auch jetzt, in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, stellen Mötley Crüe für viele Rockfans nicht nur eine wunderbare Zeitmaschine, sondern ein unverzichtbares Element ihrer musikalischen Entwicklung dar. Bei Guitar Hero und Rock Band zählen ihre Songs zu denen, die etwas leichter zu spielen sind. Dank der phantastischen Zeitlosigkeit digitaler Musik, klugem Marketing und verschiedenen erfolgreichen Greatest-Hits-Zusammenstellungen entdecken immer wieder neue Musikfans ihre Liebe zu Mötley Crüe. Zu einem Konzert der Crües oder der Vince Neil Band kommen heute Zuschauer aller Altersstufen: Angejahrte Vokuhila-Träger stehen neben gesetzten Mittdreißigern, tätowierten, jungen Möchtegernrockern und kessen Rockschlampen jeden Alters, die genau wissen, dass es bei einem Mötley-Konzert dazugehört, der Band die nackten Brüste zu präsentieren.

Um die Bedeutung der Band besser einschätzen zu können, folgt an dieser Stelle eine kleine Liste ausgewählter Meilensteine: Mötley waren Gegenstand einer ganzen Reihe von Dokumentationen des Musiksenders VH1. „Dr. Feelgood“ wurde auf Platz 7 der besten Luftgitarre-Songs gewählt, „Live Wire“ kam auf Platz 17 der größten Metal-Songs aller Zeiten, und „Home Sweet Home“ erreichte Platz 12 in der Liste der größten Power-Balladen. Mötley Crüe tauchten mehrere Male in der VH1-Sendung 100 Most Metal Moments auf, und der Sender widmete ihnen eine Folge der Serie Behind The Music. In den VH1-Charts der beliebtesten Hard-Rock-Bands aller Zeiten kam die Band auf Platz 19, und sie erreichte Platz 10 in der MTV-Liste der „Top 10 Heavy Metal Bands aller Zeiten“. 2008 wählte iTunes „Saints Of Los Angeles“ zum Besten Rock-Song des Jahres, und der Titel wurde in der Kategorie Bester Hard-Rock-Auftritt für einen Grammy nominiert.

Das Leben von Vince war genauso interessant, wie eine solche Karriere vermuten lässt. Er war vier Mal verheiratet, zeugte drei Kinder und vögelte Tausende von Groupies – nach den Zahlen, die im Umlauf sind, bis zu zehn am Tag; er selbst wollte keine Schätzung abgeben. Er war mit zahlreichen prominenten Frauen liiert, darunter Porno-Queens wie Savannah und Gina Fine (gleichzeitig) und TV-Schauspielerinnen wie Tori Spelling und Shannon Doherty (nacheinander). Er hatte eine Affäre mit Christy Turlington und noch vor Tommy Lee eine Liebelei mit Pamela Anderson, die damals noch in der Sitcom Hör mal, wer da hämmert als Heimwerkerin auftrat. Seine dritte Ehefrau war die in den USA sehr bekannte und beliebte Fernsehschauspielerin Heidi Mark, eine umwerfende Frau, die gewissermaßen den Prototyp für den Großteil der Damen darstellt, die in diesem Buch erscheinen werden, und die genau seinem Beuteschema entsprach: lange blonde Haare, hübsches Gesicht, blaue Augen, implantatvergrößerte Brüste, ausgeprägte Bauchmuskeln, kleiner Hintern, lange Beine. Er war in einem Sex-Video zu sehen (bei einem Dreier mit Janine Lindemulder und Brandy Sanders, bekannt aus den Erotikstreifen von Vivid Video), wirkte selbst in verschiedenen Pornos mit (die von der Erotikfilm-Legende Ron „Hedgehog“ Jeremy gedreht wurden), hatte Affären mit Playboy-Playmates und Penthouse-Pets, konsumierte jede Droge, die ihm in die Hände fiel, in jeder erdenklichen Kombination und soff einen ganzen Ozean Alkohol. Das jedenfalls sind die Dinge, an die ich ihn während unserer Interviews erinnere. Er selbst tut das nicht unbedingt. Zumindest behauptet er das. Eine seiner Ex-Ehefrauen erklärte: „Er hat ein kristallklares Erinnerungsvermögen, wenn er will. Manchmal ist es einfach leichter zu sagen, ich weiß nicht mehr. Ihm tut vieles Leid.“

Bei unseren Treffen war Vince stets sehr höflich. Er erinnerte mich an einen Schüler, der Nachhilfeunterricht nehmen sollte – er hatte zwar eigentlich keine Lust auf unsere Sitzungen, aber irgendjemand hatte ihn wohl davon überzeugt, dass es für ihn vorteilhaft sei, dort zu erscheinen. Es kam vor, dass Football am Sonntag wichtiger war als unsere Interviewtermine. Auch sein eigens für ihn reservierter Stammplatz bei den Sportwetten im Red Rock Casino Resort & Spa hatte eine höhere Priorität als diese Autobiografie. Wenn ich ihn hinsichtlich bestimmter Fakten in die Mangel nahm – hatte er drei verschiedene Schulen in der Mittelstufe besucht oder zwei? In welchem Jahr war die Trauung mit Sharise? – wurde er manchmal sauer. Ich frage mich, ob das vielleicht daran lag, dass es ihm peinlich war oder er sich schämte. Was ist man für ein Mensch, wenn man sich nicht mehr daran erinnert, weswegen man mit 17 bei seinen Eltern ausgezogen ist? Viele Erinnerungen verloren sich im Nebel der Jahre und im Alkoholdunst. Es gibt offensichtlich einige schmerzvolle Wahrheiten, die ihn bis zum heutigen Tag verfolgen … Dinge, von denen wir ein wenig mehr erfahren, wenn wir uns durch seine Geschichte mit allen schlammigen Untiefen arbeiten.

Ein solches Leben chronologisch zu erfassen, ist schwierig: Vince hat selbst keinen Überblick, wie oft er in Entzugskliniken war oder festgenommen wurde. Aus diesem Grund lassen wir andere zu Wort kommen. Wir werden von seiner jetzigen Frau Lia hören, und von seinen drei Ex-Frauen: Beth Neil, Sharise Neil und Heidi Mark, von seinen Kindern Neil Wharton und Elle Neil, von seinen Eltern Clois Odell und Shirley Wharton, von seiner Schwester Valerie Saucer, von den Mitgliedern seiner ersten Band Rockandi, die er noch auf der Highschool gründete. Für dieses Buch wurden außerdem interviewt: Bret Michaels von Poison, der Rapper MC Hammer, der Porno-Star Ron Jeremy, der Besitzer der L.A. Lakers, Jerry Buss, und Jack Blades von Night Ranger. Gewissermaßen als Gaststar wird Nikki Sixx seine Kommentare ebenso abgeben wie einige Manager und andere Vertraute, die Vince während seiner Karriere hinter den Kulissen begleitet haben.

Auf der Bühne ist und war Vince zweifelsohne stets das Zentrum des ganzen Mötley-Zirkusses. Zwar hat er sich von den grellbunten Stretchhosen verabschiedet und auch nicht mehr den Körperbau eines griechischen Gottes, aber sein Markenzeichen, die durchdringend helle Kreischstimme, hat er noch immer nicht verloren. Nikki Sixx, der musikalische Kopf und hauptsächliche Songwriter der Band, der sich normalerweise mit Komplimenten über Vince sehr zurückhielt, nannte ihn einmal den „Quarterback von Mötley Crüe“. Zwar ist Vince als Songwriter wenig bekannt, war aber dennoch an einigen der größten Mötley-Hits beteiligt, beispielsweise an „Home Sweet Home“, „Wild Side“ und „Same Ol’ Situation“. Dass er stets ein Entertainer mit vielen verschiedenen Facetten gewesen ist, geht bei der Leichtigkeit, mit der er auf der Bühne zu Werke geht, manchmal unter; was wie unbekümmerte Wildheit aussieht, ist tatsächlich das Produkt jahrelanger Mühen und Erfahrung. Er war stets der vollendete Showman.

Abseits der Bühne hatten alle vier Mötley-Crüe-Musiker ein dramatisches Leben: Mick mit seiner ankylosierenden Spondylitis, die ihn allmählich zum Krüppel machte, und den problematischen Frauenbeziehungen, Nikki mit seinen vieldokumentierten Abhängigkeiten und Tommy, der sich mit dem Ruhm, den Frauen, eigenwilligen Frisuren und Therapien zur Aggressionsbewältigung herumschlug. Aber keiner von ihnen durchlebte solche Höhen und Tiefen wie ihr Frontmann. 1984 wurde Vince der fahrlässigen Tötung schuldig gesprochen, nachdem sein enger Freund Nicholas „Razzle“ Dingley von den Hanoi Rocks nach einer dreitägigen Drogenparty in einem Wagen starb, an dessen Steuer der fahruntüchtige Vince gesessen hatte. Bei dem Unfall wurden zudem Fahrerin und Beifahrer eines anderen Fahrzeugs schwer verletzt, die beide bleibende Schäden davontrugen. Vince zahlte 2,5 Millionen Dollar Entschädigung und kam ins Gefängnis. Einige Jahre später, nachdem er bei Mötley Crüe gefeuert worden/ausgestiegen war, saß er hilflos am Krankenbett seiner vierjährigen Tochter und musste zusehen, wie sie ihren Kampf gegen den Krebs verlor. In der Zeit danach suchte Vince sein Heil in der Flasche; heute gibt es eine Wohltätigkeitsorganisation, die den Namen seiner Tochter trägt, die Skylar Neil Foundation.

Vince wird noch immer von vielen Dämonen geplagt, von denen er sich einige, wie ich vermute, selbst nicht erklären kann. Er bezeichnet sich als „Entertainer“. Er braucht andere, die Songs schreiben, vertonen, arrangieren und umsetzen. „Ich gehe da raus und verkaufe die Songs“, sagt er. Wie viele Diven vor ihm, fühlt auch er sich abseits der Bühne artikulationsunfähig, im kalten, gnadenlosen Licht der Realität, zu der es kein Drehbuch gibt. Allein, ohne ein Publikum, ohne Gesellschaft fühlt er sich verloren und unsicher. Soviel wissen wir. Das erklärt vieles.


Als er in seinem Lamborghini vorfährt, beobachte ich ihn durch eine Tür, die man offen gelassen hat, damit der Bierdunst und Pheromongestank vom vorigen Abend aus der Bar abziehen kann. Das Feelgoods ist der Prototyp einer neuen Restaurantkette; man hofft, eines Tages in den USA 40 solcher Läden zu betreiben. Vince gehören 30 Prozent an dem Unternehmen. Sie schicken ihm gelegentlich einen Scheck. Er kann hier essen und anschreiben lassen. Das Interieur besteht aus lila Samt, Leder und Leopardenfellimitat. Eine Riesenwand von Marshall-Verstärkern überragt die eher kleine Bühne, auf der sich an mehreren Abenden in der Woche Live-Bands austoben. In Vitrinen sind einige Gitarren aus seinem Fundus zu sehen, goldene Schallplatten und der feuerfeste Anzug, den er früher bei seinen Autorennen getragen hat; auf dem Weg zu den Toiletten steht ein voll verchromter und nach allen Regeln der Kunst aufgemotzter Chopper. Über die Fernsehschirme flimmert eine Greatest-Hits-Sammlung von Rockvideos; dadurch entsteht eine ähnliche Atmosphäre wie in einer Sports Bar, mit dem einzigen Unterschied, dass hier das beherrschende Thema eben Rockmusik ist; ein Museum, das sich als Kneipe getarnt hat. Ein älteres Pärchen – er mit grauem Pferdeschwanz, sie mit tiefschwarz gefärbtem Haar, beide in Leder – sitzen in einer Nische und essen. Die Mitte des Raumes wird von einem runden Tisch beherrscht, um den sich Männer in identischen Arbeitshemden geschart haben, alle mit einem Namensaufnäher auf der Brusttasche. Einige haben sich offenbar den Mittagstisch für 6,95 Dollar bestellt, der hier als Zugeständnis an den wirtschaftlichen Abschwung seit neuestem auf der Karte steht.

Natürlich kam ich zu früh zu diesem Treffen. (Ich war allerdings auch schon am ersten Tag zu früh da gewesen.) Meine Mission: In den Kopf eines Rockstars zu klettern und daraus zu bergen, was mir in die Hände fällt – die Erinnerungen, die Sensationen, die gesammelten Erfahrungen, Sex und Drogen, phantastische Erlebnisse ebenso wie Schmerz. Die Chronik eines Lebens, das ganz im Zeichen ungezügelter Exzesse stand. Es könnte heiß und eng sein in diesem Kopf, und manchmal vielleicht auch nicht so gut riechen.

Also schnappe ich mir mein Klemmbrett und meinen DAT-Recorder (und meine süße kleine Flipcam, die, wie sich bald herausstellen wird, überhaupt nichts taugt) und treffe mich mit ihm am Eingang. Aus der Nähe betrachtet ist er noch immer ein gut aussehender Mann, der sich seine schönen Züge mittels einer Reihe von schönheitschirurgischen Eingriffen erhalten hat, von denen einige in schmerzvollem Detail 2005 in der VH1-Serie Remaking Vince Neil dokumentiert wurden. Er ist umgeben von einer angenehmen Wolke eines Lagerfeld-Parfüms, das inzwischen nicht mehr hergestellt wird, von dem er jedoch Restbestände aufgekauft und eingelagert hat. Er schüttelt mir herzlich die Hand und führt mich ins Restaurant. Mit einem Samtband ist ein kleiner VIP-Bereich abgeteilt. Vince zeigt mir stolz die vier Tische, die er speziell für diesen Club entworfen hat. Wenn man sie zusammenschiebt, ergeben sie die Form einer riesigen Gitarre. Der untere, gerundete Teil wird von einem Ledersofa eingefasst. Wir setzen uns an den Vierertisch, der den untersten Teil des Griffbretts darstellt, auf dem auf der Gitarre die höchsten Töne gespielt werden.

„Bist du bereit?“, frage ich ihn.

„Frag mich, was du willst“, erwidert er. Sein Gesicht gibt nichts preis. Seine Stimme ist dünn und ein wenig heiser. Er hat die Eigenheit, am Ende eines Satzes mit der Betonung ein wenig nach oben zu gehen; sein melodischer kalifornischer Dialekt lässt viele seiner Feststellungen wie Fragen klingen.

Mike Sager, La Jolla, Kalifornien, 3.1.2010

Tattoos & Tequila

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