Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 6 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 12

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»Wer ist der Mann da drüben, weißt du das?«, flüsterte Felicitas zu Hohenstein ihrer jüngeren Schwester Cosima zu. »Ich habe ihn noch nie gesehen, glaube ich.«

»Das ist Graf Adalbert von Brühl«, erklärte Cosima. »Ich habe vorhin jemanden danach gefragt. Die Brühls leben in Frankreich, ihr Schloss hier steht meistens leer, aber ab und zu kommen sie her und wohnen ein paar Monate oder auch nur Wochen hier. Jedenfalls wurde es mir so erzählt.«

»Das Schloss steht leer? Was für eine Verschwendung!«

»Die Brühls haben mehr Geld, als sie jemals ausgeben können, Feli, da spielt ein leer stehendes Schloss keine große Rolle.« Cosima nahm den Arm ihrer Schwester und zog sie mit sich. »Ich mag ihn nicht«, erklärte sie.

»Du kennst ihn doch gar nicht!«

»Trotzdem, bei manchen Menschen weiß man auf den ersten Blick, ob man sie mag oder nicht.«

Mehrere männliche Ballgäste drehten sich verstohlen nach den schönen blonden Schwestern um, die so in ihr Gespräch vertieft waren, dass sie ihre Umgebung vergessen zu haben schienen. Sie befanden sich auf Schloss Vermeeren, in dem Verwandte der Hohensteins lebten. Anlass des Balls war die Silberhochzeit des Grafenpaars Vermeeren.

Felicitas lachte leise. »Wenn du es genau wissen willst: ich mag ihn auch nicht. Und sein Geld kann er ruhig behalten.«

Die Hohensteins waren an Geld noch nie sonderlich interessiert gewesen, was in ihrer Verwandtschaft gelegentlich für Befremden sorgte, doch das kümmerte sie nicht. Felicitas’ und Cosimas Eltern verwalteten ihre Ländereien gewissenhaft, ansonsten engagierten sie sich sozial und unternahmen weite Reisen, soweit sie die Zeit dafür fanden. Die beiden Schwestern waren ihren Eltern zutiefst dankbar für eine glückliche und unbeschwerte Kindheit und Jugend, durch die sie beide zu jungen Frauen geworden waren, die mit beiden Beinen fest auf der Erde standen.

»Sieh mal, wer da kommt!«, sagte Cosima. »Die Sternberger – ich wusste gar nicht, dass sie auch eingeladen waren.«

Sie eilten auf Baronin Sofia von Kant und ihren Mann, Baron Friedrich, zu. Die Begrüßung fiel überaus herzlich aus. »Wie schön, euch hier zu sehen!«, rief die Baronin. »Aber wir sind eigentlich böse auf euch, Fritz und ich.«

»Böse, Sofia? Aber wieso denn?«, fragte Felicitas verwundert.

»Weil ihr uns seit langem einen Besuch versprecht, dieses Versprechen aber nie einlöst. Das ist nicht nett! Unsere Kinder fragen oft nach euch.«

»Wie geht es ihnen denn?«, erkundigte sich Cosima. »Vor allem: wie geht es Chris?«

»Er ist tapfer, Cosima. Niemand von uns kann wirklich ermessen, was es bedeutet, mit fünfzehn Jahren seine Eltern zu verlieren – ihn hat es ernster und reifer gemacht, aber er hat die Freude am Leben zum Glück nicht verloren.«

»Er hat ja auch noch euch«, warf Felicitas ein und setzte dann mit einem Lächeln hinzu: »Der kleine Fürst. Oder heißt er jetzt nicht mehr so?«

»Doch, die Leute nennen ihn noch immer so – vermutlich, bis er volljährig wird. An dem Tag übernimmt er den Titel von seinem Vater und wird der nächste Fürst von Sternberg sein.«

Eine Weile schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach. Das Fürstenpaar Elisabeth und Leopold von Sternberg war etliche Monate zuvor bei einem grauenhaften Hubschrauberunglück ums Leben gekommen und hatte seinen fünfzehnjährigen Sohn, Prinz Christian von Sternberg, als Waise zurückgelassen. Jetzt lebte Christian in der Familie seiner Tante Sofia, die ebenfalls seit langem auf Schloss Sternberg zu Hause war. Sofia und Elisabeth waren Schwestern gewesen.

»Und wie geht es Anna und Konrad?«, fragte Cosima.

»Anna und Chris sind ein Herz und eine Seele, worüber wir sehr froh sind, denn mit ihrem Bruder kam Anna ja lange Zeit nicht besonders gut aus – aber auch das bessert sich. Wir haben die Hoffnung, dass unser Konny eines Tages vielleicht sogar erwachsen wird.«

Sie lachten alle vier. »Wir waren auch keine Unschuldsengel mit sechzehn, Sofia«, meinte Felicitas. »Ich kann mich jedenfalls erinnern, dass wir unsere Eltern regelmäßig zur Verzweiflung gebracht haben. Oder, Cosi?«

Ihre Schwester nickte. »Bestimmt waren wir nicht besser als Konny – und heute sind wir doch ganz akzeptabel, oder?«

Wieder lachten sie alle. Sie blieben zusammen, bis Cosima und Felicitas einen Freund entdeckten und sich bei Sofia und Friedrich entschuldigten, um diesen zu begrüßen.

»Ich dachte schon, sie meinten den Grafen von Brühl«, raunte Sofia ihrem Mann zu und wies unauffällig auf einen großen Schwarzhaarigen, der mit selbstsicherem Lächeln an ihnen vorbeilief. »Das hätte mich allerdings sehr gewundert, er macht keinen sympathischen Eindruck.«

»Den kenne ich überhaupt nicht, die Brühls leben doch schon seit Jahrzehnten nicht mehr hier, oder?«

Sofia nickte. »Ja, aber vorhin hat ihn mir jemand gezeigt und mir gesagt, wer er ist.«

»Wirkt sehr selbstbewusst«, murmelte der Baron.

»Man könnte auch sagen: selbstgefällig«, setzte seine Frau hinzu.

Sie wechselten einen Blick, lächelten einander zu, dann mischten sie sich unter die Gäste und hielten Ausschau nach weiteren Bekannten.

Gegen Ende des Balles trafen sie die Schwestern zu Hohenstein ein weiteres Mal. »Wir fahren jetzt«, erklärte die Baronin, »aber vorher möchten wir euer Versprechen, dass ihr uns in nächster Zeit besucht. Ausreden werden nicht akzeptiert.«

»Wir versprechen unseren Besuch nicht nur, wir schwören sogar, dass wir bald kommen – nicht, Feli?«

Felicitas nickte. »Wir haben vorhin darüber gesprochen, in der zweiten Monatshälfte würde es uns beiden gut passen. Wie sieht es da bei euch aus? Wir könnten eine Woche bleiben, vielleicht sogar ein bisschen länger.«

»Aber das wäre ja wunderbar!«, rief die Baronin. »Wir sind also hiermit verabredet?«

Die Schwestern nickten nachdrücklich.

Graf Adalbert von Brühl tauchte wieder einmal in ihrer Nähe auf. Cosima unterdrückte ein leises Stöhnen. »Seit ich festgestellt habe, dass ich ihn nicht mag, scheine ich ihm ständig zu begegnen!«

Sofia drehte sich um. »Du meinst den Grafen von Brühl? Kennst du ihn denn?«

»Zum Glück nicht, er gehört nur zu den Menschen, die ich auf Anhieb nicht mochte. Kümmert euch nicht darum, ich werde ihm sicherlich nie wieder begegnen.«

»Dann also bis bald«, sagte Sofia. Sie umarmten sich zum Abschied, dann verließen Baronin und Baron von Kant den Ball.

Die Schwestern zu Hohenstein stellten fest, dass sie keine Lust mehr zum Tanzen hatten und folgten ihnen daher wenig später.

*

Prinz Christian von Sternberg, genannt »der kleine Fürst«, wachte am nächsten Morgen davon auf, dass sein junger Boxer Togo hingebungsvoll seine aus dem Bett hängende Hand leckte und leise winselte. Zuerst versuchte er noch, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und wieder einzuschlafen, doch es gelang ihm nicht, zumal Togo seine Anstrengungen, ihn zu wecken, verstärkte.

»Du nervst, Togo«, sagte der kleine Fürst, als er schließlich die Beine aus dem Bett schwang. Im selben Augenblick wurde die Tür zu seinem Zimmer geöffnet, und seine Cousine Anna erschien. Sie war zwei Jahre jünger als Christian. »Ich kann mit Togo rausgehen, wenn du willst«, bot sie an.

»Hättest du das nicht vor einer Viertelstunde tun können?«, stöhnte Christian. »Ich hätte so gern noch ein bisschen geschlafen, Anna.«

»Dann leg dich wieder hin. Komm, Togo.«

Der Boxer sah Christian vorwurfsvoll an, aber er folgte Anna. Christian ließ sich tatsächlich wieder ins Bett fallen, doch er wusste bereits, dass er nicht noch einmal einschlafen würde. Jetzt war er wach, also konnte er auch aufstehen.

Er begnügte sich mit einer Katzenwäsche, zog Jeans und ein T-Shirt an und rannte die breite Treppe nach unten.

Dort stand Eberhard Hagedorn, der langjährige Butler auf Sternberg und fragte mit einem Lächeln: »Sie haben sich also doch entschieden, Baronin Anna und Togo zu folgen, Prinz Christian?«

»Eigentlich bin ich noch müde, Herr Hagedorn – aber Togo hat mich geweckt, da kann ich die beiden auch begleiten.«

»Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen!« Langsam schloss Eberhard Hagedorn das Eingangsportal wieder, nachdem er dem kleinen Fürst­en lächelnd nachgesehen hatte.

Christian holte Anna und Togo mitten im Schlosspark ein. Der Boxer sprang begeistert an ihm hoch, bevor er laut bellend davonschoss.

»Du warst doch noch müde!«, sagte Anna erstaunt.

»Ich konnte aber nicht wieder einschlafen. Wohin wollen wir?«

»Ich dachte, wir machen eine richtige Wanderung – Mama und Papa waren doch auf dem Ball, die stehen bestimmt erst spät auf. Und damit wir unterwegs nicht verhungern, war ich in der Küche, Frau Falkner hat mir was zum Essen eingepackt.« Sie klopfte auf ihre Umhängetasche. »Wenn du nicht aufgetaucht wärst, hätte ich meine Pläne allerdings geändert. Das ganze Zeug hätte ich allein gar nicht essen können.«

Marie-Luise Falkner war die Köchin auf Schloss Sternberg – eine junge Frau, deren Kochkunst bereits im ganzen Land bekannt war.

Nun war Christian doch froh, dass er aufgestanden war. »Nach einer Wanderung bin ich bestimmt richtig wach.«

Der Schlosspark ging in seinem hinteren Teil in Wald über. Das Gelände, das zu Sternberg gehörte, war viel größer, als es auf den ers­ten Blick schien. Der Wald wurde auch von Jägern genutzt, die aber besondere Genehmigungen zum Jagen haben mussten. Es war ein sehr schöner Wald, der nicht bewirtschaftet wurde, soweit das möglich war.

Je weiter man sich vom Schloss entfernte, desto mehr ähnelte er einem Urwald, und das war so gewollt.

»Wir waren schon lange nicht mehr hier«, stellte Anna fest.

»Nur zu Pferde«, erwiderte Christian. »Aber es ist schön, mal wieder zu laufen. War eine gute Idee von dir, Anna.«

Sie liefen eine gute Stunde, dann machten sie die erste Rast, ließen sich die Leckerbissen von Marie-Luise Falkner schmecken und tranken heißen Tee dazu. Togo, der sich irgendwann hechelnd bei ihnen einfand, bekam Wasser zu trinken.

»Du hast ja wirklich an alles gedacht«, staunte der kleine Fürst.

»Ja, ich hatte mir das gestern schon vorgenommen«, erklärte Anna.

»Und wieso hast du mir nichts davon gesagt?«

»Ist mir erst eingefallen, als ich schon im Bett lag, kurz bevor ich eingeschlafen bin.«

Nach dieser Rast setzten sie ihre Wanderung fort. Der Tag, der trübe begonnen hatte, klarte auf, ihnen wurde richtig warm, und Christian merkte, wie auch der letzte Rest an Müdigkeit von ihm abfiel. »Ich dachte, wir schlagen einen Bogen und laufen dann zurück zum Schloss«, meinte Anna. »Bis wir dort sind, sind die anderen dann sicher auch bereit zum Frühstücken.«

»Es ist immer noch früh«, staunte Christian. »Gerade mal neun Uhr. Hattest du dir einen Wecker gestellt?«

Anna nickte. »Als mir die Idee gekommen war, hatte ich einfach Lust, an diesem Sonntag mal alles anders zu machen als sonst.«

Er warf ihr einen forschenden Blick zu, aber sie wirkte nicht anders als sonst, also schien alles in Ordnung zu sein.

Wie so häufig erriet sie seine Gedanken. »Mir fehlt nichts, keine Sorge«, sagte sie beruhigend. »Aber wir haben in der Schule über das Gehirn gesprochen. Man soll ab und zu von seinen Gewohnheiten abweichen, um sein Gehirn anzuregen. Dieses ist mein erster Versuch in dieser Richtung.«

Er musste lachen. Das war wieder einmal typisch Anna!

Togo hatte sich offenbar ausgetobt, er blieb jetzt in Sicht- und Rufweite. Zu Beginn ihres Ausflugs war er erst einmal davongestoben, um all die interessanten Spuren zu verfolgen, die seine feine Nase erschnüffelte.

»Togo, du bist doch nicht etwa müde?«, fragte Christian.

Der Boxer sah ihn an – und blieb dann mit einem Mal wie angewurzelt stehen.

»Was hast du denn?«, fragte Anna verwundert.

»Er scheint etwas zu hören, sieh nur, wie seine Ohren gespitzt sind.«

Sie waren ebenfalls stehengeblieben und blickten ratlos auf den Hund, der sich noch immer nicht rührte. In der nächsten Sekunde allerdings schoss er plötzlich laut bellend davon – mitten hinein in ein ziemlich dicht bewachsenes Gebiet.

»Und jetzt?«, fragte Anna.

»Togo!«, rief Christian. »Togo, komm sofort zurück!«

Ihm antwortete ein kurzes Bellen.

»Er muss etwas gefunden haben, Anna. Wenn er so reagiert, heißt das, dass er uns etwas zeigen will.«

Anna zeigte auf den Urwald vor ihnen. »Und da willst du rein?«, fragte sie. »Hör mal, wir kennen uns hier nicht so gut aus, und verirren würde ich mich nicht gern, deshalb bleibe ich lieber auf den Wegen.«

»Ich auch, aber dieses ist eine Ausnahmesituation. Außerdem haben wir die Handys dabei, wir können jederzeit Hilfe holen. Etwas stimmt da nicht, Anna.«

Sie nickte, davon war sie auch längst überzeugt.

Togo bellte wieder.

»Es klingt dringend«, meinte Anna. »Also los, Chris. Aber wir sollten uns den Weg irgendwie merken – wenn man plötzlich nur noch Wildnis um sich herum hat, verliert man leicht die Orientierung.«

Christian holte sein Taschenmesser heraus. »Ich markiere die Bäume«, sagte er. Laut rief er: »Togo, wo bist du?«

Togo antwortete.

»Klingt leider ziemlich entfernt«, murmelte Anna und verließ entschlossen den Weg, um sich durch das Dickicht zu kämpfen.

Es dauerte keine Minute, bis sie beide wussten, dass sie sich auf ein sehr mühseliges Unterfangen eingelassen hatten.

*

Cosima und ihre Schwester Felicitas bewohnten gemeinsam eine großzügige Wohnung, und sie waren mit dieser Lebenssituation sehr zufrieden. Sie verstanden sich gut, und sie fanden es schön, ihren Alltag zu teilen. Dass das nicht immer so bleiben würde, war ihnen beiden bewusst.

Sie arbeiteten in Berufen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Felicitas übersetzte wissenschaftliche Literatur, Cosima arbeitete bei einer Messegesellschaft – sie plante und organisierte große Messen und war dementsprechend viel unterwegs, während ihre Schwester zu Hause arbeitete. Wenn sie sich abends trafen, hatten sie einander also in der Regel viel zu erzählen.

Am Morgen nach dem Ball saßen sie vergnügt gemeinsam beim Frühstück und ließen gerade den vergangenen Abend noch einmal Revue passieren, als es klingelte. Gleich darauf erschien ihre Haushälterin Gerlinde Mayer und sagte: »Herr von Ehlenberg bittet darum, empfangen zu werden.«

»Herein mit ihm, Frau Mayer«, sagte Cosima betont salopp. Frau Mayer war ein wahres Goldstück, aber sie bestand darauf, sich immer möglichst umständlich auszudrü­cken, weil sie das für »vornehm« hielt. Alle Versuche, ihr das abzugewöhnen, waren bisher gescheitert.

Gleich darauf betrat ein schlanker mittelgroßer Mann mit dichten braunen Haaren und einem sommersprossigen Gesicht das Zimmer. »Ihr sitzt noch beim Frühstück?«, rief Nikolaus von Ehlenberg junior bestürzt. »Dabei wollte ich wirklich nicht stören.«

»Du störst überhaupt nicht, Niko!«, sagte Cosima. »Setz dich und trink noch eine Tasse Kaffee mit uns.«

Er begrüßte sie beide mit Küssen auf die Wangen, dann nahm er Platz. Cosima und er kamen schnell ins Gespräch, während Felicitas sich ausschwieg. Cosima glaubte zu wissen, warum: Ihre Schwester war in Niko verliebt, dachte aber, dass der junge Mann für sie nur Freundschaft empfand. Cosima glaubte das jedoch nicht. Das Problem schien ihr eher zu sein, dass sowohl Felicitas als auch Niko ziemlich schüchterne Menschen waren.

»Also, wieso frühstückt ihr noch?«, wollte der junge Mann wissen, nachdem Gerlinde Mayer noch ein Gedeck aufgelegt und ihm eine Tasse Kaffee eingeschenkt hatte.

»Weil wir gestern auf dem Ball waren – auf Schloss Vermeeren. Schon vergessen?«, fragte Cosima.

Niko schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Ich werde offenbar alt«, entschuldigte er sich.

Endlich hatte sich Felicitas so weit erholt, dass sie auch etwas zur Unterhaltung beitragen konnte. »Wenn du alt wirst, werden wir es auch, schließlich sind wir ungefähr gleichaltrig«, erklärte sie mit einem Lächeln. »Also, sei vorsichtig mit dem, was du sagst, Niko.«

Er sah sie treuherzig an. »Euch beiden kann das Alter doch gar nichts anhaben, Feli. Erst gestern habe ich wieder jemanden sagen hören, dass ihr jedes Jahr schöner werdet.«

Cosima stöhnte. »Hör auf mit dem Gesülze, Niko.« Ihr fiel plötzlich Adalbert von Brühl wieder ein. »Kennst du die Brühls, Niko? Graf Adalbert war gestern auf dem Ball – wir mochten ihn beide auf Anhieb nicht, Feli und ich.«

»Adalbert von Brühl?«, murmelte Niko.

»Die Brühls wohnen doch in Frankreich, oder?«

»Meistens jedenfalls. Kein Verlust, wenn du mich fragst – sie sollen ruhig dort bleiben.«

»Wie war er denn so? Ich meine, wenn man jemanden gar nicht kennt, kann man ihn dann überhaupt nicht mögen?«

»Und ob man das kann!«, rief Cosima temperamentvoll. »Eitel war er und selbstgefällig – du hättest mal seinen Gang sehen sollen, der sagte schon alles. Und immer hatte er so ein blasiertes Lächeln im Gesicht.«

»Verstehe«, murmelte Niko. »Ich glaube, bei den Brühls gab es in der Vergangenheit mal ein Familiendrama – aber das muss vor unserer Zeit gewesen sein. Oder als wir noch ziemlich klein waren.«

»Familiendrama?«, fragte Cosima. »Davon weiß ich nichts – und auf keinen Fall entschuldigt es sein Verhalten. Wirklich, du hättest ihn auch nicht gemocht, Niko. Immerhin haben wir die Sternberger getroffen, das war richtig schön. Feli und ich werden demnächst eine Woche Urlaub dort machen.«

»Sternberg – da war ich schon sehr lange nicht mehr. Wann wollt ihr denn fahren?«

»In ungefähr vierzehn Tagen – ich muss das mit meinem Urlaub noch klären. Feli hat es ja leichter, die muss niemanden fragen, vorausgesetzt, sie wird mit ihrer Arbeit fertig.«

»Was dagegen, wenn ich mich anschließe?«, fragte Niko. »Eine Woche Sternberg in eurer Gesellschaft, das klingt außerordentlich verlockend. Und Sofia und Fritz haben mich schon so oft eingeladen, sie hätten bestimmt nichts dagegen, wenn ich euch begleite.«

»Das wäre ja klasse, Niko!«, rief Cosima.

Auch Felicitas, deren Wangen sich gerötet hatten, nickte.

»Dann warte ich, bis du die Termine festgelegt hast, bevor ich auf Sternberg anrufe, Cosi«, sagte Niko.

»Kannst du denn ohne weiteres weg?«

»Ohne weiteres vielleicht nicht, aber ich sorge schon dafür, dass es klappt«, antwortete er lächelnd. Niko arbeitete im Unternehmen seiner Eltern – und wie die Schwes­tern wussten, zogen sich diese nach und nach zurück, so dass er es bald allein führen würde.

»Wollen wir vielleicht noch ein bisschen rausgehen?«, schlug Cosima vor.

Die beiden anderen waren einverstanden, und so verließen sie wenig später zu dritt das Haus.

*

Anna fluchte lautstark, als ihr ein Zweig ins Gesicht schlug.

»Entschuldigung«, sagte Christian, der vor ihr ging. »Ich habe nicht aufgepasst, Anna.«

»Es liegt nicht an dir, Chris. Was wir hier machen, ist Wahnsinn.«

»Aber jetzt haben wir es bald geschafft, ich kann Togo schon sehen.«

Der Boxer bellte jetzt, da sie sich ihm näherten, aufgeregt, ab und zu kam er auch ein Stück auf sie zu, rannte aber immer schnell wieder zurück.

»Und was siehst du sonst noch?«, erkundigte sich Anna.

»Nichts«, musste Christian zugeben. »Die Sicht ist einfach zu schlecht, Anna. Immer sind Zweige oder Blätter im Weg. Aber wir haben es gleich geschafft!« Er bog eine Art Schlingpflanze zur Seite und hielt sie dieses Mal fest, bis Anna herangekommen war. »Da vorn, siehst du ihn?«

Anna spähte durch das Dickicht. »Da liegt was, glaube ich. Oh, Mann, Chris …«

Er nickte. Ihm war selbst mulmig zumute. Sie konnten nicht wissen, was Togo gefunden hatte, und natürlich waren ihnen beiden viele Gedanken durch den Kopf geschossen auf dem mühseligen Weg durch diesen Urwald. Immer wieder gab es Geschichten über grausige Funde …

»Gleich sind wir da, Togo«, rief er.

Der Boxer bellte erneut aufgeregt, verstummte dann aber – und nun hörten sie noch ein anderes Geräusch: Es war eine Art Stöhnen.

Wie angewurzelt blieben sie stehen. Christian spürte sein Herz schneller klopfen, Anna war blass geworden. Dann setzten sie sich, schneller als zuvor, wieder in Bewegung. Gleich darauf hatten sie es geschafft und fanden sich erstaunt auf einer winzigen Lichtung wieder, zu der sich von der anderen Seite aus jemand offenbar Zutritt verschafft hatte: Der Weg war noch zu erkennen an abgebrochenen Zweigen und niedergetrampelten Pflanzen.

Togo sprang an Christian hoch, dann kehrte er zu dem stöhnenden Bündel zurück, das er entdeckt hatte: Es war ein Mann, dessen Hose von Blut getränkt war.

Christian kniete nieder »Können Sie mich hören?«, fragte er.

Die Lider des Mannes flatterten, seine aufgerissenen Lippen bewegten sich, doch er brachte kein Wort heraus.

Anna hatte bereits die Thermos­kanne geöffnet und Tee in einen Becher gegossen. »Er liegt hier ja wohl schon länger«, sagte sie. »Er muss halb verhungert und verdurs­tet sein.«

Christian hob den Kopf des Mannes an, Anna setzte ihm den Becher an die Lippen, doch der Verletzte reagierte nicht. Anna holte also einen Löffel aus ihrer Tasche, goss Tee darauf und schob dem Mann, dessen Kopf Christian wieder anhob, den Löffel in den Mund. Nach etwa zehn Löffeln schluckte der Mann gierig, und Anna versuchte es erneut mit dem Becher, den der Verletzte dieses Mal schnell leerte. Zum Glück hatten sie zuvor nicht alles ausgetrunken, so dass sie ihm insgesamt mehrere Becher einflößen konnten.

Irgendwann öffnete der Mann die Augen und sah sie an. Sein Blick war fiebrig, obwohl er sich kalt anfühlte.

»Wenn er schon länger hier liegt, hat er sich bestimmt eine Lungen­entzündung geholt«, sagte Anna. »Und Blut scheint er auch ziemlich viel verloren zu haben. Wir sollten ihm vielleicht etwas unterlegen.«

»Ruf zuerst im Schloss an, wir brauchen Hilfe.«

»Die werden es schwer haben, uns zu finden, Chris«, sagte Anna, holte aber bereits ihr Handy heraus.

Während sie Eberhard Hagedorn in sich überstürzenden Sätzen erklärte, was passiert war, lagerte Christian das verletzte Bein hoch und versuchte, dem Mann seine Jacke unterzuschieben, damit er nicht länger direkt auf dem kalten und feuchten Waldboden lag. Da es keinen Tee mehr gab, flößte er ihm außerdem noch Wasser ein und versuchte es dann mit einem kleinen Stück Brot. Es war wie zuvor: Eine Weile dauerte es, bis der Mann wusste, dass er kauen und schlucken musste, dann jedoch tat er es.

»Sie kommen«, sagte Anna, die ihr Gespräch beendete. »Wir müssen immer wieder miteinander telefonieren, damit wir sie lenken können, aber Herr Hagedorn meinte, das würde bestimmt klappen. Es wird allerdings eine Weile dauern, weil wir ja ziemlich weit vom Schloss entfernt sind.«

»Und Herr Dr. Brocks?«

»Den ruft er an, damit ein Rettungswagen zum Schloss geschickt wird. Er hat gesagt, wir sollen uns keine Sorgen machen, er würde sich um alles kümmern.«

»Wenn Herr Hagedorn das sagt, tut er das auch, Anna.«

Sie nickte. »Und was machen wir jetzt, Chris? Stell dir vor, er stirbt, während wir hier warten …«

»Ich glaube nicht, dass er stirbt. Sieh nur, er isst – und ich glaube, er hat immer noch Durst. Aber wir haben nur noch wenig Wasser.«

»Ich habe auch Durst«, gestand Anna.

»Wir haben alle Durst«, stellte der kleine Fürst fest.

»Er geht vor. Gib ihm, was noch da ist, Chris.«

Der kleine Fürst nickte und flößte dem Mann das restliche Wasser ein.

*

»Ein verletzter Mann, vermutlich angeschossen?«, fragte Sofia ungläubig. »In unserem Wald?«

»Jawohl, Frau Baronin«, erklärte Eberhard Hagedorn und wiederholte, was Anna gesagt hatte.

Baron Friedrich war bereits aufgestanden, sein Sohn Konrad ebenfalls. »Weiß Herr Wenger Bescheid, Herr Hagedorn?«

Robert Wenger war der Stall­meis­ter auf Sternberg.

»Ja, Herr Baron. Er steht mit einigen Pferdepflegern zur Verfügung. Sie können einen gewissen Teil des Weges mit Wagen zurücklegen, ich habe mir das bereits auf einem Plan angesehen.«

»Konny, geh’ zu Herrn Wenger und sag ihm das – er soll die Wagen organisieren. Wir brauchen außerdem Decken, Jod zum Desinfizieren und Verbandszeug …« Konrad stürzte hinaus.

»Vor allem müssen Sie Wasser mitnehmen, Herr Baron, der Mann scheint halb verdurstet zu sein.«

»Danke, Herr Hagedorn.« Friedrich umarmte seine Frau. »Es wird hoffentlich nicht allzu lange dauern, bis wir zurück sind, Sofia.«

»Aber es soll doch so unwegsames Gelände sein, Fritz!«

»Die beiden haben Handys dabei, und Anna konnte ziemlich gut beschreiben, wo sie sind. Wir kommen so schnell wie möglich zurück, dann wird der Mann ins Krankenhaus gebracht und sich hoffentlich bald erholen.«

»Und die Polizei? Muss die nicht benachrichtigt werden?«, fragte Sofia.

»Doch, aber zuerst sollten wir den Mann retten, denke ich.« Friedrich gab Sofia einen Kuss und eilte hinaus.

Wenige Minuten später setzten sich die Wagen in Bewegung.

»Was für eine Geschichte!«, sagte Sofia. »Ein verletzter Mann in unserem Wald – wie ist das möglich, Herr Hagedorn?«

»Ich kann es Ihnen nicht sagen, Frau Baronin. Vielleicht ein Jagdunfall?«

Ihr Blick verriet, wie sehr dieser Gedanke sie entsetzte.

»Sie meinen, jemand hat den Mann aus Versehen angeschossen und sich dann nicht weiter um ihn gekümmert?«

»Vielleicht hat er es nicht gemerkt«, vermutete der Butler. »Solche Unfälle hat es schon gegeben, Frau Baronin.«

»Aber doch nicht bei uns!«, murmelte sie.

»Wenn Sie gestatten, dann rufe ich jetzt Herrn Dr. Brocks an, außerdem brauchen wir einen Rettungswagen.«

Sofia nickte abwesend. Als Eberhard Hagedorn hinausgegangen war, setzte sie sich wieder an den Frühstückstisch und schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Doch er schmeckte ihr nicht, außerdem hatte sie keine Ruhe mehr.

Aber da sie nichts tun konnte außer zu warten, blieb sie sitzen und trank den mit einem Mal bitter schmeckenden Kaffee. Hoffentlich fanden sie den verletzten Mann tatsächlich schnell und konnten ihm helfen!

*

Cosima beobachtete ihre Schwes­ter und Niko von Ehlenberg verstohlen, wie sie es immer tat, wenn sie die beiden zusammen erlebte. Wieso kamen sie einander eigentlich nicht endlich näher? Ein Blinder konnte sehen, wie gern sie sich hatten!

Kein Trick schien zu helfen. Sie hatte die beiden schon unter den verschiedensten Vorwänden allein gelassen – doch genützt hatte es bisher nichts. Und was das Schlimmste war: sie konnte mit Felicitas über alles reden, nur nicht über Niko. Kam die Rede auf ihn, wurde ihre Schwester verschlossen wie eine Auster – oder sie äußerte nur Belanglosigkeiten, als hätte der charmante junge Mann keine große Bedeutung für sie. Es war wirklich zum Verrücktwerden, wenn man zwei Menschen dabei zusehen musste, wie sie einander unglücklich machten, weil sie die richtigen Worte nicht fanden.

Auf einmal war sie es leid, sich das Elend noch weiter anzusehen. »Ich gehe zurück«, sagte sie aus heiterem Himmel. »Wenn ich eine Woche Urlaub machen will, sollte ich ein bisschen vorarbeiten, dafür ist heute genau der richtige Tag.«

»Ach komm schon, Cosi!«, sagte Niko. »Es ist Sonntag, den wirst du dir doch nicht mit Arbeit verderben wollen.«

Felicitas, deren Wangen sich wieder einmal zart gerötet hatten, nickte eifrig. »Niko hat Recht, vergiss die Arbeit, Cosi«, sagte sie. »Wir könnten noch zusammen ins Kino gehen und diesen Film ansehen, von dem du neulich gesprochen hast.«

Am liebsten hätte Cosima die beiden genommen und ordentlich durchgeschüttelt. Was war nur mit ihnen los, dass sie nicht miteinander allein sein wollten? »Ich gehe!«, wiederholte sie. »Und ihr macht, was ihr wollt.«

Sie wartete weitere Proteste nicht ab, sondern drehte sich um und lief davon. Sollten sie tun, was immer sie wollten, aber sie würde ihnen dabei nicht länger Gesellschaft leisten! Doch als sie ihr Büro erreicht hatte, saß sie vor dem Computer und stellte fest, dass sie nicht die geringste Lust zum Arbeiten hatte. Das war ja auch nur ein Vorwand gewesen.

Unversehens kam ihr Graf von Brühl wieder in den Sinn, und da sie ohnehin vor dem Computer saß, fand sie, dass es nicht schaden würde, sich ein wenig über ihn zu informieren. Wenn ihr jemand auf Anhieb so unsympathisch war wie dieser Mann, dann wurde sie automatisch neugierig.

Sie verbrachte eine halbe Stunde damit, die Familiengeschichte der Brühls zu studieren, was erstaunlich langweilig war. Insgeheim hatte sie gehofft, ein paar Beweise dafür zu finden, dass ihre Abneigung gegen Adalbert von Brühl berechtigt war, doch sie fand keinerlei Hinweise auf einen schlechten Charakter. Der Mann war verheiratet, ohne Kinder, und schien ein ziemlich unauffälliges Leben zu führen. Nicht einmal als Frauenheld hatte er bisher für Aufsehen gesorgt, es gab keine Ausschweifungen, keine Skandale, absolut nichts.

Enttäuscht schaltete sie ihren Computer wieder aus. Offensichtlich war heute nicht ihr Tag!

*

»Schon eine Stunde«, sagte Anna. »Und ich habe das Gefühl, dass es ihm schlechter geht.« Mit leiser Stimme setzte sie hinzu: »Und ich bin mittlerweile schrecklich durstig.«

Christian nickte, ihm ging es genauso. Der Mann stöhnte wieder, die Augen öffnete er gar nicht mehr. Ab und zu leckte er sich die Lippen, aber sie hatten nichts mehr, was sie ihm hätten geben können.

Togo strich unruhig über die kleine Lichtung, manchmal bellte er, doch niemand antwortete ihm. Der Wald war geradezu gespens­tisch still. Nicht einmal die Vögel sangen.

Wenig später fing es an zu regnen. Zuerst waren sie entsetzt, denn nun würden sie auch noch nass werden, dann erkannten sie, dass sie auf diese Weise zumindest etwas zu trinken bekommen würden. Doch war der Regen nicht so stark, dass sie ihn leicht auffangen konnten mit den ihnen zur Verfügung stehenden Gefäßen. So war er letzten Endes doch eher Fluch als Segen, denn er machte ihre Situation noch ungemütlicher, als sie es ohnehin schon war. So schnell, wie er begonnen hatte, hörte er dann auch wieder auf, ohne dass es ihnen gelungen war, eine nennenswerte Menge an Flüssigkeit aufzufangen. Immerhin reichte es, um die Lippen des Verletzten und ihre eigenen wieder ein wenig zu befeuchten.

Ganz plötzlich wurde Togo noch unruhiger als zuvor, obwohl er jetzt an einer Stelle stehen blieb. Aber er winselte und bellte, als wollte er jemanden auf sich aufmerksam machen.

»Hörst du was, Togo?«, fragte Anna aufgeregt.

Der Hund bellte weiter, und so fingen sie an zu rufen und zu schreien. Doch eine Antwort bekamen sie nicht. Da Togo jedoch keine Ruhe gab, riefen sie weiter, bis Annas Handy klingelte. »Ja?«, rief sie.

»Wir müssen in eurer Nähe sein, Anna«, sagte die Stimme ihres Vaters, »aber wir können euch nicht sehen.«

»Ich glaube, Togo hört euch«, erwiderte sie. »Er bellt die ganze Zeit, könnt ihr ihn nicht hören?«

»Bisher nicht.« Er beschrieb ihr, wo sie sich befanden.

»Dann ist es nicht mehr weit bis zu der Stelle, an der wir den Weg verlassen haben, Papa! Wenn ihr noch etwas weiter geht, müsstet ihr Togo eigentlich hören. Oder Chris und mich, wir geben uns Mühe, möglichst laut zu sein.«

»Gut, bis gleich. Ich melde mich wieder.«

»Wo sind sie jetzt?«, fragte der kleine Fürst.

Sie beschrieb es ihm. Er machte ein sorgenvolles Gesicht. »Wenn sie so lange brauchen wie wir, bis sie vom Weg aus hier sind«, murmelte er, »dann müssen wir noch ziemlich lange warten.«

»Sie werden viel schneller hier sein, Chris! Sie haben doch Werkzeuge dabei und schlagen ziemlich schnell eine Schneise ins Dickicht, glaub mir.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, murmelte der kleine Fürst. Er entdeckte ein großes gebogenes Blatt, in dem sich eine richtige kleine Wasserpfütze gebildet hatte. Vorsichtig schob er den Becher darunter und fing das Wasser auf. Damit benetzte er erneut die Lippen des Mannes. Der leckte die Flüssigkeit gierig auf und schluckte. Gleich danach stöhnte er wieder.

Togo bellte jetzt ununterbrochen, ab und zu unterstützten sie ihn, indem sie laut schrien.

Antwort bekamen sie noch immer nicht.

*

»Sie sind in der Nähe«, stellte der Baron fest, nachdem er mit seiner Tochter gesprochen hatte. »Wir müssen noch ein Stück weitergehen, Anna meinte, es müsste eigentlich gut zu sehen sein, wo sie den Weg verlassen haben.«

Die Wagen hatten sie schon vor geraumer Zeit abstellen müssen. Robert Wenger, der junge Stall­meis­ter, ging vor, gefolgt von einigen Pferdepflegern. Baron Friedrich und sein Sohn Konrad bildeten das Ende der kleinen Karawane.

»Togo bellt offenbar die ganze Zeit, die beiden wollen versuchen, uns durch Rufen und Schreien bei der Orientierung zu helfen«, setzte der Baron hinzu.

Nach etwa achthundert Metern blieb Robert Wenger stehen. »Das hier könnte die Stelle sein«, sagte er. »Du liebe Güte, was für ein Dickicht. Wenn sie sich da wirklich durchgeschlagen haben …«

»Hier ist ein Zeichen!«, rief Konrad. »Hier, an diesem Baum – ein kleines Kreuz.«

»Chris hat Zeichen hinterlassen, damit sie zurückfinden«, erklärte der Baron. »Aber ich frage vorsichtshalber noch einmal nach.« Erneut wählte er Annas Nummer, die ihm jubelnd bestätigte, dass sie die richtige Stelle gefunden hatten.

»Vorwärts, Männer!«, sagte Robert Wenger. Er hatte eine Sense mitgenommen, die er jetzt mit erstaunlicher Geschicklichkeit benutzte. Als er die Blicke der anderen sah, erklärte er mit verlegenem Lächeln: »Meine Eltern hatten eine große Wiese, da habe ich den Umgang mit der Sense gelernt.« Er schlug, unterstützt von den anderen, die mit Äxten und großen Astscheren arbeiteten, eine Schneise, wobei er sich an den Zeichen orientierte, die Christian hier und da in eine Rinde geritzt hatte.

Und dann hörten sie endlich Togos Gebell und zweistimmige Rufe, die es ihnen ermöglichten, noch schneller voranzukommen, weil sie nun nicht mehr suchen mussten. »Da vorn sind sie!«, rief Konrad. »Ich kann sie sehen!«

Danach dauerte es nur noch wenige Minuten, bis sie die kleine Lichtung erreicht hatten. Der Baron schloss zuerst seine Tochter, dann seinen Neffen in die Arme.

Anna und Christian stürzten sich auf die mitgebrachten Getränke, und auch der verletzte Mann trank gierig den Tee, den ihm der Stallmeister einflößte. Sie versorgten notdürftig das verletzte Bein, dann legten sie den Mann auf die mitgebrachte Bahre und traten den Rückweg an. Er war weniger mühevoll, da der Weg jetzt dank Robert Wengers Sense erkennbar und einigermaßen gut passierbar war. Nach weniger als einer Stunde hatten sie die abgestellten Wagen erreicht.

Immer wieder gab jemand dem Mann zu trinken. Sie hatten ihn gut zugedeckt, da er angefangen hatte zu zittern. Außerdem fantasierte er, doch sprach er so undeutlich, dass niemand ein Wort verstand.

Als Schloss Sternberg in Sicht kam, atmeten sie auf.

*

»Manchmal verstehe ich deine Schwester nicht, Feli – wieso wollte sie jetzt auf einmal ins Büro? Wir hatten doch gerade so viel Spaß!«

»Sie denkt, wir sind ineinander verliebt«, erklärte Felicitas.

Nikos Augen wurden groß. »Hat sie das gesagt?«

»Das muss sie nicht sagen, das weiß ich auch so. Sie hält uns beide für krankhaft schüchtern und meint, sie müsste uns die Gelegenheit bieten, unsere Schüchternheit zu überwinden.«

Er starrte sie ungläubig an. »Glaubst du das – oder bist du sicher?«

»Ich bin hundertprozentig sicher.«

»Und seit wann weißt du, dass sie so denkt?«

»Oh, schon länger«, erklärte Felicitas.

»Wieso hast du mir das nie gesagt?«

»Warum sollte ich?«

Er suchte nach einer Antwort, musste aber schließlich passen. »Ich weiß nicht«, murmelte er.

Sie beugte sich vor und griff nach seiner Hand. »Ist doch nicht schlimm, Niko«, sagte sie. »Mir macht das nichts aus, ehrlich. Im Gegenteil, es ist sogar ganz praktisch gewesen bisher, weil sie sich deshalb nicht traut, das Thema anzuschneiden und mich also auch nicht in Versuchung bringt, ihr die Wahrheit zu sagen.« Sie seufzte. »Aber irgendwann wirst du dich ja hoffentlich mit deiner großen Liebe an die Öffentlichkeit trauen.«

»Wenn ich nicht so ein verdammter Feigling wäre!«, sagte er heftig. »Simone ist wundervoll, ich weiß wirklich nicht, warum sie sich ausgerechnet in mich verliebt hat.«

»Weil du auch wundervoll bist«, erklärte Felicitas ruhig. »Ich weiß nicht, ob du wirklich so ein Feigling bist. Eine geschiedene bürgerliche Frau, die fünf Jahre älter ist als du und zwei Kinder hat – da würden auch Eltern, die keine standesbewussten Adeligen sind, nicht unbedingt begeistert sein, das muss man einmal ganz nüchtern so sagen. Aber es nützt ja nichts: du musst ihnen deine Simone vorstellen und gucken, was passiert. Nimm sie mit zu deinen Eltern, ohne sie vorzubereiten – sie wird sie schon um den kleinen Finger wickeln.«

Er lächelte unwillkürlich. »Ich kenne wirklich niemanden, der sie nicht mag – ihren geschiedenen Mann ausgenommen. Der hat es ihr sehr übel genommen, dass sie nicht bei ihm bleiben wollte, als sie ihn mit einer anderen erwischt hat.«

»Ich finde Simone auch wunderbar«, versicherte Felicitas. »Also, worauf wartest du denn noch?«

»Und wenn meine Eltern mich aus der Firma werfen? Mich enterben? Mich nie wieder sehen wollen?«, fragte er kläglich. »Ich liebe sie, Feli, ich möchte in gutem Einvernehmen mit ihnen leben.«

»Sie lieben dich auch, und sie wollen dich sicherlich nicht verlieren. Also mach diesem Versteckspiel ein Ende und sorg’ dafür, dass ich mit meiner Schwester endlich wieder unbeschwert über dich läs­tern kann!«

Plötzlich lächelte er. »Du hast ja Recht«, sagte er. »Ich nehme sie einfach am nächsten Wochenende mit zu meinen Eltern.«

»Aber lasst die Kinder in der Zeit bei Freunden«, riet Felicitas. »Man muss die Schocks vorsichtig dosieren.«

Sie lachten beide, Niko wirkte plötzlich wie befreit. »Am Sonntag!«, sagte er. »Hiermit ist es beschlossen und verkündet.«

Sie widersprach ihm nicht. Der Euphorie würde der Katzenjammer folgen und diesem die Zweifel und Ängste. Noch glaubte sie nicht, dass er sein Vorhaben in die Tat umsetzen würde – aber sie hoffte es von ganzem Herzen, für alle Beteiligten.

*

Simone Breker öffnete mit Schwung die Tür und sah sich einer eleganten, schönen Blondine mittleren Alters gegenüber, die sie auf den ersten Blick erkannte, obwohl sie ihr nie zuvor persönlich begegnet war: Es war Nikos Mutter Helene von Ehlenberg. Niko hatte ihr Fotos seiner Eltern gezeigt.

»Wer ist es denn, Mami?«, rief ihre Tochter Cleo aus dem Wohnzimmer.

»Guten Tag, Frau von Ehlenberg«, sagte Simone ruhig, ohne die Frage ihrer Tochter zu beantworten. »Bitte, kommen Sie herein.«

»Vielen Dank.« Helene folgte der jungen Frau in die Wohnung. »Ich hoffe, ich störe nicht?«

»Nein, wir setzen gerade ein Puzz­le zusammen, Cleo und ich. Sie ist vier und kann das schon besser als ich.«

Cleo betrachtete die unbekannte Frau, die jetzt hereinkam, aufmerksam, dann fällte sie eine Entscheidung. Sie rutschte von ihrem Stuhl, trat auf die Frau zu und streckte die Hand aus. »Guten Tag, ich heiße Cleo«, sagte sie. »Und wer bist du?«

»Helene, ich bin die Mama von Niko. Den kennst du doch?«

Cleos Augen wurden groß. »Das glaube ich nicht!«, rief sie. »Du siehst ganz anders aus als er.«

»Ja, das stimmt, er sieht seinem Vater ähnlich. Sag mal, Cleo, hast du nicht noch einen Bruder?«

»Bruno schläft, er ist nämlich erst zwei. Ich bin schon vier, deshalb muss ich nicht mehr schlafen. Willst du ihn sehen?«

»Gerne, ja.«

Cleo ergriff die Hand der Besucherin und zog sie ohne weitere Umstände mit sich zum Zimmer ihres Bruders.

Simone beschloss, nicht einzugreifen. Sie glaubte nicht, dass Niko mit seinen Eltern gesprochen hatte – vor diesem Gespräch graute ihm, das wusste sie, und sie verstand es auch. Also hatte seine Mutter die Wahrheit wohl allein herausbekommen, und nun war sie gekommen, um sich ein Bild von der Frau zu machen, in die ihr Sohn sich verliebt hatte.

Bisher war gegen dieses Vorgehen, fand Simone, nichts einzuwenden. Sie hätte sich vielleicht in einer vergleichbaren Situation ähn­lich verhalten.

Sie setzte Teewasser auf und betrachtete nachdenklich die ärmlichen Kuchenreste. Das war kaum etwas, das man einem Gast vorsetzen konnte. Andererseits konnte jemand, der an einem Sonntag unangemeldet irgendwo auftauchte, natürlich auch keine Ansprüche stellen.

Helene und Cleo tauchten wieder im Wohnzimmer auf.

Simone verließ die Küche. »Trinken Sie eine Tasse Tee mit mir, Frau von Ehlenberg?«

»Sehr gern.«

»Kuchen kann ich Ihnen leider nicht anbieten – wir haben nur noch Reste übrig gelassen.«

»Das macht nichts. Ihr kleiner Junge schläft fest.«

»Ja, aber nicht mehr lange«, lächelte Simone nach einem Blick auf die Uhr. »Schon jetzt wehrt er sich manchmal gegen den Mittagsschlaf.« Simone brühte den Tee auf, stellte Geschirr, Kanne, Zucker und Milch auf ein Tablett und brachte es ins Wohnzimmer. »Cleo, du musst uns ein bisschen Platz machen.«

»Och, Mama!«, jammerte die Kleine. »Das geht doch jetzt nicht, dann …«

»Wir könnten uns auf das Sofa setzen«, schlug Helene vor. »Cleo macht ihr Puzzle weiter – ich möchte nämlich gern sehen, wie gut du das wirklich kannst, Cleo – und wir beide unterhalten uns ein wenig, Frau Breker.«

Jetzt geht es also zur Sache, dachte Simone, während sie das

Tablett zum Sofa hinübertrug. Helene räumte eilig ein paar Zeitschriften und Bilderbücher von dem kleinen Tisch, der dort stand, so dass Simone das Tablett abstellen konnte.

Cleo war mit Feuereifer wieder an ihrem Puzzle, stellte Simone erleichtert fest.

Aber vermutlich würde sie trotzdem einiges von dem Gespräch mitbekommen.

»Warum stellt Niko Sie uns nicht vor?«, fragte Helene.

Sie verliert wahrhaftig keine Zeit, dachte Simone. Eine Frau, die weiß, was sie will – so hat Niko sie ja auch geschildert. »Ich bin fünf Jahre älter als er, geschieden und habe zwei Kinder«, antwortete sie. »Und adelig bin ich natürlich auch nicht. Da haben Sie schon vier gute Gründe, weshalb er sich um dieses Gespräch bisher nicht unbedingt gerissen hat.«

»Und das stört Sie nicht?«

»Das Versteckspiel stört mich, aber dass er Angst vor diesem Gespräch hat, verstehe ich. Er hat viel zu verlieren.«

Der Blick der Älteren war aufmerksam auf sie gerichtet. »Nämlich?«

»Er hängt an Ihnen, will das gute Einvernehmen mit Ihnen nicht stören – und natürlich auch seine berufliche Zukunft nicht.«

»Er traut seinen Eltern also zu, dass sie ihn …, wie soll ich mich ausdrücken?«

»Verstoßen«, schlug Simone vor. »Ob er es Ihnen zutraut, weiß ich nicht, aber wenn man sich fürchtet, denkt man ja nicht unbedingt vernünftig.«

»Dass er sich überhaupt fürchtet, kränkt mich«, murmelte Helene und trank einen Schluck Tee. »Da bemüht man sich, seine Kinder zu aufgeschlossenen Menschen zu erziehen, und dann fallen sie einem so in den Rücken! Sie müssen ja einen schönen Eindruck von uns gehabt haben!«

Ihre Blicke begegneten sich, sie lächelten beide.

Simone lehnte sich zurück. Mit einem Mal war sie völlig entspannt. Was auch immer passierte: Helene von Ehlenberg war jedenfalls nicht ihre Feindin!

*

»Ich würde nicht raten, den Patienten in seinem jetzigen Zustand noch einmal zu transportieren«, sagte Dr. Walter Brocks ernst, nachdem er den verletzten Mann untersucht hatte. »Es wäre wesentlich besser, ihn hier zu behandeln – zumindest heute. Morgen können wir neu entscheiden.«

»Aber geht das denn, Herr Doktor?«, fragte die Baronin. »Muss er nicht operiert werden?«

»Er bekommt bereits Infusionen, um den Flüssigkeits- und Nährstoffmangel so schnell wie möglich zu beheben. Ich gebe ihm außerdem Antibiotika gegen das Fieber und die Lungenentzündung. Wir haben ihn in erwärmte Decken gehüllt, wegen seiner Unterkühlung. Ich müsste ihm nur die Kugel aus dem Bein entfernen – es ist eindeutig eine Schussverletzung, und ich sehe nicht, warum ich das hier nicht machen könnte. Es ist ja kein großer Eingriff.«

»Ein Jagdunfall?«

»Das kann ich noch nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, aber was sollte es sonst sein?«

Die anderen nickten, das war ja auch die einzige Erklärung, die ihnen bisher eingefallen war.

»Und das mit der Kugel können Sie auch hier machen?«

»Ja, natürlich, es ist, wie gesagt, keine große Sache. Die Kugel ist irgendwo im Unterschenkel steckengeblieben.«

»Und wenn …, wenn etwas schiefgeht?«, fragte der Baron.

Dr. Brocks lächelte bedrückt. »Glauben Sie mir, Herr von Kant, auf der Fahrt in die Klinik geht eher etwas schief, als wenn wir den Mann jetzt erst einmal mit dem Nötigsten versorgen und in Ruhe lassen. Die Kugel ist sein geringstes Problem im Augenblick.«

Einer der Sanitäter des noch wartenden Rettungswagens kam herein. »Wir werden gerufen«, sagte er, »hier in der Nähe hat sich ein Unfall ereignet …«

»Fahren Sie«, erwiderte die Baronin. »Der Verletzte bleibt erst einmal hier.«

Der Mann nickte und verabschiedete sich. Gleich darauf hörten sie den Wagen abfahren.

»Wo bringen wir den Mann am besten unter?«

»Darf ich einen Vorschlag machen, Frau Baronin?«, fragte Eberhard Hagedorn.

»Wir bitten sogar darum, Herr Hagedorn.«

»Wir sollten einen Salon umräumen, denn sonst muss man ständig die Treppe hinauf und hinunter, das kostet zu viel Zeit und ist zu umständlich. Während hier unten …«

»Vollkommen richtig«, erklärte der Arzt. »Wenn das möglich wäre?«

»Natürlich ist das möglich, nehmen Sie das bitte in die Hand, Herr Hagedorn.«

»Wer kann mir bei der Entfernung der Kugel behilflich sein?«, fragte Dr. Brocks. »Ich brauche jemanden, der mir assistiert und dem nicht schlecht wird, wenn Blut fließt.«

Diese Aufgabe übernahm der Baron.

Sobald der Salon für den verletzten Mann hergerichtet war, machte sich Dr. Brocks ans Werk. Er brauchte nicht länger als eine Viertelstunde, um die Kugel aus dem Bein zu holen.

Beide Männer waren blass, als sie zu den anderen zurückkehrten. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass nicht das geflossene Blut dafür verantwortlich war, sondern etwas anderes.

Mit tonloser Stimme sagte der Baron: »Wir haben seine Sachen durchsucht – und absolut nichts gefunden, keine Geldbörse, keine Ausweispapiere, keine Schlüssel. Wir haben also keine Ahnung, wer der Mann ist. Seine Sachen müssen ihm abgenommen worden sein.«

Er machte eine kurze Pause. »Das ist aber noch nicht alles. Wir sind von einem Jagdunfall ausgegangen, doch das war es nicht. Die Kugel stammt aus einem Revolver. Es sieht also ganz danach aus, als hätte jemand absichtlich auf den Mann geschossen.«

*

»Und? Was habt ihr noch gemacht?«, fragte Cosima, als Felicitas nach Hause kam. Sie fragte eher routinemäßig, denn sie wusste ja schon vorher, wie die Antwort ausfallen würde: nichtssagend nämlich. Und genau so kam es auch.

»Eis gegessen und etwas geredet«, erwiderte ihre Schwester. »Bist du mit deiner Arbeit weitergekommen?«

»Ja, ganz gut«, log Cosima. »Hinterher habe ich noch im Internet nach Informationen über Adalbert von Brühl gesucht – ich dachte, vielleicht pflastern Skandale seinen Weg. Aber Fehlanzeige.«

»An was für Skandale hattest du denn gedacht?«, erkundigte sich Felicitas mit einem Lächeln.

»Ich dachte, dass er zumindest seine Freundinnen wechselt wie die Hemden und sie schlecht behandelt und so – aber ich habe nichts dergleichen gefunden.«

»Dass du dir überhaupt die Mühe gemacht hast, Informationen über ihn zu suchen«, wunderte sich Felicitas. »Interessierst du dich irgendwie für ihn?«

»Nein, das würde ich nicht sagen«, erklärte Cosima nachdenklich. »Aber mir passiert es selten, dass ich jemanden auf Anhieb unsympathisch finde – und bei ihm war das der Fall. Ich habe mich gefragt, warum.«

»Wegen seiner selbstgefälligen Art«, meinte Felicitas. »Mir ging es ja ähnlich.«

»Andere sind auch selbstgefällig, über die amüsiere ich mich dann, und fertig. Aber ihn mochte ich nicht, es war eine richtige, ausgeprägte Abneigung, die ich gegen ihn empfunden habe, Feli.« Cosima seufzte. »Na ja, ist auch nicht so wichtig. Ich dachte nur, wenn ich herausfinde, dass er vielleicht seine Geschäftsfreunde abzockt oder all seine Freundinnen betrügt, dann kann ich mir einbilden, ich hätte ihm das angesehen und ihn deshalb nicht leiden können. Aber, wie gesagt: Fehlanzeige auf der ganzen Linie. Kein einziger Skandal bisher.«

»Manchmal hast du wirklich ulkige Ideen«, stellte Felicitas fest.

»Kann sein«, murmelte Cosima und zuckte mit den Schultern. »Sag mal, und Niko hat überhaupt nichts Interessantes erzählt?«

»Nein – wir führen halt alle ein ziemlich ereignisloses Leben«, antwortete Felicitas. »Ich muss duschen, ich bin total durchgeschwitzt.« Mit diesen Worten verließ sie eilig das Zimmer.

Cosima seufzte. Konnte ihre Schwester ihr nicht endlich gestehen, dass sie bis über beide Ohren in Niko verliebt war? Felicitas’ fehlendes Vertrauen kränkte sie!

*

Nachdem Niko sich von Felicitas verabschiedet hatte, machte er sich auf den Weg zu Simone. Wie immer parkte er den Wagen einige Straßen weiter und sah sich unauffällig um, bevor er bei seiner Freundin klingelte. Er hasste diese Heimlichkeiten, und schon deshalb war er wild entschlossen, seinen Vorsatz in die Tat umzusetzen: Dieses würde die letzte Woche sein, in der er seine Liebe zu Simone versteckte.

Kaum hatte sie geöffnet, als er sie auch schon in seine Arme zog und küsste. »Ich habe dich ver­misst«, flüsterte er.

»Niko!«, krähte Cleo aus dem Wohnzimmer.

»Ich komme gleich, Cleo!«, rief er zurück. »Einen Moment noch. Zuerst muss ich deine Mama begrüßen.«

Cleo kicherte. »Aber du musst sofort kommen, deine Mama ist nämlich hier!«

Niko, der Simone bereits wieder küsste, erstarrte zu Eis, als er den Sinn von Cleos Worten erfasste. »Wie bitte?«, krächzte er und sah Simone fragend an.

Sie lächelte entschuldigend und entwand sich seinen Armen. »Es stimmt, was Cleo sagt, komm mit!«

Er folgte ihr wie betäubt. Nie würde er den Anblick vergessen, der sich ihm im Wohnzimmer bot: Seine Mutter hatte Bruno auf dem Schoß, der ihre edle Seidenbluse großzügig mit Brei verschmiert hatte, was sie seltsamerweise nicht sonderlich zu kümmern schien. Auf dem Tisch, an dem sie saß, war ein riesiges Puzzle ausgebreitet, und genau in dem Moment, als er zur Tür hereinkam, rief sie triumphierend: »Hier, Cleo! Ich glaube, das gehört hierher, probier es mal aus!«

Der kleine Fürst Staffel 6 – Adelsroman

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