Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 6 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 6

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Roman von »Ausgerechnet jetzt muss Henning in London sein!«, seufzte Alexa von Rabenfels. »Wir wollten Tina natürlich gemeinsam am Flughafen abholen, aber nun werde ich wohl allein nach Frankfurt fahren müssen. Tina wird schrecklich enttäuscht sein.«

»Zwei Jahre in Afrika«, sagte Baronin Sofia von Kant versonnen, ohne auf die Worte ihrer Freundin einzugehen. »Es ist toll, dass sie das gemacht hat, Alexa.«

»Ja, das ist es. Obwohl ich gestehen muss, dass wir am Anfang gar nicht einverstanden waren. Eine junge blonde Ärztin allein in Afrika – du kannst dir vorstellen, was einem da für Gedanken durch den Kopf schießen. Aber was sie will, das setzt sie ja auch durch.«

»Und es hat ihr doch auch gefallen, oder?«

»Mehr als das. Wir haben durchaus die Befürchtung, dass sie es auf Dauer hier gar nicht mehr aushält. Sie hat mehrmals gesagt, dass sie sich nie zuvor so nützlich vorgekommen ist. Aber im Kongo ist es ja jetzt alles andere als sicher, deshalb sind wir froh, dass sie erst einmal zurückkommt.«

»Aber sie war doch nicht direkt im Kongo im Einsatz, oder?«

»Im Grenzgebiet zwischen Gabun und Kongo. Sie und ihre Kollegen haben gearbeitet bis zur Erschöpfung. Zwar hat sie sich nie beklagt, aber ich weiß, dass sie sich dringend erholen muss.«

Die beiden Frauen schwiegen eine Weile, jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Sie saßen in einem der kleineren Salons von Schloss Sternberg, denn draußen war es ungemütlich und regnerisch. In den Tagen zuvor hatte man noch auf der Terrasse sitzen können.

Endlich sagte die Baronin: »Wenn du willst, fahre ich mit dir nach Frankfurt, Alexa. Ich bin zwar kein Ersatz für Bettinas Vater, aber vielleicht freut sie sich doch, mich zu sehen.«

»Ist das dein Ernst, Sofia?« Alexas Augen strahlten. »Du würdest nicht nur Tina eine große Freude machen, sondern auch mir.«

»Dann ist es also abgemacht«, erklärte Sofia. »Am Samstag kommt sie?«

»Ja, aber sehr früh morgens leider. Wir müssten also schon am Freitag anreisen.«

»Kein Problem«, sagte Sofia vergnügt. »Dann machen wir uns vorher in Frankfurt einen schönen Tag. Ich werde die Abwechslung genießen!«

»Du hast eine wunderbare Gabe, immer das Positive zu sehen«, meinte Alexa. »Jetzt erzähl mir, wie es euch geht. Bisher haben wir nur von mir gesprochen.«

»Den Kindern geht es gut, Fritz ist schrecklich beschäftigt, wie immer in letzter Zeit. Seit er mit der Pferdezucht solchen Erfolg hat, denkt er ständig darüber nach, was er noch verbessern könnte. Wir sind zufrieden, Alexa.«

»Ich habe Christian ja vorhin kurz gesehen – er wirkt erstaunlich gelassen, finde ich. Und er ist reifer geworden. Wenn man bedenkt, dass er vor nicht allzu langer Zeit seine Eltern verloren hat, dann ist er in erstaunlich guter Verfassung.«

»Wir bewundern ihn alle«, murmelte die Baronin.

Alexa beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Und ich bewundere dich, Sofia. Du hast deine Lieblingsschwester verloren, mit der du immer über alles reden konntest, was dich bewegte. Das muss hart sein.«

Die Augen der Baronin schwammen nun plötzlich in Tränen. »Sie fehlt mir sehr«, sagte sie leise. »Jeden Tag fehlt sie mir, Alexa.«

»Ja, ich weiß.«

Fürstin Elisabeth und Fürst Leopold von Sternberg waren vor etlichen Monaten bei einem Hubschrauberunglück ums Leben gekommen. Ihr fünfzehnjähriger Sohn Christian war nun praktisch das dritte Kind seiner Tante Sofia und ihres Mannes. Die Familie von Kant lebte bereits seit langem auf Schloss Sternberg, so dass sich Christians äußere Lebensumstände kaum verändert hatten.

Aber er war jetzt Vollwaise – und mehr denn je ruhten auf ihm große Hoffnungen, denn er würde der nächste Fürst von Sternberg sein. Bis zu seiner Volljährigkeit in drei Jahren würde er freilich weiterhin den Namen tragen, den ihm die Bevölkerung gegeben hatte, seit er als winziger Junge neben seinem sehr großen Vater zum ersten Mal in der Öffentlichkeit aufgetreten war: ›der kleine Fürst‹.

»Sag mal, Sofia, würden vielleicht die Kinder auch gern mit nach Frankfurt fahren? Für Teenager ist eine Großstadt doch bestimmt interessant.«

Die Baronin überlegte. Ihr Sohn Konrad war sechzehn, er hatte für gewöhnlich eigene Pläne. Aber Anna, die Dreizehnjährige, und ihr Neffe Christian würden sie vielleicht tatsächlich gern begleiten. »Wir fragen sie«, schlug sie vor. »Fritz ist mit Sicherheit unabkömmlich, das kann ich dir jetzt schon sagen.«

Ihre Vermutungen erwiesen sich als richtig: Konrad war bereits verabredet und zeigte auch sonst wenig Neigung zu einem Kurzbesuch in Frankfurt, der Baron hatte tatsächlich keine Zeit, aber Anna und Christian waren Feuer und Flamme.

»Endlich mal eine Großstadt!«, rief Anna.

»Besonders groß ist Frankfurt nicht«, warnte Alexa. »Aber der Flughafen ist gigantisch, das immerhin kann ich euch versprechen.«

»Und wir wohnen da in einem Hotel?«, erkundigte sich Christian.

»Aber nein«, erklärte Alexa, »wir haben eine Villa in Frankfurt, weil Henning öfter in der Stadt zu tun hat. Sie liegt sehr hübsch, und von dort aus ist es auch gar nicht weit zum Flughafen. Also, wir holen euch dann ab am Freitag.«

»Wir?«, fragte Sofia verwundert.

»Unser Chauffeur und ich – auf keinen Fall fahre ich selbst. Der Verkehr rund um Frankfurt ist die Hölle, Sofia.«

»Mit anderen Worten: Wir müssen uns um nichts kümmern«, stellte die Baronin vergnügt fest. »Wenn Fritz das hört, bekommt er vielleicht Lust, sich uns doch noch anzuschließen.«

Doch Baron Friedrich hatte bereits zwei wichtige Termine für das Wochenende ausgemacht, die er nicht mehr verlegen konnte. »Ich schätze, ihr werdet mich nicht vermissen«, schmunzelte er.

Als Alexa sich verabschiedet hatte, begannen Anna und Christian Pläne für den Aufenthalt in Frankfurt zu schmieden. Die Baronin machte sich indessen keine Gedanken. Sie würde es genießen, mit ihrer Freundin Alexa zusammen zu sein und deren Tochter Bettina wiederzusehen, die nicht nur eine beeindruckend willensstarke junge Frau war, sondern auch eine sehr attraktive und sympathische dazu.

Es würde ein wundervoller Ausflug werden!

*

»Hier, hast du das gesehen?«, fragte Moritz Werner und wies auf ein Plakat. »Ein Vortrag von einer Ärztin, die gerade aus dem Kongo zurückgekehrt ist. Sie spricht über die politische Situation und deren Einfluss auf die Arbeit der Hilfsorganisationen dort. Du als Autor mehrerer Afrika-Bücher müsstest daran doch eigentlich interessiert sein.«

»Dr. Bettina von Rabenfels«, las Moritz’ Freund Konstantin von Klawen. »Nie gehört, den Namen.«

»Es kommt doch auch nicht auf den Namen der Frau an, sondern darauf, worüber sie redet. Ich gehe auf jeden Fall hin.«

»Klar«, meinte Konstantin. »Die Arbeit der Hilfsorganisationen in Afrika ist schließlich das Thema deiner Doktorarbeit.«

»Eben. Nicht, dass ich mir wesentliche neue Erkenntnisse erhoffe, aber interessant ist es bestimmt.«

»Wann ist der Vortrag?«

»Nächste Woche. Gehst du mit?«

»Ja, ich denke schon. Irgendwie muss ich auch mal wieder raus aus meiner Bude. Und am Mittwoch bin ich hoffentlich schon ein ganzes Stück weiter als jetzt mit diesem verflixten Manuskript.« Konstantin unterdrückte einen Seufzer.

»Du siehst ziemlich fertig aus«, stellte Moritz fest.

»Wundert dich das? Ich arbeite einfach zu viel – aber es lässt sich nun einmal nicht ändern.« Konstantin war kurz davor, sein drittes Buch über Afrika zu veröffentlichen – der schwarze Kontinent war seine Leidenschaft, seit er als Kind mehrere Jahre dort gelebt hatte. Sein Vater war Diplomat, so hatte die Familie oft umziehen müssen. Die Jahre in Afrika gehörten für Konstantin zu den prägendsten.

Er hatte Afrikanistik studiert, beherrschte mehrere afrikanische Sprachen und hielt sich jedes Jahr einige Monate in Afrika auf, wo er Studien für seine Bücher betrieb. Von denen konnte er zum Glück recht gut leben. Er brauchte nicht viel, um sich wohl zu fühlen, sein Lebensstil war bescheiden.

»Wann musst du das Manuskript denn abliefern?«, fragte Moritz. »Ich dachte, du hättest noch ein biss­chen Zeit?«

»Habe ich ja auch, aber in einem der Kapitel steckt ein Fehler – ich muss es komplett überarbeiten.«

»Du und ein Fehler? Das glaube ich dir nicht.«

»Ist aber so«, brummte Konstantin. »Du weißt doch: Kein Mensch ist perfekt. Ich habe etwas übersehen – eine wichtige Information. Traurig, aber wahr, und jetzt muss ich dafür büßen.«

»Schade, ich wollte dich eigentlich überreden, endlich mal wieder mit mir ein Bier trinken zu gehen heute Abend.«

»Vergiss es«, sagte Konrad. »Vergiss es mindestens bis zur Abgabe meines Manuskripts – dann können wir darüber reden. Aber den Mittwoch schaufele ich mir irgendwie frei, das verspreche ich dir.«

»Es ist schwer, dein Freund zu sein!«

»Ich weiß, und ich danke dir, dass du so hartnäckig bist und noch nicht aufgegeben hast.«

Sie verabschiedeten sich mit einer herzlichen Umarmung voneinander. »Bis Mittwoch dann«, sagte Moritz. »Solltest du vielleicht vorher doch das Bedürfnis verspüren, deine Arbeit mal eine Stunde lang allein zu lassen – sag mir bitte Bescheid.«

Konstantin nickte, aber sie wuss­ten beide, dass dieser Fall nicht eintreten würde.

*

»Alles in Ordnung, Marie?«, erkundigte sich Eberhard Hagedorn, der schon seit langen Jahren Butler auf Schloss Sternberg war. Er stand in der Tür zur weitläufigen Küche.

Die junge Köchin Marie-Luise Falkner hatte ihn offenbar nicht kommen hören, denn sie fuhr erschrocken herum. »Meine Güte, Herr Hagedorn – wo kommen Sie denn so plötzlich her?«

»Gar nicht plötzlich, ich stehe hier schon eine ganze Weile und sehe Ihnen zu, wie Sie den neuen Herd betrachten.«

»Ja, jetzt ist er da, und ich würde ihn gern ausprobieren, aber ausgerechnet an diesem Wochenende ist der Herr Baron ganz allein. Ich gebe mir natürlich auch für eine einzelne Person die größte Mühe, aber es frus­triert mich trotzdem, falls Sie das verstehen können.«

»Ich verstehe es, aber das wird ja nicht lange so bleiben, Marie. Morgen kommen doch die Herrschaften schon wieder!«

»Ich rede aber von heute! Und heute bin ich frustriert, Herr Hagedorn. Die Küche ist neu, der Herd ist neu – und die Köchin ist praktisch arbeitslos. Eine Tragödie.«

»Sie übertreiben. Eine Tragödie hätte dieser Brand werden können …«

Wenige Wochen zuvor war in der Schlossküche ein Brand ausgebrochen. Marie-Luise war in letzter Minute von einem beherzten Gast und dem kleinen Fürsten gerettet worden – sie hatte eine Kohlen­monoxydvergiftung davongetragen. Von dem Brand war nichts mehr zu sehen, und nicht nur die junge Köchin war der Ansicht, dass dieser Brand sich letzten Endes segensreich ausgewirkt hatte: Die Küche erstrahlte in neuem Glanz, nicht nur der Herd war ausgetauscht worden, sondern auch noch ein paar andere veraltete Geräte.

»Erinnern Sie mich nicht an den Brand«, bat Marie-Luise. »Bevor ich ohnmächtig geworden bin, glaubte ich sicher zu wissen, dass ich sterben würde – ausgerechnet hier, wo ich mich so gern aufhalte, Herr Hagedorn.«

»Das muss schrecklich gewesen sein«, erwiderte der alte Butler mitfühlend.

Sie nickte stumm, und er erkannte, dass es besser wäre, das Thema zu wechseln. »Sie könnten sich für morgen ein ausgefallenes Menü ausdenken«, schlug er vor. »Das würde bestimmt gut ankommen. Es müssen doch nicht immer Gäste anwesend sein, wenn Sie etwas Besonderes auf den Tisch bringen, Marie.«

»Da haben Sie aber wirklich Recht!« Ihre Miene hellte sich auf. »Und das Thema wird ›Frankfurt‹ sein, Herr Hagedorn.«

Er betrachtete sie zweifelnd. »Sie wollen aber wohl doch keine Frankfurter Würstchen servieren, Marie?«

Sie lachte schallend, plötzlich war ihre gute Laune zurückgekehrt. »Lassen Sie mich nur machen, Herr Hagedorn – und nun raus aus meiner Küche, wenn ich bitten darf, ich habe zu arbeiten.«

Schmunzelnd zog er sich zurück. Endlich war sie wieder die tatkräftige junge Frau, die er kannte!

*

»Ganz schön hoch!«, stellte der kleine Fürst fest, und Anna setzte hinzu: »So klein, wie Alexa behauptet hat, ist Frankfurt gar nicht.«

Sie waren auf der Aussichtsplattform eines der Frankfurter Hochhäuser – es hieß ›Maintower‹. Außer ihnen waren nur wenige Besucher hier oben, das diesige Wetter hatte die Leute wohl abgeschreckt.

Mit einem Stadtplan bewaffnet waren Anna und Christian allein losgezogen, obwohl die Baronin zahlreiche Bedenken geäußert hatte. »Aber es gibt doch so viele Kriminelle in Frankfurt!«

Alexa hatte sich jedoch auf die Seite der beiden Teenager geschlagen: »Es ist heller Tag, Sofia, außerdem sind die beiden ja keine kleinen Kinder mehr. Sie werden nicht auffällig mit großen Geldscheinen herumwedeln, sie tragen keinen Schmuck, ihre Handys zeigen sie nicht – und deshalb sieht nichts an ihnen so aus, als könnte es sich lohnen, sie zu überfallen.«

Sofia war skeptisch geblieben, aber sie hatte nachgegeben, als Anna sie noch einmal nachdrücklich daran erinnerte, dass Christian und sie sogar schon einmal ganz allein verreist waren. »Und da sind auch keine Katastrophen passiert, Mama!«

Sie hatte zwar noch gesagt: »Da wart ihr auch nicht in einer Großstadt«, doch das war nur das letzte Aufbäumen gewesen. Sie wusste selbst, dass Anna und Christian vernünftig und auch vorsichtig waren – sie würden sich mit Sicherheit nicht in gefährliche Situationen begeben. Außerdem wollten Alexa und sie einigen eleganten Geschäften in der Goethestraße einen Besuch abstatten, und dabei hätten die Teenager nur gestört.

»Fahren wir wieder runter?«, fragte Anna.

Christian nickte, und wenige Minuten später standen sie unten auf der Straße, die vor allem eine Autoschneise war. Zu sehen gab es hier praktisch nichts, aber die Alte Oper war nicht weit, und das war ihr nächstes Ziel. Auf dem Opernplatz gab es nämlich eine Open-Air-Veranstaltung mit Live-Musik, die sie sich anhören wollten.

»Das ist schon was anderes hier als bei uns zu Hause«, sagte Anna. »Bisschen wenig Natur, finde ich, aber sehr interessant.«

Diese Ansicht teilte der kleine Fürst. Er warf einen Blick auf den Stadtplan. »Hier links rum, dann müsste der Opernplatz rechts von uns liegen.«

Sie hörten die Musik bereits, bevor sie auf dem Platz angelangt waren – gleich darauf staunten sie über die Menschenmenge, die sich dort versammelt hatte. Nur mit Mühe konnten sie sich so weit vordrängeln, dass sie wenigstens die Band auf der Bühne gut sehen konnten.

Und dann vergaßen sie, dass sie fremd in dieser Stadt waren. Sie fingen an zu wippen und zu tanzen wie all die anderen Zuhörer um sie herum auch, und sie vergaßen die Zeit.

*

»Ich bin froh, dass ich mich entschlossen habe, dich zu begleiten«, erklärte Sofia.

Alexa warf einen amüsierten Blick auf ihre Tüten und Pakete. »Wir haben ziemlich viel eingekauft«, bemerkte sie. »Aber ich glaube, es waren gute Käufe.«

»Das denke ich auch. Und jetzt?« Die Baronin warf einen Blick auf die Uhr. »Anna und Christian haben ja gesagt, sie finden allein zurück, also könnten wir doch in euer schönes Haus fahren, uns einen Tee servieren lassen und die Füße hochlegen, was meinst du?«

Alexa war einverstanden. Sie steuerten also den Ort an, wo sie den Chauffeur mit dem Wagen zurückgelassen hatten, und gleich darauf befanden sie sich auf dem Rückweg zur Mörfelder Landstraße, wo die Villa der Familie Rabenfels stand.

Sofia war nie zuvor hier gewesen und konnte über das herrschaftliche Anwesen, das am Rande des Stadtwaldes lag, nur staunen. »Seid ihr wirklich so oft hier, dass sich der Unterhalt eines solchen Hauses lohnt, Alexa?«, hatte sie ausgerufen.

»Ach, weißt du, es ist eher Bequemlichkeit. Hier ist alles, was man braucht, um sich wohlzufühlen. Das Personal ist engagiert – wir brauchen nur anzurufen, und dann wissen wir, dass alles in Ordnung ist, wenn wir kommen. Natürlich lohnt es sich nicht, um deine Frage zu beantworten. Aber lohnt es sich, ein Schloss zu bewohnen?«

»Nein, wahrhaftig nicht«, hatte Sofia zugeben müssen.

Sie genoss den Aufenthalt in dieser eleganten Villa mit dem großzügigen Park. Alles war natürlich kleiner als auf Sternberg, aber man konnte die beiden Wohnsitze durchaus miteinander vergleichen. Wer hätte gedacht, überlegte sie, dass eine Stadt, die den Ruf hat, ziemlich hässlich und außerdem eine Hochburg der Kriminalität zu sein, so schöne Ecken hat?

Schöne Ecken hatte sie bei ihrem Bummel durch die Innenstadt reichlich gesehen. Alexa kannte sich in Frankfurt erstaunlich gut aus und hatte ihr nicht nur den Dom gezeigt, sondern auch die beeindruckende Leonhardskirche, die Alte Oper, das Mainufer, den Römerberg. Sofia sah die Stadt bereits nach wenigen Stunden mit anderen Augen.

»Herrlich!«, seufzte sie, als sie in der Villa tatsächlich die Füße hochlegten und Tee tranken. »Ich danke dir, Alexa, dass du uns diesen wundervollen Aufenthalt hier ermöglicht hast.«

»Ich habe zu danken, denn sonst säße ich jetzt allein hier und hätte mich vermutlich gelangweilt. Weißt du, Sofia, so ein Haus ist nur schön, wenn es mit Leben erfüllt ist. Ganz allein fühlt man sich schnell einsam darin. Sag mal, wann wollen wir essen? Ich sollte in der Küche Bescheid sagen.«

»Anna und Chris haben versprochen, um sechs wieder hier zu sein. Um sieben? Ich meine, falls sie sich ein bisschen verspäten.«

Alexa nickte und verschwand, kehrte jedoch bald zurück und ließ sich wieder in ihren Sessel sinken. »Und gleich probieren wir unsere neuen Sachen an, ja?«

Sofia lachte. »Mit Vergnügen!«

*

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte die Stewardess freundlich.

Bettina von Rabenfels schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, alles in bester Ordnung«, sagte sie.

»Die zwei sind ja wirklich richtige Engel«, bemerkte die Stewardess. »Normalerweise sind Babys an Bord nicht so ruhig.«

»Ich warne Sie vor: Sie werden vermutlich nicht den ganzen Flug verschlafen«, meinte Bettina. »Wir haben ja noch etliche Stunden vor uns.«

»Sind das Zwillinge?«

»Ja, ein Jahr alt. Sie krabbeln noch, aber bestimmt fangen sie bald an zu laufen.«

»Zwei Mädchen?«, fragte die Stewardess.

»Ein Mädchen und ein Junge«, erklärte Bettina.

»Wirklich süß«, sagte die Stewardess. »Wenn was ist, rufen Sie mich bitte gleich.«

Bettina nickte, hatte jedoch nicht vor, die Hilfe der jungen Frau in Anspruch zu nehmen. Sie hoffte, allein zurechtzukommen.

Miriam und Paul waren bisher tatsächlich mustergültig brav gewesen. Nicht einmal gequengelt hatten sie, auch nicht beim Start, der gewöhnlich heikel war. Nein, ganz ruhig waren sie geblieben, hatten Bettina mit ihren großen dunklen Augen angesehen und scheinbar jedes Wort verstanden, das sie zu ihnen gesagt hatte. Nun schliefen sie. Die Stewardess hatte schon Recht: wie zwei Engelchen. Sanft strich sie erst Miriam, dann Paul über die runden weichen Wangen. »Ihr Süßen«, sagte sie leise.

Dann lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Es war spät, sie sollte versuchen, ein wenig zu schlafen. Morgen stand ihr ein anstrengender Tag bevor – ach was, die nächsten Wochen würden anstrengend werden, aber sie würde die Sache durchziehen, so, wie sie es sich vorgenommen hatte. Schwierigkeiten hatten sie noch nie abgeschreckt. Die Reaktion ihrer Eltern beim Anblick der Zwillinge konnte sie sich nur allzu gut vorstellen. Das würde nicht einfach werden, aber sie war schon mit ganz anderen Problemen fertig geworden in den vergangenen zwei Jahren, sie würde auch das schaffen.

Sie schlummerte bald darauf ein, aber es war ein unruhiger Schlaf, der ihr nicht wirklich Erholung brachte, außerdem wachte sie ständig auf. Noch nie hatte sie im Flugzeug gut schlafen können, sie bedauerte das und beneidete die Leute glühend, denen es anders ging. Der dicke Mann jenseits des Ganges zum Beispiel schlief seit Stunden tief und fest.

Sie seufzte. Es war nun einmal nicht zu ändern.

*

»Wir sollten schlafen gehen«, schlug die Baronin vor, wobei sie ein Gähnen unterdrückte. »Tina kommt morgen ja schon sehr früh an.«

»Danke für alles, Alexa«, sagte der kleine Fürst. »Das war ein ganz toller Tag hier in Frankfurt – wir hätten die Stadt sonst vielleicht nie kennengelernt.«

»Ich bin froh, dass es euch gefallen hat«, versicherte Alexa. »Und ich selbst habe es auch genossen, euch hier zu haben.«

»Und ich bin froh, dass ihr heil zurückgekommen seid«, setzte die Baronin hinzu. »Als es halb sieben wurde, ohne dass wir etwas von euch hörten, hatte ich allmählich ein mulmiges Gefühl in der Magengrube, das muss ich schon sagen.«

»Das lag an der Straßenbahn, Mama! Die hatte Verspätung. Außerdem haben wir dann ja angerufen.«

»Ich weiß, ich weiß – und ich freue mich, dass ihr so ein tolles Konzert hören konntet.« Anna und Christian hatten begeistert davon berichtet und durchblicken lassen, dass sie gern auch noch länger geblieben wären.

»Ihr seid hier jederzeit herzlich willkommen«, meinte Alexa. »Ihr seht ja selbst: Platz ist genug da.«

Sie erhoben sich alle gleichzeitig. Das Essen war sehr gut gewesen, sie hatten sich währenddessen lebhaft über ihre Eindrücke von Frankfurt unterhalten. Das Fazit fiel einstimmig aus: Die Stadt war besser als ihr Ruf.

»Fast ist es ein bisschen schade, dass wir morgen schon zurückfahren, oder?«, fragte Anna, als Chris­tian und sie auf ihre Gästezimmer zusteuerten.

Er nickte, sagte aber nichts. Sein Gesicht war ernst.

Sie wusste, dass er an seine Eltern dachte, die auf dem Familienfriedhof am Rande des Sternberger Schlossparks ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Er stattete ihnen jeden Tag einen Besuch ab und unterhielt sich in Gedanken mit ihnen. Es gab Leute, die das sicher seltsam gefunden hätten, doch Anna fand es ganz normal. Sie glaubte ihrem Cousin auch, dass seine Eltern ihm Zeichen schickten, denen er entnehmen konnte, dass sie ihn hörten und seinen Lebensweg weiterhin begleiteten.

»Schlaf gut, Chris.«

Er lächelte schon wieder. »Gut vielleicht, aber mit Sicherheit nicht lange genug. In sechs Stunden landet die Maschine ja schon.«

Anna verschwand gähnend in ihrem Zimmer.

*

Konstantin fluchte leise vor sich hin. Er hatte das Kapitel, in dem er den Fehler entdeckt hatte, umgeschrieben, war aber noch immer weit davon entfernt, zufrieden zu sein. Er würde es noch mindestens zwei Mal gründlich überarbeiten müssen, dabei war er auch mit dem restlichen Manuskript noch längst nicht fertig. Die Zeit lief ihm davon, und er wusste nicht, wie er es schaffen sollte, den Abgabetermin einzuhalten, obwohl er immer bis tief in die Nacht arbeitete.

So auch heute. Es war drei Uhr morgens, er konnte einfach nicht mehr denken. Wenn er jetzt nicht aufhörte, würde er wahrscheinlich irgendwann anfangen, Unsinn zu schreiben. Er fuhr den Computer herunter und schaltete ihn aus. Dann stand er auf, dehnte und streckte sich und fluchte erneut. Ihm tat der Rücken weh, der Nacken war verspannt und als er sein Gesicht im Badezimmerspiegel betrachtete, erschrak er regelrecht. Dieses bleiche Gespenst mit den dunklen Rändern unter den Augen sollte er sein, Konstantin von Klawen, ein attraktiver groß gewachsener Mann mit braunen Haaren und braunen Augen, dem man nachsagte, dass er eine große Anziehungskraft auf Frauen ausübte?

»Wenn sie mich jetzt sehen könnten«, brummte er, »würden sie garantiert allesamt die Flucht ergreifen.«

Sein Telefon klingelte, er konnte es kaum glauben. Aber dann beeilte er sich, den Apparat zu suchen – um diese Zeit rief nur eine an: seine verrückte Verlegerin Helen Marienhagen. Sie war eine Nachteule wie er und wusste, dass er vermutlich noch nicht im Bett lag oder sich gerade erst hineingelegt hatte.

»Habe ich dich geweckt?«, lautete ihre erste Frage.

»Nein, Helen, das hast du nicht. Ich habe eben erst aufgehört zu arbeiten. Der Zeitdruck macht mich ziemlich fertig, wenn ich ehrlich sein soll.«

»Deshalb rufe ich ja an«, erklärte sie. »Ich habe mit meinen Leuten hier gesprochen, ob wir dir irgendwie mehr Zeit verschaffen können. Also, wir bieten dir zwei Wochen an – mehr geht nicht.«

»Sag das noch mal«, bat er. »Hast du eben gesagt, dass ich zwei Wochen zusätzlich bekomme?«

»Das habe ich gesagt«, bestätigte sie. »Aber wenn du noch einen Fehler entdeckst …«

Er hatte ihr offen gesagt, dass eins der Kapitel auf einer falschen Voraussetzung beruhte – mit Helen hatte er schon immer offen reden können. Er wusste, dass sie ihr Wissen niemals gegen ihn verwenden würde.

»Garantiert nicht«, erklärte er energisch. »Ich könnte dir jetzt auch erklären, wie es passieren konnte, dass mir diese Information entgangen ist, aber das würde zu weit führen. Wenn ich zwei Wochen zusätzlich kriege, schlafe ich jetzt erst einmal vierundzwanzig Stunden, wenn es recht ist.«

Sie lachte. Er sah sie vor sich: eine hübsche junge Frau mit roten Locken, die er nur in Jeans und Lederjacken kannte. Beides stand ihr ausgezeichnet, was sie natürlich wusste. Ihr Mann war Rockmusiker. Die meisten Leute ahnten nicht einmal, dass Helen verheiratet war – glücklich zudem. Clemens vergötterte sie, und sie verpasste keins seiner Konzerte. Clemens und seine Band waren mittlerweile ziemlich erfolgreich, von Jahr zu Jahr waren sie bekannter geworden. Er gönnte Helen ihr Glück von Herzen. Sie gehörte zu den Menschen, denen er vorbehaltlos vertraute, und davon gab es nicht allzu viele.

»Von mir aus kannst du noch länger schlafen, du musst nur wissen, dass es keine weitere Verlängerung geben wird. Aber da du bisher mein pünktlichster Autor warst und mich außerdem noch nie mit einem Manuskript enttäuscht hast, fand ich, dass wir dir jetzt mal ein wenig entgegenkommen sollten.«

»Und was hast du den anderen erzählt? Welchen Grund hast du angegeben?«

»Eine hartnäckige Grippe, die dich aus dem Zeitplan geworfen hat«, antwortete sie unbekümmert. »Der wahre Grund geht außer uns beiden doch niemanden etwas an, oder?«

»Helen, du bist die Größte.«

»Ja, das sagt Clemens auch immer. Schlaf schön, Tino, und geh danach möglichst schnell wieder an die Arbeit, hörst du?«

»Versprochen.«

Bis eben hatte er noch bis zu den Haarspitzen unter Stress gestanden, nun hatte er plötzlich genügend Zeit, sein Manuskript so zu bearbeiten, wie er es sich wünschte. Er fühlte sich wie ein Ballon, aus dem ganz langsam die Luft wich. Die Vorstellung, sich ausschlafen zu können, keinen Wecker stellen zu müssen und irgendwann am morgigen Tag – oder auch erst übermorgen – mit frischen Kräften wieder ans Werk zu gehen, war überwältigend.

Er blieb, erschöpft, aber glücklich, noch eine ganze Weile sitzen und beobachtete sich selbst dabei, wie er immer schlaffer und entspannter wurde. Als er schließlich zu Bett ging, schlief er umgehend ein.

*

»Wir beginnen gleich mit dem Landeanflug – in einer halben Stunde sind wir da«, sagte die Stewardess. »Und Ihre Vorhersage hat sich nicht erfüllt: Die beiden sind brav geblieben.«

Bettina lachte. »Ich habe sie bestochen, mit Essen«, bekannte sie. »Um fünf sind sie aufgewacht und sahen so aus, als wollten sie anfangen zu weinen. Da habe ich sie schnell abgelenkt. Wenn wir gelandet sind, wird es dann allerdings Zeit für die Morgentoilette.«

Nun lachte auch die Stewardess. »Dafür ist es an Bord jetzt allerdings ein wenig spät«, erwiderte sie. »Die Waschräume sollten ab jetzt nicht mehr aufgesucht werden.«

»Es geht sowieso nicht, wenn ich nicht beide zugleich mitnehmen kann – dann würden sich hier bald alle die Ohren zuhalten, und das will ich lieber nicht riskieren.«

»Ich muss sie immer ansehen – in dem Alter sind Babys einfach hinreißend, finde ich.«

»Haben Sie selbst Kinder?«

»Noch nicht, aber ich hoffe bald.« Die Stewardess errötete. »Ich bin erst seit ein paar Monaten verheiratet, aber wir wünschen uns sehnlichst Kinder, mein Mann und ich.«

»Dann alles Gute für Sie.«

»Vielen Dank.«

Die Stewardess eilte weiter, sie musste sich ja auch um die anderen Passagiere kümmern.

Miriam und Paul waren wach. Beide spielten mit den Plastikenten, die Bettina ihnen gegeben hatte. Man konnte sie zusammendrücken, in den Mund stecken – und natürlich auch wegwerfen, weil es so lustig war, wenn Bettina sich dann jedes Mal bemühen musste, sie wiederzufinden. Besonders Paul liebte dieses Spiel.

»Pass bloß auf, Paulchen!« Scherzhaft drohte Bettina dem Kleinen mit dem Finger. »Beim nächsten Mal lasse ich die Ente liegen, dann guckst du aber dumm.«

Er quietschte vor Vergnügen – und schon flog die Ente wieder zu Boden.

»Tja, ich habe dich gewarnt. Nun ist sie weg!«

Der Junge guckte groß. Bis eben war das Spiel lustig gewesen, jetzt gefiel es ihm nicht mehr. Sein rundes Gesichtchen verzog sich, schon öffnete er den Mund – da erschien die Ente wieder vor seinem Gesicht.

»Aber ich behalte sie jetzt, mein Kleiner. Wir landen nämlich bald – und im Landeanflug werde ich nicht nach deinem Spielzeug tauchen. Ich hoffe, das verstehst du?«

»Dadada!«, sagte Miriam, und daraufhin war ihr Bruder ruhig.

»So ist es fein, ihr beiden. Ruht euch noch ein bisschen aus – es wird turbulent werden nach der Landung, das kann ich euch versichern.«

Besonders beeindruckt wirkten sie nicht. Zum Glück waren sie noch zu klein, um mitzubekommen, was sich nach ihrer Ankunft in Frankfurt abspielen würde. Bettina wusste es dafür umso besser, und sie versuchte, sich innerlich zu wappnen.

Allmählich, stellte sie fest, wurde sie nun doch nervös.

*

Endlich waren sie alle wach. Auf der Fahrt zum Flughafen hatte vor allem Anna noch hin und wieder verstohlen gegähnt, doch sobald sie den Terminal 1 betreten hatten, verflog auch ihre Müdigkeit. »So groß hatte ich mir das hier nicht vorgestellt!«, sagte sie staunend.

Alexa lachte. »Es gibt auch nicht viele Flughäfen auf der Welt, die größer sind«, erklärte sie. »Also seht euch um. Man kann hier ziemlich lange herumlaufen, ohne alles zu sehen.«

»Wir haben noch Zeit, oder?«, fragte der kleine Fürst. »Dann könnten wir doch …«

Bevor die Baronin ihre Bedenken äußern konnte, tat es Alexa. »Hier verirrt man sich leicht, Chris – und ich kann euch keinen Plan in die Hand geben, der euch bei der Orientierung hilft. Zwar ist alles gut ausgeschildert, aber man braucht trotzdem eine gewisse Zeit, bis man sich zurechtfindet. Lasst uns lieber zusammenbleiben, ja? Oder zumindest in Sichtweite.«

Christian und Anna fügten sich, da sie Alexas Argumente nachvollziehen konnten. Es war sicherlich nicht einfach, sich hier wiederzufinden, wenn man sich erst einmal verloren hatte.

»Das Flugzeug ist auch schon gelandet«, stellte Alexa in diesem Augenblick fest.

»Woher weißt du das denn?«, fragte Anna verwundert.

»Da, auf der großen Anzeigetafel, siehst du? Vorne steht die Flugnummer und die Fluggesellschaft, dann der Abflugort – und hinten stehen Informationen zur Landung. Tinas Flugzeug kommt aus Libreville in Gabun.« Alexa nannte die Flugnummer, und nun sahen es auch Anna und Christian, dass am Ende der Zeile ›gelandet‹ stand.

»Und wozu sind die Monitore da, die hier überall herumstehen?«

»Auf der Anzeigetafel haben ja nicht so viele Flüge Platz, aber auf den Monitoren kannst auch Flüge aufrufen, die erst für den Nachmittag erwartet werden – da steht dann vielleicht jetzt schon, ob mit Verspätungen zu rechnen ist.«

Sie entdeckten noch weitere interessante Dinge, und so verging die Zeit wie im Flug. Plötzlich rief die Baronin: »Da kommen die ersten – das muss Tinas Maschine sein.«

Sie reckten die Hälse. Afrikaner waren zu sehen, in weiten bunten Gewändern; etliche weiße Geschäftsleute in grauen Anzügen, ein paar Touristen. Nirgends jedoch konnten sie eine zarte blonde Frau entdecken.

Der jungen Mutter, die sich liebevoll über einen Zwillingskinderwagen beugte und mit ihren Babys redete, schenkten sie keine Beachtung, bis sie direkt vor ihnen stand und mit einem Lächeln sagte: »Na so was, das ist ja ein richtig großer Bahnhof für mich und meine Kinder!«

Alexa gab einen kleinen Krächzlaut von sich, während sie nach unten blickte. Auch die Baronin, Anna und Christian äugten neugierig in den Kinderwagen. Ihnen sahen zwei schokoladenbraune Gesichter entgegen, rund und niedlich anzusehen, mit reizenden, fast schwar­zen Kulleraugen und dichtem schwarzem Kraushaar.

Eins der Kinder sagte freundlich: »Dadada.«

»Das ist Miriam«, erklärte Bettina. »Ihr Bruder heißt Paul.«

Das andere Kind warf mit ver­gnügtem Quietschen eine Plastikente auf den Boden. Christian bückte sich hastig danach – er war froh, etwas tun zu können.

Anna war die Erste, die sich von ihrem Schrecken erholte. »Mensch, Tina!«, sagte sie. »Wir hatten ja keine Ahnung, dass du in Afrika zwei Kinder gekriegt hast.«

»Sollte eine Überraschung sein«, erklärte Bettina.

»Die ist dir gelungen«, brachte Alexa mit erstickter Stimme heraus.

Bettina ließ den Griff des Kinderwagens endlich los und umarmte sie. »Hallo, Mama«, sagte sie liebevoll und küsste sie. »Ich freue mich, wieder in Deutschland zu sein.«

Alexa brach in Tränen aus.

*

»Wie bitte?«, fragte Baron Friedrich verblüfft. »Sag das noch einmal, Sofia.«

»Tina ist mit schwarzen Zwillingen hier angekommen, Fritz. Die Kinder sind ein Jahr alt, und Tinas Eltern hatten keine Ahnung!«

»Sind es denn ihre Kinder?«, erkundigte sich Friedrich.

»Ja, das hat sie gesagt, gleich zur Begrüßung. Du kannst dir vorstellen, in welchem Zustand Alexa ist. Die Fahrt vom Flughafen hierher war ein wenig schwierig. Anna und Christian haben die Situation gerettet – sie haben mit Tina geredet und mit den Zwillingen geschäkert, als wäre alles ganz normal. Ich glaube, Alexa steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch.«

»Wo seid ihr jetzt?«

»Na, bei Rabenfels’, in der Frankfurter Villa. Tina hat gesagt, sie braucht ein bisschen Zeit, bevor wir zurückfahren können. Sie hat sich gleich mit den Zwillingen zurückgezogen – die beiden rochen ein wenig streng. Ich nehme an, sie mussten neu gewickelt werden. Und gefüttert werden müssen sie sicher auch noch. Alexa hat schon zwei doppelte Gläser Kognak getrunken.«

»Wie gut, dass du bei ihr bist«, stellte der Baron fest.

»Ehrlich gesagt: Das habe ich auch gedacht. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, Fritz, dass sich unsere Rückkehr verzögern wird.«

»Warum bleibt ihr nicht bis morgen?«, fragte er. »Vielleicht würde das helfen, die Situation zu entspannen. Es gäbe Tina und Alexa die Zeit, sich auszusprechen, bevor sie nach Hause kommen.«

»Du hättest nichts dagegen?«, fragte Sofia zweifelnd.

»Es wäre mir lieber, euch heute schon wieder hier zu haben, aber zur Not halte ich es noch bis morgen aus«, versicherte der Baron. »Besprich das mit den anderen und sag mir dann, wie ihr entschieden habt.«

Diese Entscheidung fiel blitzschnell.

Alexa atmete förmlich auf bei dem Gedanken, noch einen Aufschub zu bekommen, bis sie lauter neugierigen Freunden und Bekannten erklären musste, dass sie und Henning seit einem Jahr Großeltern waren, ohne es geahnt zu haben – von dem Gespräch mit ihrem Mann ganz zu schweigen.

Bettina war ebenfalls nicht dagegen, da sie fand, dass die Zwillinge ein wenig Ruhe gut gebrauchen konnten nach dem langen Flug, und Anna und Christian schließlich freuten sich auf einen weiteren Tag in Frankfurt, den sie in der Gesellschaft von Bettina und den Zwillingen verbringen würden.

Als die Baronin ihren Mann erneut anrief, um ihm die Entscheidung mitzuteilen, fragte er: »Und wer ist nun eigentlich der Vater der Zwillinge?«

»Gute Frage«, erwiderte die Baronin. »Aber ich kann dir leider keine Antwort geben, denn darüber schweigt Bettina sich aus. Und sie hat offenbar auch nicht die Absicht, dieses Geheimnis aufzuklären.«

»Das gibt Gerede«, vermutete Friedrich.

»Mehr als das, Fritz. Das gibt einen Skandal!«

*

Sie erregten überall Aufsehen. Wohin sie auch kamen mit den Zwillingen: Die Leute blieben stehen. Der Ausruf, den sie am häufigs­ten hörten, war: »Wie süß, guck doch mal!«

»Irgendwann nervt einen das«, maulte Anna nach einer Weile. »Und dass sie Miriam und Paul dann auch noch alle anfassen wollen – also, ich finde das unmöglich.«

»Entspann dich, Anna«, riet Bettina gelassen. »Besser, sie finden die Kinder süß, als dass sie ihnen Schimpfwörter nachrufen.«

»Schimpfwörter? Wieso das denn?«, fragte Anna.

»Weil sie schwarz sind und angeblich nicht hierher passen.«

Sie waren noch einmal in die Innenstadt gefahren. »Ich zeige euch den Palmengarten«, hatte Bettina gesagt. »Oder wart ihr da schon?«

»Nee, aber ein Garten? Wir haben doch zu Hause unseren Park …«

»Der Palmengarten ist anders, ihr werdet schon sehen. Und hinterher gehen wir in den Zoo.«

Sie stellten bald fest, dass Bettinas Vorschläge genau richtig gewesen waren. Im Palmengarten gingen sie mit großen Augen durch die Gewächshäuser. »Wie im Dschungel!«, rief Anna. »Jedenfalls stelle ich mir den Dschungel so vor!«

»Ist auch gar nicht so falsch, Anna.«

Sie picknickten auf einer Wiese am Rand eines Teichs. Die Zwillinge waren bester Laune und genossen die frische Luft ganz offensichtlich ebenso wie die Erwachsenen. Später, im Zoo, legten Anna und Christian ein weiteres Vorurteil zu den Akten: dass Zoos nur etwas für kleine Kinder waren. Sie bestaunten die Orang-Utans und die Giraffen ebenso, wie es Miriam und Paul taten.

Bettina freute sich über ihre Begeisterung, half sie ihr doch zu verdrängen, was ihr am nächsten Tag bevorstand. Sie rechnete mit einem Spießrutenlauf, und nun, da er näherrückte, verspürte sie plötzlich doch so etwas wie Angst vor der eigenen Courage. Wenn sie ihre Kräfte nun überschätzt hatte? Von Afrika aus hatte das Ganze zunächst einmal wie eine nicht allzu aufregende Angelegenheit ausgesehen – erst im Laufe der Zeit war ihr aufgegangen, worauf sie sich wirklich eingelassen hatte.

Am meisten fürchtete sie sich vor der Reaktion ihres Vaters. Sie wuss­te nicht, ob ihre Mutter in der Zwischenzeit mit ihm gesprochen hatte. Vermutlich nicht, er war heute noch in London. Er würde in jedem Fall außer sich sein. Sie seufzte, ohne es zu merken.

»Mach dir nicht so viele Sorgen, Tina«, sagte Christian in ihre Gedanken hinein.

Sie lächelte ihm zu. Was für ein angenehmer Junge er doch war – zurückhaltend und intelligent, genau wie Anna. Beide waren ebenso überrascht gewesen wie ihre Mutter, dennoch waren sie viel lockerer mit der Situation umgegangen. Na ja, dachte Bettina, sie sind auch nicht unmittelbar von meinen schwarzen Zwillingen betroffen, so wie meine Eltern. »Ich mache mir aber Sorgen«, erwiderte sie nach einer Weile. »Meine Mutter ist eigentlich hart im Nehmen. Wenn sie schon beinahe in Ohnmacht fällt beim Anblick der Zwillinge – was wird dann erst mein Vater sagen? Und all unsere lieben Verwandten und Bekannten?«

»Klatschen und tratschen«, meinte Anna. »Lass sie doch. Hauptsache, dir und den Zwillingen geht es gut. Sie sind toll, Tina.«

»Danke, ich finde sie auch toll.«

»Warum willst du eigentlich nicht verraten, wer der Vater ist?«

»Wozu soll ich das tun? Es kennt ihn hier ja doch keiner.«

»Das stimmt. Aber wenn deine Eltern wüssten, was er macht, wie du ihn kennengelernt hast und so – dann wäre es für sie bestimmt leichter.«

Bettina schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Gründe, Anna. Gute Gründe. Kein Mensch wird den Namen von Miriams und Pauls Vater aus mir herauskriegen, bis er selbst nach Deutschland kommt.«

»Hat er das vor?«

»Oh ja, das hat er.«

Anna fing einen Blick des kleinen Fürsten auf, mit dem er ihr sagte, sie solle das Thema fallenlassen – und das tat sie dann auch. Ungern zwar, denn Geheimnisse hatten sie schon immer gereizt, aber sie wollte Bettina ja auch nicht auf die Nerven gehen mit ihren Fragen.

Als sie den Zoo am Spätnachmittag verließen, waren sie sich jedenfalls darin einig, dass sie einen weiteren schönen Tag in Frankfurt verbracht hatten.

*

Alexa konnte nicht aufhören zu weinen. Seit Bettina mit Anna, Christian und den Zwillingen die Villa verlassen hatte, weinte sie, und es war Sofia bisher nicht gelungen, ein Argument zu finden, das wirklich Trost geboten hätte. »Wir sind erledigt, Sofia. Gesellschaftlich erledigt. Zwei uneheliche Kinder hat sie sich aus Afrika mitgebracht – und will noch nicht einmal sagen, von wem.«

»Das würde ja auch nichts ändern«, stellte Sofia sachlich fest. »Und ich kann, ehrlich gesagt, noch immer nicht begreifen, was du so schrecklich findest. Gut, ich gebe zu, ich wäre an deiner Stelle auch nicht gerade begeistert gewesen im ersten Augenblick, aber wenn man erst einmal Zeit hatte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, muss man doch zugeben, dass es Schlimmeres gibt. Die Kinder sind entzückend, Bettina scheint es gut zu gehen – und das ist doch eigentlich die Hauptsache, oder?«

Alexa schniefte. »Klar, vom Verstand her sage ich mir das auch, aber mein Gefühl will einen Schwiegersohn aus hiesigen Adelskreisen, Sofia. Eine schöne große Hochzeit – und dann erst die Kinder. Nun sind all unsere Pläne über den Haufen geworfen worden. Und was das Allerschlimmste ist: Kein Sterbenswörtchen hat sie gesagt. Ist neun Monate lang schwanger, bekommt zwei Kinder, feiert deren ers­ten Geburtstag – und wir, die Großeltern, wissen von nichts. Fast zwei Jahre lang verheimlicht sie uns etwas derart Wichtiges. Du musst zugeben, dass das schon Anlass zu Kummer bietet!«

»Ja, das gebe ich unumwunden zu«, erklärte Sofia. »Aber ich nehme an, dass Tina Gründe für ihr Verhalten hat – und dass sie euch diese Gründe irgendwann mitteilen wird.«

»Wir werden sehen«, seufzte Alexa. »Ach, es war alles so schön hier mit euch – und dann muss das so enden!«

»Muss es ja nicht«, fand die Baronin. »Wir können uns heute einen schönen Abend machen, bevor wir morgen zurückfahren – es hängt an dir, Alexa.«

»Du meinst, ich soll mich zusammenreißen?« Alexa lächelte kläglich.

»Zumindest solltest du es versuchen. Es ist das Leben deiner Tochter, nicht deins. Sie muss ihren Weg finden, und sie macht ja keinen unglücklichen Eindruck, oder?«

»Nein. Aber sag mir eins: Wie hat sie denn die ganze Zeit arbeiten können mit den Zwillingen?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht helfen sich in Afrika die Mütter untereinander – und wenn sie wissen, dass eine Mutter Ärztin ist, helfen sie sich möglicherweise erst recht.«

»Ich habe mich nicht mal getraut, ihr diese Frage zu stellen«, murmelte Alexa. »So verkrampft bin ich, Sofia! Ich fühle mich von ihr hintergangen.«

»Du wirst sie irgendwann fragen, aber nicht gleich jetzt. Ihr braucht beide ein bisschen Zeit.«

»Und Henning weiß es überhaupt noch nicht«, murmelte Alexa und brach erneut in Tränen aus.

*

Konstantin schlief zwar keine vierundzwanzig Stunden, aber er brachte es immerhin auf dreizehn. Als er aufwachte, war es fünf Uhr nachmittags. Im ersten Moment war er verwirrt und fragte sich, was passiert war, dann fiel ihm Helens Anruf wieder ein, und er blieb lächelnd noch eine Weile liegen. Er hatte einen Aufschub bekommen, er konnte seine Arbeit also in aller Ruhe vollenden und musste nicht mehr am Computer sitzen, bis er vor Erschöpfung beinahe zusammenbrach. Ein wundervolles Gefühl!

Das Telefon klingelte, es war Moritz. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

Konstantin lachte. Moritz war ein wirklich treuer Freund. Seit er sich Sorgen um Konstantin machte, weil dieser von Woche zu Woche schlechter aussah, rief er jeden Tag um diese Zeit an, um zu hören, ob alles in Ordnung war.

»Sogar bestens«, erklärte Konstantin. »Falls du heute ins Kino willst, wäre ich bereit, dich zu begleiten. Wir können aber auch einfach nur ein Bier trinken gehen.«

»Hä?«, fragte Moritz. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Keineswegs. Ich habe nur beschlossen, heute überhaupt nicht zu arbeiten – erst morgen wieder.« Bevor Moritz erneut fragen konnte, erklärte Konstantin, wie er zu diesem überraschenden Entschluss gelangt war. »Das ist meine Rettung, wie du dir denken kannst. Ich habe bis eben geschlafen. Wenn du es genau wissen willst: Ich liege noch im Bett.«

»Endlich mal eine gute Nachricht«, brummte Moritz. »Jetzt vertrödele aber bloß diese zusätzliche Zeit nicht.«

»Keine Bange«, erklärte Konstantin. »Du solltest eigentlich wissen, dass da keine Gefahr besteht.«

»Ich vergesse immer wieder, dass wir in der Hinsicht vollkommen unterschiedlich gestrickt sind! Kino und hinterher noch ein Bier, das fände ich am besten.«

Sie verabredeten sich also, und danach stand Konstantin endlich auf. Er blieb lange unter der Dusche stehen, rasierte sich ordentlich und betrachtete sich anschließend aufmerksam im Spiegel. Er fand, dass er zum ersten Mal seit Wochen wieder halbwegs normal aussah.

*

Sofia atmete auf, als sie sich an diesem Abend in ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Die letzten Stunden waren einigermaßen glimpflich verlaufen, obwohl Alexa ihre Kränkung und ihr Unverständnis nicht hatte verbergen können. Zwar hatte sie darauf verzichtet, ihrer Tochter weitere Vorwürfe zu machen, aber ihr Gesichtsausdruck war beredt gewesen.

Anna und Christian hatten sich zum Glück nicht darum gekümmert, und so war trotzdem ein recht lebhaftes Tischgespräch in Gang gekommen. Einmal hatte Bettina sich um Miriam kümmern müssen, da die Kleine angefangen hatte zu greinen – doch das war schnell vorüber gewesen.

Sie selbst hatte den Abend als anstrengend empfunden. Unterschwellige Spannungen waren immer schwer auszuhalten, fand sie, und so hatte sie weder das Essen noch die Unterhaltung genießen können. So schön es vor Bettinas Ankunft mit Alexa zusammen gewesen war, so mühsam fand sie es jetzt. Es würde schön sein, am folgenden Tag nach Sternberg zurückzukehren.

Es klopfte leise. »Ja, bitte?«

Zu Sofias Erstaunen kam Bettina herein. »Ich wollte mich bei dir bedanken, Sofia. Mir ist klar, dass du heute keinen sehr amüsanten Tag mit Mama verbracht hast. Trotzdem hast du die Ruhe bewahrt.«

»Es gibt ja auch nichts, was mich beunruhigen müsste, Tina. Versuch, deine Mutter zu verstehen. Sie hatte sich eben alles ganz anders vorgestellt.«

»Ich verstehe sie ja«, erklärte Bettina. »Und glaub mir: Ich habe mir auch vieles anders vorgestellt.«

»Irgendwann solltet ihr in Ruhe miteinander reden – das kann doch nicht so schwer sein, oder? Es sind so reizende Kinder, Tina, man muss sie einfach lieben.«

Bettina nickte, dann sagte sie etwas, das Sofia überhaupt nicht verstand: »Das ist es ja, was alles noch viel schwerer macht!«

»Wie meinst du das?«

»Ich kann es dir jetzt nicht erklären, Sofia. So, wie ich nicht erklären kann, warum ich über den Vater der Zwillinge nicht reden kann. Es gibt gute Gründe dafür.«

»Davon gehe ich aus«, erwiderte Sofia. »Gib deinen Eltern ein biss­chen Zeit, dann werden sie mit Sicherheit auf deiner Seite stehen.«

»Hat Mama schon … hat sie es meinem Vater schon erzählt?«

»Nein, noch nicht. Er ist ja noch unterwegs, muss offenbar schwierige Verhandlungen führen und fliegt erst heute Nacht zurück. Deshalb hat sie sich entschlossen, ihm noch nichts zu sagen. Außerdem, denke ich, wollte sie selbst versuchen, noch ein wenig Abstand zu gewinnen.«

»Was für ein Glück, dass ihr Mama nach Frankfurt begleitet habt, Sofia! Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich darüber bin. Wäre sie allein gewesen …« Bettina verstummte angesichts dieser Vorstellung.

Sofia umarmte die zarte junge Frau. »Jetzt hör auf, dich verrückt zu machen. Deine Eltern sind klug, sie lieben dich – und sie werden auch die Zwillinge lieben!«

Bettina nickte nur, drückte Sofia liebevoll an sich und verließ das Zimmer.

*

»Tolles Konzert«, sagte Helen Marienhagen zu ihrem Mann und küsste ihn leidenschaftlich. »Euer bestes bisher, Clemens.«

Er hielt sie fest. »Ist das dein Ernst?«

»Habe ich dich schon einmal angelogen?«

»Ich hoffe nicht!«, lächelte er. »Ich fand es auch gut heute, wir kommen allmählich richtig in Schwung.«

Sie küsste ihn erneut, deshalb hörten sie beide nicht, wie die Tür von Clemens’ Garderobe geöffnet wurde. Erst als jemand Beifall klatschte und ›Bravo, bravo!‹ rief, ließ Clemens seine Frau los.

»Lili!« Helen strahlte ihre Schwester an. Lili war ihr äußerlich sehr ähnlich, aber viel zurückhaltender als die tatkräftige Helen, die schon als Kind verstanden hatte, ihren Willen durchzusetzen. »Wo kommst du denn her?«

»Ich wollte meinen Schwager mal wieder spielen hören«, erklärte Lili Paulsen und umarmte erst Helen, dann Clemens. »War ein großartiges Konzert, Clemens, ihr werdet immer besser.«

»Genau das habe ich eben auch gesagt, schöne Schwägerin«, erklärte er. »Gehst du noch mit uns und den Jungs was trinken?«

»Weshalb wäre ich sonst noch hier?«, fragte Lili.

»Das sind ja ganz neue Töne«, wunderte sich Helen. »Meine häusliche Schwester Lili geht abends zu später Stunde mit uns etwas trinken! Wann hat es denn das schon mal gegeben?«

»Auch ein häuslicher Mensch vergnügt sich ab und zu«, erklärte Lili lachend. »Ich glaube, ihr habt ein völlig falsches Bild von mir. Nur weil ich Lehrerin bin und nicht so schillernde Berufe habe wie ihr …«

Die Tür wurde aufgerissen. »Kommt ihr endlich? Die Jungs haben Durst!«

Es war Bonny, der Gitarrist der Band, der bei Lilis Anblick erfreut lächelte. »He, schöne Frau, gehst du etwa auch mit?«

»Ja, tue ich, Bonny. Tolles Solo, das du bei der Zugabe gespielt hast.«

Er strahlte sie an, und wenig später machten sie sich auf den Weg in ihr Lieblingslokal.

*

»Ich haue ab, Mo«, sagte Konstantin nach einem Blick auf die Uhr. »War ein richtig schöner Abend, ich habe ihn genossen, aber jetzt muss ich gehen, damit ich morgen gleich wieder richtig in die Arbeit einsteigen kann.«

»Müde kannst du eigentlich noch nicht sein, wenn du erst um fünf aufgestanden bist«, stellte Moritz fest.

»Doch, irgendwie bin ich trotzdem schon wieder müde. Du vergisst, dass ich wochenlang zu wenig geschlafen habe.«

»Na schön, dann geh halt. Schade, aber ich verstehe es ja. Wir sehen uns dann spätestens am Mittwoch zu diesem Vortrag, oder?«

»Auf jeden Fall.«

»Ich bleibe noch ein bisschen.«

Moritz bestellte sich ein weiteres Bier, als Konstantin gegangen war. Er hatte es gerade bekommen, als die Tür des Lokals geöffnet wurde und eine große Gruppe wild aussehender Gestalten hereindrängte. Überwiegend waren es junge Männer, aber Moritz entdeckte auch einige Frauen darunter – eine davon war unzweifelhaft Helen Marienhagen, Konstantins Verlegerin. Er hob die Hand und winkte ihr zu.

Sie löste sich aus dem Arm ihres Mannes und kam direkt auf ihn zu. »Hallo, Mo!«, sagte sie. Er bekam Küsschen rechts und links, dann fragte sie: »Willst du dich nicht zu uns setzen? Du siehst ein wenig einsam aus.«

»Bis eben war Konstantin hier, aber du kennst ihn ja: Pflichtbe­wusst, wie er ist, hat er sich bereits verabschiedet, weil er morgen wieder pünktlich an der Arbeit sitzen will. Er hat bis fünf Uhr heute Nachmittag geschlafen nach deinem Anruf.«

»So ähnlich habe ich mir das vorgestellt«, erklärte Helen. »Hoffentlich schafft er es jetzt wirklich ohne weiteren Stress.«

»Ich denke schon.« Moritz nahm sein Bier und folgte Helen zu den anderen.

Einige von ihnen kannte er, die meisten jedoch nicht. Ihm war klar, dass sich hier nicht nur die Mitglieder der Rockband von Helens Mann versammelt hatten, sondern das gesamte Team, das für den reibungslosen Ablauf der Konzerte hinter den Kulissen verantwortlich war.

»Setz dich zu Lili«, schlug Helen vor. »Du kennst meine kleine Schwester noch gar nicht, oder?«

»Nein«, antwortete Moritz. »Wer ist denn deine Schwester?«

Helen lachte schallend. »Na, die Familienähnlichkeit ist doch eigentlich unverkennbar, oder? Lili, kümmere dich ein bisschen um Moritz, ja? Er ist Konstantins bester Freund.«

Und so fand sich Moritz plötzlich neben einer jüngeren Ausgabe von Helen wieder. Lili Paulsens grüne Augen richteten sich aufmerksam forschend auf ihn, dann lächelte sie. »Hallo, ich bin Lili«, sagte sie.

»Moritz. Die meisten sagen Mo zu mir.«

»Und? Gefällt dir das?«

Er zögerte kurz. »Es geht«, gestand er. »Ich finde Moritz eigentlich auch ganz schön.«

»Dann nenne ich dich so. Hast du etwas mit der Band zu tun?«

»Überhaupt nicht. Ich kenne Helen, weil sie Konstantins Verlegerin ist. Na ja, und ihren Mann kenne ich auch. Einige andere vom Sehen, weil ich schon ein paar Konzerte der Band gehört habe.«

»Heute war es toll«, sagte Lili nachdenklich. »Vielleicht werden die Jungs doch noch mal richtig erfolgreich.«

»Aber das sind sie doch!«

»Na ja, sie sind gut im Geschäft, aber der ganz große Erfolg sieht anders aus.«

Während sie sich miteinander unterhielten, warf er ihr immer wieder verstohlene Blicke zu. Sie sah Helen sehr ähnlich, aber er merkte schnell, dass sie ein völlig anderer Typ war.

Viel ruhiger und zurückhaltender als Helen. Sie beobachtete mehr, redete weniger als ihre ältere Schwester.

Als er sie fragte, was sie beruflich machte, wunderte er sich nicht, als sie sagte, sie sei Lehrerin.

Je länger er neben ihr saß und mit ihr redete, desto besser gefiel sie ihm und desto wohler fühlte er sich in ihrer Gesellschaft.

*

Als sie sich von den Sternbergern verabschiedet hatten, wurde Bettina das Herz schwer. Sie musste nur das Gesicht ihrer Mutter ansehen, um zu wissen, dass Alexa sich mit ihrem Schicksal, ohne Vorwarnung zwei schwarze Enkelkinder bekommen zu haben, noch längst nicht ausgesöhnt hatte. Und nun also auch noch ihr Vater …

Danach war das Schlimmste hoffentlich überstanden. Sollten sich doch all die anderen die Mäuler zerreißen, das würde sie schon aushalten, aber mit ihren Eltern wollte sie in Frieden und Harmonie leben.

Doch die Miene ihrer Mutter verhieß nichts Gutes.

Wie so oft kam jedoch alles ganz anders als befürchtet. Henning von Rabenfels sah das versteinerte Gesicht seiner Frau, bemerkte den unsicheren, bangen Blick seiner Tochter und entdeckte erst dann die Zwillinge. »Donnerwetter!«, sagte er. »Das sind doch wohl nicht etwa deine, Tina?«

»Doch, Papa. Ich … es … es sollte eine Überraschung sein.«

»Wir sind Großeltern, Alexa!« Er drehte sich zu seiner Frau um, schien gar nicht wahrzunehmen, dass sie seine Freude offenbar nicht teilte. »Donnerwetter!«, rief er noch einmal. »Warum hast du uns das so lange verheimlicht, Tina? Wir hätten uns viel früher darüber freuen können.«

Bettina war nicht weniger perplex als ihre Mutter, als sie nun sah, mit welcher Begeisterung ihr Vater sich auf Miriam und Paul stürzte. Und diese Begeisterung beruhte offensichtlich auf Gegenseitigkeit, denn die Zwillinge strahlten den unbekannten Mann mit den freundlichen blauen Augen an, der da so freundlich und aufgeregt um sie herumflatterte. Er nahm sie beide auf den Arm, Miriam links, Paul rechts, und eilte mit ihnen auf das Haus zu, während er fröhlich auf sie einredete. Die beiden hörten ihm aufmerksam zu. Sie kamen nicht einmal auf die Idee, Bettina zu vermissen oder Angst zu bekommen. Offenbar fanden sie all das Neue, das seit zwei Tagen auf sie einstürmte, höchst interessant.

»Na, das war ja eine Überraschung«, murmelte Alexa vor sich hin, als sie sich anschickte, ihrem Mann zu folgen. »Ich hätte schwören können, dass ihn der Schlag trifft.«

Bettina folgte ihrer Mutter. »Mama, bitte«, sagte sie flehend, »kannst du dich denn gar nicht damit abfinden?«

»Mit den Kindern kann ich mich sicher abfinden, weil ich sie entzückend finde«, erwiderte Alexa. »Aber nicht damit, dass du beinahe zwei Jahre ein solches Geheimnis vor uns hütest. Damit werde ich mich niemals abfinden, dass du es nur weißt.«

»Ich habe Gründe«, erklärte Bettina. »Hast du kein Vertrauen zu mir? Kannst du dir nicht vorstellen, dass ich euch nicht einfach zwei Enkelkinder verheimliche, ohne meine Gründe zu haben?«

Ihre Stimme hatte ernst geklungen, aber auch vorwurfsvoll. Verwundert sah Alexa ihre Tochter an. »Ich hatte immer Vertrauen zu dir, das weißt du.«

»Und jetzt nicht mehr? Warum nicht?«

»Weil ich es nicht verstehe – und weil du es mir nicht erklärst.«

»Ich kann nicht – noch nicht. Ihr müsst Geduld haben, Mama.«

»Du verlangst sehr viel, Tina.«

»Das weiß ich. Aber Papa scheint damit weniger Probleme zu haben als du. Warum bist du so schnell bereit, mich zu verurteilen?«

Alexa blieb stehen. »Das habe ich doch schon gesagt: Weil ich es nicht verstehe!«, entgegnete sie heftig. »Und wenn du mir vorwirfst, dass ich kein Vertrauen zu dir habe: Wie steht es denn mit deinem Vertrauen zu mir? Was soll dieses ganze Gerede, du könntest jetzt keine Erklärungen abgeben? Natürlich kannst du das! Falls es um irgendwelche Geheimnisse geht, die gewahrt werden müssen, so lass dich bitte daran erinnern, dass ich noch nie eins deiner Geheimnisse ausgeplaudert habe!« Mit diesen Worten setzte sie sich wieder in Bewegung. Bettina folgte ihr mit betroffenem Gesichtsausdruck. Nat­ür­lich hatte ihre Mutter nicht Unrecht – und doch sah sie keine Möglichkeit, sich anders zu verhalten, als sie es tat.

*

Am Mittwochmorgen fing Konstantin sehr früh an zu arbeiten, da er ja wusste, dass er früh Schluss machen würde, um den Vortrag über Afrika zu hören. Er kam gut voran, seit er wieder regelmäßig genug schlief. Wenn alles so lief, wie er es sich vorstellte, dann würde er die zusätzliche Zeit, die Helen ihm eingeräumt hatte, nicht einmal vollständig in Anspruch nehmen müssen.

Gegen fünf Uhr hörte er auf, er war zufrieden mit dem, was er an diesem Tag geschafft hatte. Er aß noch eine Kleinigkeit, dann machte er sich auf den Weg zur Bibliothek, denn dort würde Dr. Bettina von Rabenfels ihren Vortrag halten.

Moritz wartete am Eingang auf ihn. »Da bist du ja«, rief er erleichtert. »Schnell, lass uns reingehen, das wird voller als ich dachte, und ich möchte nicht gern ganz hinten sitzen.«

Sie fanden noch zwei recht gute Plätze im vorderen Drittel. Tatsächlich füllte sich der Saal rasch. Als Bettina von Rabenfels pünktlich das Podium betrat, war auch der letzte Platz besetzt.

»Schöne Frau«, raunte Moritz seinem Freund zu. »Und irgendwie wirkt sie viel zu jung für eine Ärztin, findest du nicht?«

Konstantin nickte abwesend.

Die junge Ärztin hielt in der folgenden Stunde einen leidenschaftlichen Vortrag über ihre Zeit im Grenzgebiet zwischen Gabun und dem Kongo – und es dauerte nicht lange, bis sie auch den letzten Zuhörer in ihren Bann gezogen hatte. Sie beschrieb schonungslos die Situation der dort lebenden Menschen, schilderte die Umstände, unter denen sie und ihre Kollegen hatten arbeiten müssen und endete mit einem flammenden Appell an die Weltöffentlichkeit, die Augen nicht abzuwenden. Darüber hinaus beschrieb sie afrikanischen Alltag unter erschwerten Bedingungen so plastisch, dass sich auch diejenigen im Publikum ihrem Bericht nicht entziehen konnten, die noch nie in einem afrikanischen Land gewesen waren.

Minutenlanger Applaus dankte der jungen Frau am Ende für ihre engagierte Rede. Danach stellte sie sich den Fragen der Zuhörer.

Konstantin verfolgte die Diskussion aufmerksam, beteiligte sich aber nicht daran. Moritz jedoch stellte mehrere Fragen.

Bettina von Rabenfels ging ausführlich auf jeden Einwand, jede Frage ein. Nicht ein einziges Mal schien sie unsicher zu sein oder nach einer Antwort suchen zu müssen.

Als der Veranstalter schließlich sagte, nun sei es genug, Frau Dr. von Rabenfels hätte dem Publikum schon viel länger zur Verfügung gestanden als vorgesehen, erhob sich noch einmal lang anhaltender Beifall, dann war die Veranstaltung beendet.

»Tolle Frau«, stellte Moritz bewundernd fest, als sie sich erhoben. »Und ein toller Vortrag.«

»Ja«, stimmte Konstantin zu. »Das kann man wohl sagen. Hör mal, Mo, ich muss gleich weg. Lass uns morgen telefonieren, ja? Ich nehme diesen Seitenausgang hier. Bis dann!«

»He, ich könnte doch mit dir …«, rief Moritz ihm nach, doch Konstantin war bereits in der Menge verschwunden. Moritz fand dieses Verhalten seines Freundes mehr als seltsam.

Noch verwunderter wäre er sicherlich gewesen, wenn er gesehen hätte, dass Konstantin sich keinesfalls sofort auf den Heimweg machte.

*

Bettina war mit ihrem Vortrag und der anschließenden Diskussion zufrieden. Die Leute hatten aufmerksam zugehört, und an den Fragen, die hinterher gestellt worden waren, hatte sie ablesen können, dass das Publikum das Leid der Bevölkerung und die Schwierigkeiten der in Afrika arbeitenden Ärzte durchaus verstanden hatte. Sie würde noch mehrere solcher Vorträge halten – das Ziel war, mehr Spendengelder zu sammeln, damit sie und ihre Kollgen die Arbeit fortsetzen konnten.

Sie hatte noch eine halbe Stunde mit dem Veranstalter zusammengesessen, der ihr einen Tee gekocht und sich noch einmal herzlich bei ihr bedankt hatte. Nun ging sie zu ihrem Wagen, um zurück zu ihren Eltern und den Zwillingen zu fahren. Bei diesem Gedanken lächelte sie unwillkürlich. Die Liebe ihres Vaters zu Miriam und Paul wurde rückhaltlos erwidert – und mittlerweile wollte auch ihre Mutter nicht mehr abseits stehen und bemühte sich um die Zuneigung der Babys. Aber ihr Vater hatte, schätzte Bettina, einen uneinholbaren Vorsprung.

Die ersten unangenehmen Erfahrungen hatten sie natürlich auch schon machen müssen. Ein paar neugierige Besucher waren bei den Rabenfels’ aufgetaucht, unter leicht durchschaubaren Vorwänden. In Wirklichkeit ging es jedes Mal um ›die schwarzen Zwillinge‹, wie sich nach kurzer Zeit herausstellte. Ihr Vater wurde mit solchen Besuchern deutlich besser fertig als ihre Mutter, die noch immer dazu neigte, die Nerven zu verlieren. Einige Gerüchte waren auch bereits in Umlauf – der Vater der Kinder sei drogensüchtig, deshalb sei Bettina nach Deutschland zurückgekehrt, um die Kinder dem Einfluss des Vaters besser entziehen zu können. Woher solche Geschichten wohl kamen? Irgendjemand musste sie sich schließlich ausdenken und in die Welt setzen – aber mit welchem Ziel? Was brachte es einem Menschen, Lügen über andere zu erzählen? Sie würde das niemals begreifen.

»Frau Dr. von Rabenfels?«

Sie war so in Gedanken gewesen, dass sie regelrecht zusammenzuckte.

»Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken«, entschuldigte sich der Mann, der sie angesprochen hatte.

Sie erinnerte sich sofort an ihn, er war in ihrem Vortrag gewesen: Dichte braune Haare, kluge braune Augen, ein schmales, gut geschnittenes Gesicht. Er hatte neben dem Dunkelhaarigen gesessen, der so viele Fragen gestellt hatte. »Ich war in Gedanken«, erklärte sie mit einem Lächeln. »Normalerweise bin ich nicht so schreckhaft.«

»Ich bin Konstantin von Klawen«, stellte er sich vor.

Ihre Augen wurden groß. »Sind Sie der Autor?«, fragte sie.

Er nickte. »Sie kennen meine Bücher?«

»Aber ja, wir alle, die wir in Afrika arbeiten, kennen Ihre Bücher. Ich fühle mich geehrt, dass Sie meinen Vortrag angehört haben.«

»Es war ein sehr guter Vortrag«, erklärte er sachlich. »Und ich würde gern noch ein wenig mit Ihnen über Ihre Arbeit reden, wenn Sie Zeit haben.«

Sie sah auf die Uhr. »Anderthalb Stunden hätte ich noch«, sagte sie.

»Darf ich Sie zum Essen einladen?«, fragte Konstantin erfreut.

Sie lächelte. »Gern. Wenn ich ehrlich sein soll, ich bin völlig ausgehungert.«

Er schlug vor, seinen Wagen zu nehmen, und sie willigte ein. Welch unvorhergesehene Wendung dieser Abend doch nahm! Sie spürte ihr Herz heftig klopfen, und zum ers­ten Mal seit langer Zeit war es wieder da, dieses angenehme Kribbeln im Bauch, das sie schon beinahe vergessen hatte.

*

»Ich verstehe dich nicht, Henning«, sagte Alexa von Rabenfels. »Wie kannst du nur so gelassen bleiben?«

Er sah seine Frau nachdenklich an. »Und wie kannst du an unserer Tochter zweifeln?«, fragte er.

»Was soll das denn heißen?«, rief sie ärgerlich. »Ich fühle mich von ihr getäuscht, weil sie mir etwas Wichtiges verschwiegen hat – sehr lange verschwiegen. Ist das nicht verständlich?«

»Wenn du es unbedingt so sehen willst, dann schon. Aber wenn du dir klar machst, dass sie das nie im Leben getan hat, ohne triftige Gründe dafür zu haben, dann eigentlich nicht. Vertrau ihr, sie wird uns irgendwann erklären, warum sie sich so und nicht anders verhalten hat.«

»Du stellst es ja beinahe so hin, als hätte ich mir in dieser Angelegenheit etwas zuschulden kommen lassen.«

»Mangelndes Vertrauen«, stellte er ruhig fest. »Hör auf, immer und immer wieder die gleichen Vorwürfe gegen Tina zu wiederholen, Alexa. Nimm die Situation, wie sie ist, und finde dich damit ab. Es wird dir besser gehen, glaub mir.«

Der Butler erschien an der Tür und meldete den Besuch der Gräfin zu Stabenow.

»Auch das noch, diese alte Klatschtante!«, stöhnte Alexa.

»Wir werden schon mit ihr fertig«, erwiderte Henning von Rabenfels gelassen.

Gleich darauf kam Irina Gräfin zu Stabenow mit weit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Sie umarmte die widerstrebende Alexa, scheiterte jedoch an dem Versuch, Henning ebenfalls in ihre Arme zu ziehen. Er ergriff ihre Hand und drückte sie. »Nun, Irina«, fragte er, »welchem Umstand verdanken wir denn deinen überraschenden Besuch?«

Die Gräfin lachte gekünstelt. »Na, hör mal, Henning, man braucht doch nicht immer einen Grund, um seine Freunde zu besuchen, oder?«

»Ich würde uns nicht direkt als Freunde bezeichnen«, erwiderte er. »Wir haben uns vor etwa einem Jahr das letzte Mal gesehen.«

»Du weißt ja, es ist immer so schrecklich viel zu tun – und mit einem Mal ist ein Jahr vorüber, und man weiß gar nicht, wo es geblieben ist.« Die Augen der Gräfin huschten flink durch den Salon, fanden aber keinen Hinweis auf die Anwesenheit zweier Babys.

Die forschenden Blicke entgingen weder Alexa noch Henning. War Alexa vorher noch verzagt und kleinmütig gewesen, so stellte sie jetzt überrascht fest, wie sie zornig wurde auf diese neugierige Person, die einzig und allein den Zweck verfolgte, zu spionieren und Stoff für weitere Gerüchte zu sammeln.

»Wo ist denn Tina?«, fragte die Gräfin mit unschuldsvollem Lächeln.

»Man hört ja so allerhand, seit sie aus Afrika zurück ist.«

»Was hört man denn, Irina?« Hennings Stimme klang gefährlich sanft, was die Gräfin jedoch nicht merkte.

»Nun, dass sie … dass sie sich zwei Andenken aus Afrika mitgebracht hat! Ist das wirklich wahr? Hat sie schwarze Zwillinge bekommen?«

»Darf ich fragen, was dich das angeht, Irina?«, fragte Henning.

»Entschuldige, Henning, aber als alte Freundin der Familie werde ich doch wohl mal fragen dürfen.«

»Du bist keine alte Freundin der Familie«, erklärte nun Alexa. »Du warst noch nie unsere Freundin, Irina. Als Tina damals nach Afrika gegangen ist, hast du lauter Gerüchte über sie in die Welt gesetzt, keins davon hat der Wahrheit entsprochen. Erinnerst du dich? Du hast behauptet, dass sie ihr Examen nicht geschafft hat und deshalb nach Afrika verschwinden musste, damit hier niemand etwas davon erfährt.«

Auf den Wangen der Gräfin erschienen hektische rote Flecken. »Das ist nicht wahr!«, rief sie mit scheinheiliger Empörung. »Ich weiß wirklich nicht, wer so etwas über mich erzählt.«

»Es war jemand, der, im Gegensatz zu dir, ein wahrer Freund ist und dem wir deshalb vertrauen. Dürfen wir dich bitten, uns jetzt wieder zu verlassen? Und in Zukunft darfst du auf derartige ›Freundschaftsbesuche‹ gern verzichten.«

Die Gräfin schnappte nach Luft. Gerade erst war sie gekommen, nun wurde sie schon wieder zum Gehen genötigt. »Ich weiß wirklich nicht …«, japste sie, doch sie kam nicht dazu, ihren Satz zu beenden, denn Alexa hatte nach dem Butler geklingelt.

»Gräfin zu Stabenow möchte gehen«, erklärte sie.

Über das Gesicht des Butlers huschte ein kaum wahrnehmbares Lächeln, das jedoch sofort wieder verschwand. »Wenn Sie mir bitte folgen würden, gnädige Frau«, sagte er höflich und hielt ihr die Tür auf.

Irina zu Stabenow folgte ihm ohne weiteres Wort. An der Tür jedoch hielt sie noch einmal inne und verkündete mit bebender Stimme: »Das werdet ihr bereuen.«

»Oder du, Irina«, rief Henning erbost. »Verleumdung ist strafbar, falls du das noch nicht wusstest!«

Der Butler schloss die Tür, sie waren wieder allein. Nach einer Weile stellte Alexa fest: »Klug war das nicht. Sie wird sich rächen, Henning.«

Er atmete schwer, seine Augen blitzten noch immer vor Zorn. »Und wenn schon!«, schimpfte er. »Wenigstens haben wir der blöden Ziege mal richtig die Meinung gesagt. Wenn du wüsstest, wie oft ich mir das schon gewünscht habe.«

Sie musste lachen – zum ersten Mal, seit sie Bekanntschaft mit Bettinas Zwillingen gemacht hatte, wirkte sie vollkommen entspannt. »Ich auch«, erklärte sie. »Ich habe sogar schon davon geträumt, Henning.«

Er lächelte ihr zu und griff nach ihrer Hand. »Wir schaffen das, Alexa«, sagte er. »Lass die Leute reden, das ist doch gar nicht wichtig. Wichtig ist, dass wir zusammenhalten.«

Sie nickte und lehnte sich an ihn. Er umschlang sie mit beiden Armen und hielt sie fest.

Irgendwo in den Tiefen der Villa hörten sie Miriams ›dadada‹, und schon löste sich Alexa von ihrem Mann. »Ich muss sehen, ob alles in Ordnung ist!«, sagte sie erschrocken. »So lange Tina nicht hier ist, sind wir schließlich für die Kinder verantwortlich.«

Sie sah das Schmunzeln auf dem Gesicht ihres Mannes nicht mehr, mit dem er ihr nachsah. Sie hatte Miriam und Paulchen ja längst ins Herz geschlossen!

*

Konstantin wurde nicht klug aus Bettina von Rabenfels. So lange sie sich über Afrika unterhalten hatten, war ihr Zusammensein ganz unproblematisch verlaufen. Es gab ein

Interessengebiet, das sie verband,

und das ließ keine peinlichen Ge­sprächs­pausen aufkommen.

Doch nun hatten sie sich vom Thema ›Afrika‹ entfernt, und schon wurde es schwierig. Um anzudeuten, dass er sich nicht nur für ihre berufliche Laufbahn interessierte, sondern auch für sie als Person, hatte er sie gefragt, ob sie sich nicht wiedersehen und einmal gemeinsam etwas unternehmen könnten. »Ich bin nämlich bald fertig mit meinem Manuskript, dann könnten wir uns einmal ohne Zeitdruck unterhalten. Was meinen Sie?«

Doch sein Vorschlag stieß rundheraus auf Ablehnung. »Tut mir leid, das wird nicht möglich sein«, erklärte Bettina, wobei sie seinem Blick sorgfältig auswich. »Ich habe sehr viel zu tun in den nächsten Wochen und werde mich nicht mehr freimachen können.«

Das war eine deutliche Abfuhr, die er nicht so leicht wegsteckte, zumal er damit überhaupt nicht gerechnet hatte. Er war ganz sicher davon ausgegangen, dass sie an ihm ebenfalls interessiert war – weshalb sonst hätte sie sich auf dieses Treffen eingelassen? Nun war er enttäuscht und musste sich eingestehen, dass er die ganze Situation offenbar von Grund auf falsch eingeschätzt hatte.

Es fiel ihm nicht leicht, mit ihrer Ablehnung umzugehen. Zwar wollte er nicht beleidigt wirken, doch die Leichtigkeit, die ihr Gespräch bis dahin bestimmt hatte, war wie weggeblasen. Von nun an lief es nur noch mühsam, und so wunderte es ihn nicht, dass Bettina schließlich nach einem Blick auf die Uhr feststellte, dass sie jetzt gehen müsse.

Dennoch machte er einen weiteren Versuch – so einfach wollte er sich nicht entmutigen lassen. »Wir sehen uns also nicht wieder?«, fragte er, als er sie zu ihrem Auto zurückgebracht hatte. »Das finde ich sehr schade, Frau von Rabenfels.«

Dieses Mal wich sie seinem Blick nicht aus, sie lächelte ihn sogar an. »Ich auch«, erwiderte sie, »ehrlich. Aber es geht nicht, ich … ich habe vielfältige Verpflichtungen übernommen, die mir keine freie Zeit lassen.«

Das musste er wohl so akzeptieren, wie sie es sagte. Er schaffte es, seine Enttäuschung hinunterzuschlucken, denn wie ein schlechter Verlierer wollte er nicht dastehen. Er wünschte ihr höflich alles Gute, dankte ihr noch einmal dafür, dass sie seiner Einladung gefolgt war und wartete, bis sie mit ihrem Wagen den Parkplatz verlassen hatte.

Danach trat er heftig gegen den Vorderreifen seines Autos, was jedoch seine Enttäuschung nicht milderte – im Gegenteil: Nun hatte er zu allem Überfluss auch noch einen schmerzenden Fuß!

*

»Da bist du ja«, sagte Lili Paulsen, als sie Moritz die Tür öffnete.

»Bin ich zu früh?«, fragte er, als er ihr die Blumen überreichte, die er mitgebracht hatte.

»Nein, gerade richtig. Danke für die Blumen – du bist ja ein richtiger Kavalier.«

»Manchmal«, grinste Moritz.

»Komm rein«, bat Lili. »Das Essen ist gleich fertig.«

Er hatte sie nach jenem ersten Abend schüchtern fragen wollen, ob er sie zum Essen einladen dürfe – aber sie war ihm zuvorgekommen. »Ich koche gern, hast du Lust, mich mal zu besuchen?«

Und nun war er also bei ihr und sah sich in ihrer erstaunlich geräumigen Wohnung um. Viele Möbel hatte sie nicht, aber unzählige Bücher und CDs, stellte er fest.

»Mach es dir bequem«, bat sie, »ich versorge nur schnell die Blumen, dann leiste ich dir Gesellschaft.«

Das tat sie dann auch, und die leichte Befangenheit, die ihn befallen hatte, fiel von ihm ab. »Sehr schöne Wohnung«, bemerkte er. »Bei mir steht viel mehr herum, aber das hier gefällt mir besser.«

»Ich muss mich bewegen können«, erklärte sie, »sonst kriege ich Platzangst. Und da ich mich hier viel aufhalte, weil ich ja nach der Schule zu Hause am Schreibtisch sitze, muss ich mich hier wohlfühlen.«

Ihre Blicke begegneten sich, und die Befangenheit kehrte zurück. Er fühlte sich stark zu ihr hingezogen, wusste aber nicht, wie er ihr das sagen oder zeigen sollte, ohne sie zu überrumpeln. Zwar nahm er an, dass auch sie ihn mochte – schließlich hatte sie ihn zum Essen eingeladen –, aber vielleicht war das auch reine Freundlichkeit. Sicher sein konnte er nicht.

Sie sprang auf und kehrte gleich darauf mit zwei Gläsern zurück. »Kir Royal«, erklärte sie. »Auf einen schönen Abend, Moritz. Und entspann dich endlich, dir tut hier niemand etwas.«

»Sieht man mir an, dass ich verkrampft bin?«, fragte er entgeistert.

Sie lachte herzlich. »Allerdings, ja. Du siehst aus wie einige meiner Schüler, wenn sie geprüft werden.«

»Na ja, so ähnlich fühle ich mich auch«, gestand er.

»Und wieso?«

»Ich würde dir gern gefallen«, antwortete er. »Und wenn ich es jetzt verbocke, dann sehe ich dich vermutlich nie wieder.«

Sie lachte wieder. »Bisher hast du alles richtig gemacht«, erklärte sie. »Du hast mir Blumen mitgebracht, dich nicht gleich benommen, als wärst du hier zu Hause – und du hast zugegeben, dass du nervös bist. Eigentlich kann nichts mehr schiefgehen.«

»Bist du nicht nervös?«

»Und wie. Ich kann es nur besser verbergen. In der Schule bin ich oft nervös, wenn ich zum Beispiel eine neue Klasse übernehme – was denkst du denn? Aber das darf man sich nicht anmerken lassen, sonst hat man gleich verloren.« Sie pros­tete ihm zu. »Auf einen hoffentlich schönen Abend.«

»An mir soll es nicht liegen«, erwiderte er. »Mhm, das schmeckt gut.«

»Das soll es auch.« Lili stellte ihr Glas ab. »Entschuldige mich für ungefähr fünf Minuten, ja?«

»Kann ich dir nicht helfen?«

»Heute nicht, vielleicht das nächs­te Mal!«, erklärte sie und verschwand in der Küche.

Er hörte Töpfe klappern und nippte versonnen an seinem Kir Royal. »Das nächste Mal«, hatte sie gesagt – also ging sie davon aus, dass sie sich wiedersehen würden. Auch das letzte Bisschen Nervosität fiel von ihm ab, er war auf einmal wunschlos glücklich.

*

»Lass uns Tina und die Zwillinge zu uns nach Sternberg einladen, Fritz«, schlug Baronin Sofia vor.

»Gern, aber ob Henning auf seine beiden Goldschätze freiwillig verzichtet?«, fragte der Baron schmunzelnd. »Er muss ja ganz vernarrt in die Kinder sein.«

»Ich will sie ihm ja nicht für länger entführen – nur für ein paar Tage«, erklärte Sofia. »Anna und Chris würden sich freuen, und Konny ist mittlerweile auch neugierig auf Miriam und Paul, weil er so viel von ihnen gehört hat.«

»Genau wie ich«, erklärte der Baron. »Ich hätte mir die beiden auch gern einmal angesehen.«

»Dann lade ich Tina ein. Ehrlich gesagt, ich denke, sie wird froh sein, wenn sie kommen kann. Du kennst Alexa: So leicht findet sie sich nicht mit einer Situation ab, die ihr nicht behagt.«

Da Friedrich keine Einwände erhob, griff Sofia also zum Telefon, ließ sich mit Bettina verbinden und sprach ihre Einladung aus.

»Das muss Gedankenübertragung sein, Sofia!«, rief Bettina. »Ich habe gerade überlegt, ob wir nicht ein paar Tage zu euch fahren sollten, die Zwillinge und ich.«

»Du bist hier jederzeit herzlich willkommen, Tina. Wie war übrigens dein Vortrag?«

»Er war ein Erfolg, glaube ich. Der Saal war voll, die Diskussion hinterher verlief sehr lebhaft, und ich hörte, dass viele Spenden eingegangen sind.«

»Wie schön für dich!«, freute sich die Baronin. »Also, wann kommst du?«

»Nächste Woche? Ein paar Dinge habe ich hier noch zu erledigen, aber danach denke ich, wäre es für uns alle gut, wenn wir uns mal einige Tage nicht sähen. Mama wäre bestimmt froh darüber. Wenn wir unter uns sind, ist alles in Ordnung, da denke ich, sie hat sich irgendwie mit der Situation abgefunden. Aber sobald hier jemand von außerhalb auftaucht, wird sie nervös und unausstehlich. Jeden Besucher verdächtigt sie mittlerweile, spionieren und Gerüchte in die Welt setzen zu wollen. Ich meine, bei Gräfin zu Stabenow verstehe ich das, aber die Welt besteht ja nicht nur aus Klatschtanten.«

»Lass ihr noch ein bisschen Zeit«, riet die Baronin. »Ruf noch einmal an, wann genau wir euch erwarten dürfen, Tina.« Zufrieden kehrte sie zu ihrem Mann zurück. »Sie kommt nächste Woche, Fritz.«

»Fein«, erwiderte der Baron. »Und jetzt entschuldige mich bitte, Liebste, ich muss mich noch mit Herrn Hagen treffen, er möchte ein paar Probleme mit mir besprechen.« Volker Hagen war der Verwalter von Schloss Sternberg.

Friedrich küsste seine Frau zum Abschied und eilte davon.

Sofia blieb nachdenklich zurück. Was Bettina über ihre Mutter gesagt hatte, klang nicht ermutigend. Wie lange wollte Alexa denn noch mit ihren Enkelkindern hadern?

*

»Das war ein tolles Essen – und ein schöner Abend, Lili«, sagte Moritz.

»Das finde ich auch.«

Wie hübsch sie war, wie verführerisch! Ihm stockte der Atem, wenn er sie bloß ansah. Er nahm all seinen Mut zusammen und fragte: »Sehen wir uns wieder?«

Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Du bist in Wirklichkeit ziemlich schüchtern, nicht?«, fragte sie.

»Was meinst du mit ›in Wirklichkeit‹?«

»Na ja, du wirkst auf den ersten Blick eigentlich nicht so, aber wenn man dich näher kennenlernt, dann merkt man das.«

»Und es stört dich?«

»Nein, im Gegenteil. Ich mag Draufgänger nicht so gern – davon habe ich in meinen Klassen genug. Du weißt schon, so Sechzehn-, Siebzehnjährige, die mal ausprobieren, wie es ist, wenn sie sich wie ›richtige Männe‹’ benehmen.«

Er musste lachen. »In dem Alter war ich auch schrecklich«, bekannte er. »Aber das gehört einfach dazu, glaube ich.«

Sie nickte. »Ich kann ganz gut damit umgehen«, meinte sie. »Es gibt Kolleginnen von mir, die haben richtig Angst, solche Klassen zu unterrichten, mir geht das zum Glück nicht so.«

»Lili?«

»Ja?«

»Ich … ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.«

Sie lächelte ihn strahlend an, ohne etwas zu sagen, was seine Verwirrung noch verstärkte.

»Warum sagst du nichts?«

»Muss man denn immer reden?«, fragte sie leise.

Endlich fiel bei ihm der Groschen. Er stand auf, ging zu ihr und schloss sie in die Arme. »Manchmal brauche ich eben ein bisschen länger«, sagte er entschuldigend, bevor er sich zu ihr hinunterbeugte und sie küsste.

Lili lag weich in seinen Armen, ihre Lippen öffneten sich bereitwillig. Ihm schoss die Frage durch den Kopf, ob es schon jemals einen Menschen gegeben hatte, der so glücklich gewesen war wie er in diesem Augenblick.

Er hielt das für ausgeschlossen.

*

»Guck mal, wer da kommt!«, sagte Anna. »Gräfin zu Stabenow!«

»Sie ist garantiert wegen Tina und den Zwillingen hier«, meinte der kleine Fürst. »Du kennst sie doch: Wenn sie irgendwo eine Geschichte wittert, lässt ihr das keine Ruhe.«

»Du meinst, sie hat gehört, dass wir mit Alexa in Frankfurt waren, um Tina abzuholen?«

»Klar meine ich das. Weshalb sollte sie sonst hier aufkreuzen.«

Sie wechselten einen kurzen Blick, dann eilten sie zum Schloss zurück. Togo, Christians junger Boxer, bellte empört. Für seinen Geschmack war es viel zu früh, um den interessanten Spaziergang bereits abzubrechen. Hatte er nicht erst vor kurzem zwei ganze Tage auf sein Herrchen verzichten müssen?

»Komm schon, Togo«, sagte Chris­tian. »Wir gehen nachher noch einmal mit dir raus, versprochen. Aber jetzt müssen wir Tante Sofia helfen, mit der Gräfin fertig zu werden!«

Doch als sie das Schloss betraten, erlebten sie eine Überraschung: Eberhard Hagedorn teilte der Gräfin liebenswürdig mit, dass die Baronin zu Bett liege und daher keinen Besuch empfangen könne. Auch der Herr Baron sei leider nicht zu sprechen.

»Guten Tag, Gräfin zu Stabenow«, sagte Anna höflich. »Wir haben uns vielleicht auch schon angesteckt, deshalb geben wir Ihnen vorsichtshalber nicht die Hand.

»Angesteckt?«, rief Irina zu Stabenow erschrocken. »Womit denn, um Himmels willen?«

Christian wollte bei dieser hübschen Lügengeschichte nicht zurückstehen und erwiderte ernst: »Das wissen wir noch nicht, es wird noch untersucht.« Er wandte sich an den alten Butler. »Wie geht es Tante Sofia denn jetzt, Herr Hagedorn? Bei ihr hat es ja mit Übelkeit und Erbrechen angefangen. Ich glaube, bei mir ist es jetzt auch so weit. Ich … mir ist schon ganz übel.«

»Ihr gehört in Quarantäne! Es ist unverantwortlich, dass ihr frei herumlauft und eure Krankheitserreger überall verteilt!« Die Gräfin strebte bereits wieder der Tür zu, wobei sie sich ängstlich eine Hand vor den Mund hielt, um nur ja nichts Schädliches einzuatmen. »Na ja, wahrscheinlich ist das alles auf den Kontakt mit diesen Babys aus dem Urwald zurückzuführen!« Nach dieser letzten Bemerkung drehte sie sich um und verließ, wie von Furien gehetzt, das Schloss.

Anna und Christian hatten Mühe, nicht laut loszulachen, während Eberhard Hagedorn nur zufrieden in sich hineinlächelte.

Gleich darauf ließ die Baronin vernehmen: »Ist sie weg, die alte Giftspritze?«

»Jawohl, Frau Baronin«, antwortete Eberhard Hagedorn, bevor er sich an Anna und Christian wandte: »Danke für die Unterstützung, Prinz Christian und Baronin Anna. Dadurch hat die Geschichte noch mehr Glaubwürdigkeit gewonnen. Ich glaube, die Gräfin hatte nicht den geringsten Zweifel, dass wir die Wahrheit sagen.«

»Danke!«, sagte nun auch Sofia. »Danke, dass ihr alle für mich gelogen habt, aber ich hätte die Gräfin unmöglich empfangen können. Wenn sie das nächste Mal kommt, werde ich ihr deutlich sagen, was ich von ihr halte, aber heute erschien mir das ungeschickt.«

»Wieso denn, Mama?«, erkundigte sich Anna verwundert. »Du sagst doch sonst immer allen Leuten ins Gesicht, was du von ihnen denkst.«

»Das Problem ist nicht die Gräfin, sondern Tina«, erklärte die Baronin. »Ich möchte ihr nicht schaden – und ich wäre mit Sicherheit unfreundlich geworden, wenn ich jetzt mit Irina zu Stabenow gesprochen hätte. Und wie ich sie kenne, hätte sie das nur zum Anlass genommen, noch mehr Gerüchte über Tina in Umlauf zu setzen.«

»Noch mehr?«, fragte der kleine Fürst.

»Ja«, bestätigte Sofia mit düsterem Gesicht. »Sie hat keine Zeit verloren, die alte Klatschbase. Damals, als Tina weggegangen ist, hat sie schon lauter Lügen erzählt – und jetzt tut sie es wieder. Ich wünschte, man könnte ihr ein für alle Mal den Mund verbieten. Wahrhaftig, das wünschte ich mir!«

»Darf man das denn, Tante Sofia? Lügen verbreiten über andere Leute?«

»Schwere Frage«, antwortete die Baronin. »Man darf es nicht, aber wenn man es tut, wird man meis­tens nicht einmal dafür bestraft. Das ist ungerecht, aber so sieht die Wirklichkeit leider aus.«

Eberhard Hagedorn hatte sich während dieser Diskussion diskret zurückgezogen. Im Stillen konnte er sich dem Wunsch der Baronin nur anschließen: Wenn er einen Weg gewusst hätte, diese schreckliche Gräfin daran zu hindern, ihre erfundenen Geschichten über andere Menschen zu verbreiten, er hätte diesen Weg ohne zu zögern beschritten.

*

Konstantin war froh, dass er sich auf seine Arbeit konzentrieren muss­te, denn sonst hätte er vermutlich unablässig über Bettina von Rabenfels und die Tatsache nachgedacht, dass sie offenbar keinen Wert darauf legte, ihn noch einmal zu treffen. Dabei hätte er während des Gesprächs mit ihr schwören können, dass sie ihn so anziehend fand wie er sie. Aber ganz offensichtlich war das ein Irrtum gewesen.

Wann immer er eine Pause machte, kam sie ihm sofort in den Sinn. Während der Arbeit zwang er sich, jeden Gedanken an sie aus seinem Kopf zu verbannen, doch sobald seine Konzentration nachließ, tauchte als erstes die Frage auf: Wie konnte ich mich so irren? Und dann: Warum will sie sich nicht mehr mit mir treffen? Mag sie mich nicht oder gibt es andere Gründe für ihre ablehnende Haltung?

Er kam zu keinem Ergebnis. Da er aber verbissener denn je zuvor arbeitete, wurde er schneller fertig als erwartet. Bald wusste er, dass er von den vierzehn Tagen, die Helen ihm angeboten hatte, nicht mehr als zehn brauchen würde. Als er ihr das mitteilte, war sie hoch beglückt.

»Wunderbar, Tino! Bist du ganz sicher?«

»Ich bin ganz sicher. Übermorgen liegt das Manuskript auf deinem Schreibtisch, du hast mein Wort darauf.«

»Das ist heute anscheinend mein Glückstag! Zuerst überrascht mich Clemens mit einer wunderschönen Halskette – und jetzt sagst du mir, dass wir doch nicht so in Zeitnot geraten wie befürchtet.«

Nach diesem Gespräch überarbeitete Konstantin ein weiteres Kapitel, dann schaltete er den Computer aus.

Er würde am nächsten Tag fertig werden und war froh darüber. Bald kannte er den Text auswendig, so oft hatte er ihn gelesen.

Kurz entschlossen rief er Moritz an. Vielleicht konnten sie gemeinsam etwas essen gehen – doch Moritz war nicht zu Hause. »Mist!«, murmelte er vor sich hin. Er hätte seinem Freund gern von dem Erlebnis mit Bettina von Rabenfels erzählt. Bisher hatte er das nämlich noch nicht getan. Zwar redete niemand gern über seine Misserfolge, aber vielleicht hatte er ja einen Fehler begangen, und Moritz erkannte das sofort …

Es klingelte an seiner Wohnungstür. Als er öffnete, stand Moritz davor. »Ich habe gerade bei dir angerufen, um zu fragen, ob wir nicht zusammen was essen wollen«, sagte Konstantin.

Statt die indirekte Frage seines Freundes zu beantworten, platzte Moritz mit seiner Neuigkeit heraus: »Ich habe mich verliebt!«

»Ich auch«, antwortete Konstantin – zu seiner eigenen Überraschung. Aber kaum hatte er es ausgesprochen, als er auch schon erkannte, dass es die Wahrheit war. Ja, er hatte sich in Bettina von Rabenfels verliebt, und das war der Grund dafür, dass ihre Abfuhr ihm so zu schaffen machte.

»Tatsächlich?«, fragte Moritz verblüfft und auch ein wenig enttäuscht darüber, dass die Enthüllung seines großen Geheimnisses praktisch wirkungslos verpufft war.

»Ja, tatsächlich«, bestätigte Konstantin. »Aber davon reden wir später. Erzähl du zuerst: Wer ist die Glückliche?«

Gleich darauf fiel er aus allen Wolken, als er hörte, dass Moritz sich in die jüngere Schwester seiner Verlegerin verliebt hatte.

»In Lili?«, staunte er. »Das ist aber eine echte Überraschung. Kanntet ihr euch bisher denn noch nicht?«

»Nein – ich wusste zwar, dass sie existiert, weil du sie schon gelegentlich erwähnt hast, aber begegnet waren wir uns noch nie. Ich bin ziemlich durcheinander, kann ich dir sagen.«

Konstantin nickte. Er war auch durcheinander, aber leider aus anderen Gründen als Moritz.

»Und bei dir?«, erkundigte sich Moritz.

Er machte große Augen, als er erfuhr, dass Konstantin nach dem Vortrag neulich Frau Dr. Bettina von Rabenfels angesprochen hatte und mit ihr essen gegangen war.

»Du hättest mir ruhig sagen können, dass du das vorhattest«, beklagte er sich. »Ich habe mich schon gewundert, warum du es plötzlich so eilig hattest.«

»Ist aber leider schon wieder vorbei – ich wollte mich anschließend mit ihr verabreden, aber sie hat behauptet, dass sie keine Zeit hat und mich praktisch stehenlassen.« Konstantin lächelte schief. »Dabei dachte ich, sie wäre von mir auch ein bisschen beeindruckt gewesen, das war aber leider ein Irrtum.«

»Tut mir leid«, murmelte Moritz, doch trotz seines Mitgefühls konnte er nicht verhindern, dass er vor Glück förmlich leuchtete.

»Lass uns essen gehen«, schlug Konstantin vor, der nach kurzem Nachdenken zu der Erkenntnis gelangt war, dass es immer noch besser war, Moritz von seinem Glück reden zu hören, als allein zu Hause zu sitzen und an Bettina von Rabenfels zu denken.

Moritz war einverstanden, und so verließen sie wenig später das Haus.

*

Die Zwillinge eroberten Schloss Sternberg und alle, die dort lebten und arbeiteten, im Sturm. Wohin sie auch kamen, flogen ihnen die Herzen zu. Sie sahen nicht nur niedlich aus, sie hatten auch sonnige Gemüter, und niemand konnte Miriam oder Paul widerstehen, wenn sie mit schelmischem Lächeln die dunklen Köpfe schief legten und ihre ersten Zähnchen zeigten. Sie wickelten nicht nur Herrn Hagedorn um den Finger, sondern auch den strengen Stallmeister Robert Wenger und die Köchin Marie-Luise Falkner, die Pferdepfleger ebenso wie die Küchenmädchen. Alle bemühten sich um die beiden – und Bettina konnte sicher sein, dass Miriam und Paul nicht eine Sekunde ohne Aufsicht waren, wenn sie selbst sich anderen Dingen zuwandte.

»Unsere beiden waren nicht so pflegeleicht«, seufzte der Baron einen Tag nach Bettinas Ankunft. Er hatte Miriam auf dem Arm, die ihn begeistert ins Kinn kniff. »Die beiden schreien ja noch nicht einmal, Tina. Wie hast du das nur hingekriegt?«

»Mein Verdienst ist es nicht«, wehrte Bettina ab. »Sie sind einfach so!«

»Na, ein bisschen wirst du schon dazu beigetragen haben«, meinte Friedrich schmunzelnd, während er Miriam hoch über seinen Kopf schwenkte. Das kleine Mädchen quietschte vor Vergnügen.

Paul, der auf dem Boden herumkrabbelte, von mehreren aufmerksamen Augenpaaren begleitet, hob den Kopf, um sich nach seiner Schwester umzusehen. Dabei verlor er das Gleichgewicht und plumpste zur Seite. Unverdrossen rollte er sich wieder herum und krabbelte weiter. Alle lachten.

»Das ist besser als Fernsehen«, stellte Anna fest. »Ich könnte den beiden den ganzen Tag zugucken.«

Friedrich übergab seiner Tochter die kleine Miriam. »Hier bitte, unterhalte sie ein bisschen. Ich muss leider noch einmal ins Büro – obwohl es bei euch viel schöner ist.«

»Bleib nicht zu lange, Fritz, bitte!«, rief die Baronin ihm nach. »Wir essen bald.«

»Eure Köchin ist eine Künstlerin«, seufzte Bettina. »Es würde mich nicht wundern, wenn ich ordentlich an Gewicht zulegte, so lange ich bei euch bin.«

»Ach was!«, entgegnete Sofia. »Du bewegst dich doch viel, Tina, da nimmst du auch nicht zu.«

Friedrich, der diesen Wortwechsel noch gehört hatte, zog lächelnd die Tür hinter sich zu. Im Büro erwartete ihn Volker Hagen mit mehreren Fragen, die dringend geklärt werden mussten. Sie besprachen alles, der Baron fällte die notwendigen Entscheidungen und wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als das Telefon klingelte. Es war Konstantin von Klawen.

»Störe ich, Fritz?«, fragte er.

»Überhaupt nicht. Was macht dein neues Buch?«

»Das Manuskript ist fertig«, antwortete Konstantin.

»Und jetzt fühlst du die bekannte Leere?«

»So ist es. Deshalb rufe ich auch an. Habt ihr das Haus voll oder könnte ich mich für ein paar Tage bei euch einnisten?«

»Es wäre sogar sehr schön, wenn du kämst, wir haben nämlich eine junge Frau hier, die sicherlich eine interessante Gesprächspartnerin für dich wäre. Sie ist gerade aus Afrika zurückgekehrt, wo sie zwei Jahre lang als Ärztin gearbeitet hat.«

»Etwa Bettina von Rabenfels?«, fragte Konstantin.

»Du kennst sie?«, rief Friedrich erstaunt.

»Ja, ich habe ihren Vortrag gehört neulich, und wir sind hinterher ins Gespräch gekommen. Fritz, sag ihr nicht, dass ich komme – dann kann ich sie überraschen.«

»Von mir aus gern«, erwiderte der Baron.

Zufrieden kehrte er in den Salon zurück, wo er sich dieses Mal den kleinen Paul schnappte, der ein wenig schüchterner als seine Schwes­ter war. Doch auch er zeigte ein seliges Lächeln, als der Baron ihn hoch über seinem Kopf durch die Luft schwenkte.

»Mir scheint«, stellte Bettina fest, »ihr braucht in absehbarer Zeit ein paar Enkelkinder, Sofia und Fritz.«

»Bevor ich dreißig bin, kriege ich keine Kinder«, sagte Konrad sofort.

»Männer kriegen sowieso keine Kinder, Konny«, kicherte Anna.

»Sehr witzig«, brummte er. »Du weißt aber doch, was ich gemeint habe, oder?«

»Und wie lange willst du warten, Anna?«, erkundigte sich Bettina.

»Keine Ahnung – auch noch ziemlich lange, schätze ich.«

»Du hörst es, Tina!«, lächelte Sofia. »Du wirst uns mit den Zwillingen einfach häufig besuchen müssen.«

Bettina nickte, aber sie sah die Baronin dabei nicht an. Ihr Blick ruhte auf Miriam, die zufrieden auf Christians Schoß saß und an seinen Haaren zog. Sie biss sich auf die Lippen. Als der kleine Fürst jedoch unvermutet den Kopf hob und sie direkt ansah, wandte sie sich hastig ab. Wenig später stand sie auf. »Ich mache einen kleinen Spaziergang«, erklärte sie. »Kann ich die Kinder bei euch lassen? Ich muss ein biss­chen nachdenken.«

»Wir sind froh, wenn du sie hier lässt, das weißt du doch!«, lächelte die Baronin.

Bettina ging also. Christians nachdenklicher Blick folgte ihr.

*

»Und wieso erfahre ich das erst jetzt?«, rief Helen Marienhagen. »Meine kleine Schwester verliebt sich, und ich bin die Letzte, der sie es erzählt!«

»Das stimmt doch gar nicht, Helen. Du bist die Erste, wenn du es genau wissen willst – und Moritz hat es auch erst einem Menschen erzählt, nämlich seinem Freund Konstantin.«

»Du und Moritz«, murmelte Helen. »Auf die Idee wäre ich im Leben nicht gekommen. Wieso kanntet ihr euch eigentlich nicht?«

»Seinen Namen hatte ich schon gehört, aber den Mann noch nie gesehen«, lächelte Lili. »Ich kenne ja auch Konstantin nicht besonders gut.«

Helen umarmte ihre Schwester. »Ich freue mich für dich. Und für Moritz. Wenn ich es mir recht überlege, seid ihr füreinander geschaffen.«

Lilis Wangen röteten sich. »Glaubst du das wirklich oder sagst du das jetzt nur so?«

»Das glaube ich wirklich. Jetzt erzähl mir aber ganz genau, wie das passiert ist!«

Lili hatte eben angefangen mit ihrem Bericht, als es klopfte und Konstantin erschien. Er sah ein wenig müde, aber sehr zufrieden aus. »Hallo, Helen, hallo, Lili – ich störe nicht lange. Hier ist das Manuskript, Helen, wie versprochen.«

Sie umarmte ihn. »Du hast es also wirklich geschafft!«, rief sie strahlend, bevor sie ihm das dicke Paket abnahm. »Dann kann ich mich ja gleich an die Arbeit machen.«

Er lächelte. »Ja, jetzt bist du an der Reihe – und ich bin froh, dass ich diese Last erst einmal los bin. Die letzten Wochen waren verdammt stressig, das muss ich schon sagen.«

Auch Lili umarmte ihn nun. »Herzlichen Glückwunsch, Konstantin.«

»Noch ist das Buch nicht fertig«, wehrte er ab. »Es könnte ja sein, dass deine Schwester die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, Lili, weil es ihr nicht gefällt.«

»Das wäre dann aber das erste Mal«, stellte Helen fest. »Was machst du jetzt, Tino?«

»Abschalten, ein paar Tage wegfahren, an nichts denken. So etwa habe ich mir das vorgestellt. Aber wenn etwas sein sollte, weißt du ja, wie du mich erreichen kannst.«

Er umarmte die beiden Frauen zum Abschied und ging wieder.

»Er ist nett«, stellte Lili fest.

»Und sehr, sehr gut«, setzte Helen hinzu. »Mein bester Autor – ohne ihn könnte mein kleiner Verlag einpacken. Wenn ein neues Buch von ihm herauskommt, kann ich sicher sein, dass es sich gut verkauft. Wenn ich doch bloß noch einen wie ihn fände!« Sie erinnerte sich an Lilis Neuigkeit und zog ihre jüngere Schwester zu dem bequemen Sofa, mit dem sie eine Ecke ihres Büros möbliert hatte. »Aber nun reden wir nur noch von dir. Beziehungsweise von dir und Moritz. Erzähl endlich!«

Das tat Lili nur zu gern.

*

»Alexa!«, sagte Henning von Rabenfels bittend. »Du warst doch neulich schon viel weiter – aber jetzt haderst du wieder mit deinem Schicksal. Nimm es doch einfach, wie es ist!«

»Nein«, sagte sie so heftig, dass er erschrak. »Das kann ich nicht. Die Zwillinge sind süß, ich habe sie von Herzen gern. Aber darum geht es nicht. Ich kann mich nicht damit abfinden, dass unsere Tochter sich durch ihr Verhalten selbst ins Abseits gestellt hat. Sie wird von niemandem mehr eingeladen werden, sie hat sich gesellschaftlich ins Aus manövriert. Die schlimmsten Folgen können wir vielleicht zunächst abfedern, aber wie wird das später sein? Miriam und Paul bleiben nicht immer die niedlichen Babys, bei deren Anblick die Leute in Entzückensschreie ausbrechen. Irgendwann werden sie unleidliche Teenager sein – und Bettina eine alleinerziehende Mutter von zwei schwarzen Kindern, die keinen Vater haben. Damit kann ich mich nicht abfinden, ich bin schließlich ihre Mutter!«

Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie hinzusetzte: »Und ich verstehe wahrhaftig nicht, wie du das so leicht nehmen kannst. Sie ist auch deine Tochter – und dir muss so klar wie mir sein, was auf sie zukommt.«

»Ich glaube nicht, dass das, was du erwartest, auf sie zukommt«, erwiderte Henning bedächtig.

Sie starrte ihn ungläubig an. »Ach, und wieso glaubst du das nicht? Du bist doch nicht blind, Henning. Und du kennst die Regeln, die bei uns herrschen. Davon hat Tina gleich mehrere verletzt. Sie wird auf keinen Fall ungeschoren davonkommen, das weißt du so gut wie ich.«

»Doch, ich denke schon«, widersprach Henning, »und ich will dir auch sagen, warum.«

»Da bin ich aber gespannt.«

Er überging ihren spitzen Tonfall und hielt ihr eine längere Rede, der sie mit wachsender Verwunderung lauschte.

»Aber wie kommst du denn darauf?«, rief sie schließlich. »Hast du mit ihr gesprochen? Hat sie etwas in der Richtung gesagt?«

»Kein Wort. Dennoch glaube ich, dass ich Recht habe. Ich kenne Tina – und du kennst sie auch.«

Sie ließ sich alles, was er gesagt hatte, noch einmal durch den Kopf gehen.

»Könnte sein«, gab sie endlich zu, »aber eine Garantie ist das nicht. Genauso gut ist es möglich, dass du dich irrst.«

»Das stimmt«, gab er ohne zu zögern zu, »aber mein Gefühl sagt mir, dass es sich so verhält, wie ich denke. Ich kenne die Gründe nicht, aber irgendwann werden wir sie erfahren, da bin ich ganz sicher.«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Ich fühle mich etwas benommen«, gestand sie. »Warum hast du mir nicht schon früher gesagt, was du vermutest?«

»Ich wollte sicher sein, dass ich mir nichts einbilde. Aber je länger ich darüber nachdenke, desto weniger Zweifel habe ich an der Richtigkeit meiner Theorie.«

»Und wann, denkst du, wird sie uns das sagen?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, Alexa. Komm her.«

Sie ging zu ihm, und er schloss sie in die Arme. Lange standen sie so, ohne sich zu rühren. Endlich murmelte sie: »Danke, Henning, dass du mir gesagt hast, was du denkst. Ich hoffe, du hast Recht.«

Statt einer Antwort küsste er sie.

*

»Sie spricht Französisch«, sagte Anna.

Christian grinste. »Ich bin nicht taub, Anna, das höre ich selbst.«

Sie waren in den Ställen gewesen und hatten soeben Bettina entdeckt, die mit einem Handy am Ohr auf einer der Bänke im Park saß.

Sie liefen langsam auf sie zu und hörten sie sagen: »Non, non, ne t’inquiète pas, ils sont bien. Personne …« Sie sah Anna und Christian auf sich zukommen, murmelte noch etwas, das die beiden nicht verstehen konnten und beendete das Gespräch.

»Sie hat gesagt: Beunruhige dich nicht, es geht ihnen gut«, raunte Anna ihrem Cousin zu.

Christian blieb stehen. »Ich habe schon ein Jahr länger Französisch als du, Anna!«

Bettina beendete ihr Gespräch. »Streitet ihr etwa?«, fragte sie.

»Nee«, antwortete Christian, »aber Anna meinte, sie müsste mir übersetzen, was du gerade gesagt hast – dabei habe ich das selbst verstanden.«

»Was habe ich denn gesagt?« Bettinas Stimme klang ein wenig erschrocken.

»Du hast gesagt: ›Beunruhige dich nicht, es geht ihnen gut.‹ Das stimmt doch, oder?«

»Ja, das stimmt«, antwortete Bettina und stand auf. »Wollen wir zurückgehen?«

Die beiden nickten. Christian wusste, dass Anna die Frage auf der Zunge lag, ob Bettina mit dem Vater von Miriam und Paul gesprochen hatte, denn das hätte er selbst auch gern gewusst. Aber eine innere Stimme sagte ihm, dass sie diese Frage nicht stellen durften, und so warf er Anna beschwörende Blicke zu.

Sie nickte zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte.

Bettina wirkte nervös, und Chris­tian musste daran denken, dass sie sich schon vorher, im Salon, ein wenig seltsam benommen hatte. Als die Rede davon gewesen war, dass sie mit den Zwillingen häufiger nach Sternberg kommen sollte, hatte sie zwar genickt, aber den Blick gesenkt und sich auf die Lippen gebissen. Und dieses französische Gespräch eben – sie hatte unglücklich und besorgt ausgesehen. Allmählich begann das Geheimnis, das sie um den Vater ihrer Kinder machte, auch ihn zu interessierten. Er hatte das deutliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

Eine Viertelstunde später saß er mit Anna in deren Zimmer, und seine Cousine sprach aus, was er selbst dachte: »Da stimmt was nicht. Mit Tina und den Zwillingen, Chris.«

»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, gestand er. »Aber ich weiß nicht, in welcher Hinsicht.«

»Na, es hat mit dem Vater zu tun!«, erklärte Anna im Brustton der Überzeugung. »Das ist doch völlig klar.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Chris­tian.

»Sie redet nicht über ihn, niemand weiß, wer er ist – und er ist nicht bei ihr«, sagte Anna. »Irgendwas ist mit dem Vater, da könnte ich wetten. Er hätte doch sonst einfach mitkommen können.«

»Vielleicht sind sie schon nicht mehr zusammen«, meinte Christian. »Das kommt ja vor.«

»Wie eine Frau, die Liebeskummer hat, wirkt Tina aber eigentlich nicht«, widersprach Anna. »Und wenn sie mit ihm noch telefoniert …«

»Du weißt nicht, ob das Miriams und Pauls Vater war«, hielt Christian ihr entgegen.

»Du meinst, wir kriegen nicht raus, was da los ist?«

»Wenn sie uns nichts erzählt, kriegen wir nichts raus. Wir wollen ja nicht aufdringlich sein und sie mit Fragen nerven, oder? Es gibt genug Leute, die sich plötzlich auffällig für sie und ihre Kinder interessieren.«

»Das stimmt«, gab Anna zu. »Denk bloß an die grässliche Gräfin, die scheinheilige alte …« Sie verschluckte das Schimpfwort, das sie auf der Zunge gehabt hatte. »Und was machen wir jetzt?«

»Nichts«, antwortete Christian nach kurzem Nachdenken. »Vielleicht entdecken wir durch Zufall etwas.«

Er ahnte nicht, wie bald das tatsächlich der Fall sein würde.

*

Konstantin lächelte, als Schloss Sternberg in Sicht kam. Es thronte majestätisch auf seinem Hügel und schien hoheitsvoll auf die Umgebung herunterzusehen. Gleich darauf verschwand es wieder für eine Weile aus dem Blickfeld. Wenn er es das nächste Mal würde sehen können, war er ihm schon relativ nahe.

Er freute sich sehr auf die Tage, die vor ihm lagen – und das lag vor allem an dem bevorstehenden Wiedersehen mit Bettina von Rabenfels. Zugleich war er auch ein wenig beunruhigt. Wenn sie keinen Wert auf seine Gesellschaft legte oder sie sogar unangenehm fand, konnte es natürlich schwierig werden. Aber sie hatten sich gut miteinander unterhalten können, und daran ließ sich hoffentlich anknüpfen. Vermutlich hatte sie eine Verabredung mit ihm nur deshalb abgelehnt, weil sie bereits wusste, dass sie nach Sternberg fahren würde …

Es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu ordnen. So ging es ihm immer, wenn er über Bettina von Rabenfels nachdachte. Sie hatte ihn in ihren Bann geschlagen – und verwirrt. Verzaubert, dachte er.

Das Schloss erhob sich vor ihm, er erschrak beinahe, dass er ihm schon so nahe gekommen war. Er drosselte das Tempo und fuhr gleich darauf auf den Schlossplatz, wo er den Wagen unter einer alten Linde abstellte. Als er sich dem Hauptportal näherte, wurde es bereits von innen geöffnet. »Willkommen auf Schloss Sternberg, Herr von Klawen«, sagte Eberhard Hagedorn. »Sie werden bereits erwartet.«

»Guten Tag, Herr Hagedorn. Sie glauben gar nicht, wie ich mich freue, wieder einmal hier zu sein.«

»Und das Wetter ist auch auf Ihrer Seite – ich hoffe, Sie haben einen angenehmen und erholsamen Aufenthalt bei uns. Um Ihr Gepäck kümmere ich mich gleich. Wenn Sie mir auf die Terrasse folgen wollen? Die Herrschaften sitzen draußen.«

Der alte Butler führte ihn durch die großzügige Eingangshalle und durch einen der Salons auf die Terrasse, wo sich Baron Friedrich sofort zu seiner Begrüßung erhob. »Da bist du ja, Konstantin«, sagte er und umarmte den jungen Mann herzlich.

Sofia bekam zur Begrüßung auf jede Wange einen Kuss, dann nahm Konstantin Platz. Außer dem Ehepaar war niemand anwesend, was Konstantin nicht unrecht war – so konnte er sich innerlich besser auf die bevorstehende Begegnung mit der jungen Frau einstellen, in die er sich so überraschend verliebt hatte.

»Schön, dass du gekommen bist«, sagte Sofia. »Erzähl uns von deinem neuen Buch, Konstantin.«

Das tat er gern, und während er sprach, beruhigte er sich endlich. Er war hier bei Freunden, ihm konnte nichts passieren.

Doch kaum hatte sich sein Puls normalisiert und schlug ihm das Herz nicht mehr bis zum Hals, als er Gelächter und Stimmen hörte. Dazu ein Geräusch, das er nicht sofort einordnen konnte. Eine Art vergnügtes Quietschen.

»Habt ihr Kinder hier?«, fragte er verwundert.

Die Baronin lachte. »Und was für welche, du wirst staunen! Wir sind alle ganz verliebt in Miriam und Paul.«

Er kam nicht mehr dazu, weitere Fragen zu stellen, denn in diesem Augenblick betraten Bettina von Rabenfels, Anna und Christian die Terrasse. Bettina und Anna trugen je ein schwarzes Baby auf dem Arm – eins davon lachte Konstantin fröhlich an und stieß ein paar Laute aus, die offenbar so eine Art Willkommensgruß darstellten.

»Das ist Miriam«, erklärte die Baronin. »Sie ist eine kleine Draufgängerin, während ihr Bruder Paul ein wenig schüchtern ist.«

Konstantin war zur Begrüßung höflich aufgestanden. In seinem Kopf herrschte wieder einmal Chaos. Was waren das für Kinder? Afrikanische offensichtlich, aber was hatten sie mit Bettina von Rabenfels zu tun?

Als hätte er die Frage laut gestellt, bekam er im nächsten Augenblick auch schon die Antwort. Die schöne junge Ärztin sah ihn gerade heraus an, als sie sagte:

»Nun sehen wir uns also doch noch einmal wieder, Herr von Klawen. Darf ich Sie mit meinen Kindern Miriam und Paul bekannt machen?«

›Wie vom Donner gerührt‹ – endlich verstand er die Bedeutung dieser Redewendung, denn genau so fühlte er sich. Später konnte er sich nicht mehr erinnern, wie er sich verhalten und was er gesagt hatte. Er hörte sich reden, wusste aber nicht, was er sagte. Er reagierte wie ein Automat, aber immer wieder ruhten seine Blicke auf den beiden Babys.

Bettinas Kinder. Sie war Mutter von Zwillingen. Natürlich gab es irgendwo auch den Vater von Miriam und Paul.

Nun weiß ich auch, warum sie mich nicht wiedersehen wollte, und ich habe mir eingebildet, vielleicht Chancen bei ihr zu haben – was für ein grandioser Irrtum, dachte er.

*

»Helen ist ganz begeistert von deinem Freund Konstantin«, sagte Lili.

»Und er ist begeistert von ihr. Ich denke, da haben sich die zwei Richtigen getroffen«, meinte Moritz. »Seine Bücher verkaufen sich gut, und er schätzt ihre Art, ihn zu betreuen. Außerdem gefällt es ihm, dass sie so unkonventionell ist. Ich kann mir Tino nicht mit einem Verleger im grauen Nadelstreifenanzug vorstellen, der vor allem mit ihm über Verkaufszahlen und die Werbung für sein neuestes Buch redet.«

Lili musste lachen. Ihre Schwes­ter im grauen Geschäftskostüm? Unmöglich. Dann wurde sie wieder ernst. »Ich bin froh, dass sie so gut miteinander auskommen – für Helen ist er wichtig. Sie hat immer einen kleinen Verlag haben wollen, aber da sind die Risiken natürlich auch größer. Ein Bestsellerautor hilft da schon enorm weiter. Manchmal zieht sie mich auf, weil ich solche Sorgen ja nicht habe, als Studienrätin. Ich sage ihr dann immer, dass sie froh sein soll, wenn wenigstens eine in der Familie ein festes und sicheres Einkommen hat. Zur Not kann ich sie ernähren, wenn sie mal Pleite macht.«

»Pleite?«, rief Moritz erschrocken.

»War nur Spaß. So lange dein Freund seine Bücher bei ihr veröffentlicht, wird das sicherlich nie passieren.«

Moritz blieb stehen. »Können wir mal wieder über uns reden?«, fragte er.

Sie schlang ihre Arme um seinen Hals. »Und worüber genau?«, fragte sie mit einem Lächeln.

»Wollen wir heiraten, Lili?«

Sie sah beinahe erschrocken aus. »Ist das nicht ein bisschen schnell?«, fragte sie. »Ich denke normalerweise ziemlich lange nach, bevor ich eine so wichtige Entscheidung fälle.«

»Ich auch«, versicherte er. »Aber in diesem speziellen Fall bin ich so sicher, dass weiteres Nachdenken reine Zeitverschwendung wäre. Deshalb dachte ich, ich frage dich. Wenn du lieber noch warten willst, warten wir. Auf dich warte ich auch jahrelang.«

Ihr Lächeln war weich, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn zu küssen. »Ich bin auch sicher, Moritz«, sagte sie danach. »Und warum sollen wir nicht einmal etwas tun, was wir normalerweise nie tun würden? Ja, lass uns heiraten!«

»Wirklich? Keine Zweifel?«

Sie schüttelte nur den Kopf, und daraufhin besiegelten sie das Versprechen, das sie sich soeben gegeben hatten, mit einem weiteren innigen Kuss.

*

Bettina legte das Handy nachdenklich zur Seite. Sie hatte ein weiteres Gespräch mit ihren Freunden im Kongo geführt. Eigentlich hätten sie längst in Gabun sein sollen, in Libreville. Dort gab es einen internationalen Flughafen, von dem sie selbst ebenfalls abgeflogen war. Doch es hatte Schwierigkeiten gegeben – sie musste also weiter Geduld haben. Das waren beunruhigende Neuigkeiten, und hier in Deutschland gab es niemanden, mit dem sie darüber hätte reden können.

Doch, dachte sie, Sofia könnte ich es vielleicht erzählen, aber ich werde es nicht tun. Die Abmachung war, dass niemand die Wahrheit erfährt, weil es einfach zu gefährlich ist, Mitwisser zu haben. Daran muss ich mich halten.

Sie ging zum Fenster der Gästesuite, die sie für die Zeit ihres Aufenthalts auf Schloss Sternberg bewohnte. Der Anblick Konstantin von Klawens war ein Schock für sie gewesen. Sie hatte ein so angenehmes Gespräch mit ihm geführt nach ihrem Vortrag! Sie fand ihn außerordentlich anziehend und hätte sich nur zu gern ein weiteres Mal mit ihm getroffen. Es kam selten genug vor, dass sie Männer traf, die ihr gefielen, aber sie hatte ihm einen Korb geben müssen. Er war enttäuscht gewesen, das hatte sie gesehen – genau wie sie selbst.

Und jetzt? Jetzt hatte er natürlich keinerlei Interesse mehr an ihr, logischerweise. Eine junge Frau mit zwei Babys wirkte sicher auf jeden Mann erst einmal ziemlich abschreckend …

Ganz plötzlich kamen ihr die Tränen. Sie legte die Stirn an die kühle Glasscheibe und ließ ihnen freien Lauf. Die letzten Monate waren anstrengend gewesen – geprägt von Angst und ständiger Gefahr. Es wurde Zeit, dass das aufhörte und dass sie endlich wieder ihr eigenes Leben leben konnte. Aber wenn Freunde Hilfe brauchten, dann zögerte man nicht lange, sondern half ihnen – zumindest sie tat das.

Von ferne hörte sie Miriams zufriedenes ›dadada‹, hastig wischte sie sich die Tränen vom Gesicht. Sie hatte keine Zeit für trübe Gedanken, sie musste diese Sache jetzt durchstehen, eine Wahl blieb ihr nicht.

Wenn alles gut ging, konnte sie vielleicht irgendwann ein offenes Gespräch mit Konstantin von Klawen führen – doch angesichts der neuesten Informationen, die sie erhalten hatte, musste sie befürchten, dass noch einige Zeit vergehen würde, bis es so weit war.

*

Konstantin hatte sich Anna und Christian zu einem Ritt durch die Wälder angeschlossen. Zuerst hatte er gezögert, jetzt war er froh darüber. Die beiden Teenager lenkten ihn von seinen Grübeleien über Bettina von Rabenfels und ihre Kinder ab. »Es ist wunderschön hier«, stellte er fest, als sie auf einer Lichtung absaßen, um eine Pause zu machen.

»Wir sind oft hier«, erzählte Anna. »Jedenfalls, wenn das Wetter gut ist und wir Zeit haben. Während der Woche geht es meistens nicht, weil wir auch nachmittags Unterricht haben und immer viele Hausaufgaben machen müssen. Aber an den Wochenenden kommen wir fast immer her. Nicht, Chris?«

Der kleine Fürst nickte. Er war schon die ganze Zeit schweigsam gewesen, nun stellte er Konstantin völlig unerwartet eine direkte Frage. »Bist du in Tina verliebt?«

Anna schnappte nach Luft. Zu ihr sagte Christian immer, sie solle sich zurückhalten und ihre Neugier nicht so deutlich zeigen – und nun preschte er selbst in dieser Weise vor! Nicht weniger überraschend als Christians Frage war aber Konstantins offene Antwort.

»Ja«, sagte er nämlich ganz einfach. »Sie hat mir sofort gefallen. Wir haben uns nach ihrem Vortrag noch länger unterhalten, bei einem Essen. Danach wollte ich mich mit ihr verabreden, aber da hat sie einen Rückzieher gemacht. Ich hatte vorher den Eindruck gehabt, dass sie mich auch mochte, aber sie hat mir einfach einen Korb gegeben. Also dachte ich, ich müsste mich geirrt haben.« Sein Blick schweifte in die Ferne, während er leiser hinzufügte: »Ich hatte natürlich keine Ahnung, dass sie zwei Kinder hat – und vermutlich einen Mann.«

»Über den redet sie aber nicht«, stellte Anna fest. »Wir trauen uns nicht, nach ihm zu fragen, weil ganz klar ist, dass sie nicht über ihn reden will. Nicht einmal ihre Eltern wussten, dass sie Zwillinge hat.«

»Wie bitte?«, fragte Konstantin verblüfft. »Das glaube ich dir nicht, Anna.«

»Es stimmt aber«, versicherte Christian. »Wir waren ja dabei am Flughafen. Wir haben ihre Mutter begleitet, weil die nicht gern allein nach Frankfurt fahren wollte. Du hättest mal Alexas Gesicht sehen sollen!«

»Wer ist Alexa?«

»Tinas Mutter«, erklärte Anna geduldig. »Die ist bald in Ohnmacht gefallen. Tina war froh, dass wir dabei waren, so wurde es nicht allzu peinlich.«

»Und … was hat sie gesagt? Ich meine, wie hat sie das mit den Kindern erklärt?«

»Gar nicht. Sie hat nur gesagt: ›Das ist ja ein großer Bahnhof für mich und meine Kinder‹, das war alles. Ob sie ihrer Mutter noch mehr erzählt hat, wissen wir natürlich nicht.«

»Ihre eigenen Eltern wussten nichts von den Kindern?«, fragte Konstantin ungläubig. »Sie war zwei Jahre in Afrika, richtig?«

»Ja, sogar ein bisschen länger.«

»Die Zwillinge sind ein Jahr alt, dazu neun Monate Schwangerschaft – sie ist also ziemlich bald nach ihrer Ankunft in Afrika schwanger geworden.«

»Das haben wir auch schon ausgerechnet.«

»Und sie hat die ganze Zeit kein Wort darüber verloren?«

»Das ist das, worüber Alexa sich am meisten aufgeregt hat: dass sie schon seit einem Jahr Großmutter ist und nichts davon wusste«, erklärte Anna.

Christian schüttelte ganz langsam den Kopf. »Wir sind ja auch wirklich zu blöd, dass wir das einfach geglaubt haben«, sagte er. »Die Geschichte kann überhaupt nicht stimmen.«

»Was willst du denn damit sagen?«, rief Anna.

»Tina hat immer ein richtig gutes Verhältnis zu ihren Eltern gehabt«, spann der kleine Fürst seinen Faden weiter. »Wenn sie sich Hals über Kopf in einen Afrikaner verliebt und bald von ihm schwanger geworden wäre, hätte sie das garantiert erzählt. Und ich wette, dass ihre Eltern sich mit ihr gefreut hätten. Wieso haben wir nicht gleich gemerkt, dass sie lügt, Anna?«

»Ich verstehe immer noch nicht, was du damit eigentlich sagen willst!«, erklärte Anna ungeduldig. »Wieso sollte sie lügen?«

»Ich verstehe es, ehrlich gesagt, auch nicht«, stimmte Konstantin ihr zu. »Was denkst du denn, was die Wahrheit ist?«

Christian ließ sich noch einige Sekunden Zeit, bevor er langsam und mit Nachdruck antwortete: »Ich glaube, dass Miriam und Paul nicht ihre Kinder sind. Sie tut nur so – allerdings weiß ich auch nicht, warum. Aber ich schätze mal, sie will jemandem damit helfen.«

Mehrere Sekunden lang war es still, während Anna und Konstantin über das soeben Gehörte nachdachten, dann schlug sich Konstantin mit der flachen Hand vor den Kopf. »Natürlich!«, rief er. »Sie war im Grenzgebiet zwischen dem Kongo und Gabun im Einsatz. Im Kongo wird gekämpft, die Situation dort ist instabil und gefährlich. Viele Leute fliehen, weil sie sich bedroht fühlen und Angst um ihr Leben haben. Eine Flucht mit zwei Babys ist natürlich besonders schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Vielleicht hat sie den Eltern helfen wollen.«

»Und wie kriegen wir jetzt raus, ob das stimmt?«, fragte Christian.

»Überhaupt nicht, schätze ich – bis die Eltern der Kinder ebenfalls in Sicherheit sind.« Konstantin dachte nach. »Wir sollten von diesen Überlegungen nichts erwähnen, das würde ihr nur zusätzlichen Stress bereiten. Sie hat ja sicherlich Gründe, die Kinder als ihre eigenen auszugeben. Vermutlich will sie sie nicht in Gefahr bringen – und die Eltern auch nicht. Einverstanden?«

Anna und Christian nickten zögernd und ein wenig enttäuscht. Sie mochten es nicht, wenn sie einem Geheimnis auf der Spur, aber dennoch zur Untätigkeit verurteilt waren. Sie sahen aber ein, dass Konstantins Argumente einiges für sich hatten.

Nach einer weiteren Viertelstunde saßen sie wieder auf und kehrten zum Schloss zurück – schweigend dieses Mal. Es gab für jeden von ihnen reichlich Stoff zum Nachdenken.

*

»Es ist großartig«, sagte Helen Marienhagen zu ihrem Mann und legte Konstantins Manuskript vor sich auf den Tisch.

Clemens war zu Hause, er würde auch in den nächsten Wochen häufig zu Hause sein. Seine Band gab derzeit keine Konzerte, sondern spielte ein neues Album im Studio ein. Natürlich kam er oft erst spät abends von der Arbeit zurück, aber er war zumindest nicht ständig unterwegs. Sie genossen diese Zeit beide.

Er saß ihr gegenüber und sah jetzt von seiner Lektüre auf. »Dann bring es schnell auf den Markt«, meinte er. »Du brauchst doch Geld, oder?«

»Ja, es ist etwas eng im Augenblick«, gestand sie seufzend. »Die Verkaufszahlen unserer Titel sind leicht zurückgegangen, und wir hatten hohe Ausgaben, die erst nach und nach wieder hereinkommen werden. Die Leute sparen, Clemens. Niemandem sitzt im Moment das Geld locker in der Tasche.«

Er legte sein Buch weg. »Komm mal her«, sagte er.

Sie stand auf und setzte sich neben ihn. Er zog sie in seine Arme und hielt sie fest. »Wir sind verheiratet, Baby«, sagte er. »Findest du nicht, dass du deinem Ehemann gestatten solltest, dir finanziell ein bisschen unter die Arme zu greifen?«

»Bei euch reicht es doch auch gerade immer nur so zum Leben«, erwiderte sie, während sie sich an ihn kuschelte.

»Na, das hat sich in den letzten beiden Jahren schon ein wenig geändert«, gestand er mit einem Lächeln. »Ich konnte einiges beiseite legen und habe das auch getan, weil ich mir dachte, du würdest es vielleicht irgendwann brauchen.«

Sie richtete sich auf, um ihm in die Augen sehen zu können. »Ist das dein Ernst?«, fragte sie.

»Natürlich ist das mein Ernst. Ich mache über solche Dinge keine Witze, das solltest du eigentlich wissen.«

»Ich könnte ein kleines Darlehen wirklich gut gebrauchen«, fuhr sie fort. »Dann könnte ich wieder besser schlafen und müsste nicht erneut mit der Bank verhandeln. Die verlangen so unverschämt hohe Zinsen, weißt du?«

»Ich sage dir jetzt mal was«, erklärte Clemens ruhig. »Ich beteilige mich als stiller Teilhaber an deinem Verlag – und als solcher zahle ich Geld ein. Zum Dank darfst du mich einmal im Jahr zu einem Konzert mit einem richtigen Weltstar einladen.«

»Aber wenn du das Geld auf der Bank hättest, würde es für dich arbeiten und …«

Er verschloss ihr den Mund mit einem Kuss. »Ich brauche kein Geld, Helen, ich brauche eine Frau, die glücklich und zufrieden ist und sich nicht nachts sorgenvoll von einer Seite auf die andere dreht. So einfach ist das. Ich kann mit dem Geld ganz bestimmt nichts Vernünftigeres anfangen als es dir zu geben, davon bin ich fest überzeugt.«

Sie schlang ihre Arme um ihn. »Du bist der beste Mann der Welt, Clemens.«

»Das höre ich gern, und so soll es auch bleiben, meine Süße!«

*

Bettina traute ihren Augen nicht, als sie morgens aufstand und Konstantin mit Miriam und Paul spielen sah. Sofia musste die Kinder geholt haben, während sie selbst noch geschlafen hatte. Sie sahen munter aus, krähten beide fröhlich und ließen sich von ihrem Erscheinen nicht von dem lustigen Spiel mit dem netten Mann abhalten.

Konstantin sah auf. »Guten Morgen«, sagte er mit einem Lächeln. »Wir haben uns angefreundet, Miriam, Paul und ich.«

»Ja, das sehe ich«, erwiderte Bettina mit schwacher Stimme. »Sie sind einfach zu vertrauensselig. Jeden, der nett zu ihnen ist, halten sie für ihren Freund. Wenn sie mal älter sind, könnte das ein Problem werden.«

Konstantin lachte, und sie ertappte sich dabei, dass sie enttäuscht über seine gute Laune war. Es wäre schöner gewesen, dachte sie, wenn er traurig darüber gewesen wäre, dass ich bereits Mutter zweier Kinder und vermutlich in fes­ten Händen bin.

Christian tauchte auf. »Ich dachte, ich bin der Erste«, sagte er. »Da habe ich mich ja ganz schön getäuscht. Wieso seid ihr schon auf?«

»Ich konnte nicht schlafen«, lautete die zweistimmige Antwort. Verblüfft sahen sich Bettina und Konstantin an, dann fingen sie an zu lachen.

»Ich auch nicht«, erklärte Chris­tian.

Die Baronin erschien. »Na, so was!«, rief sie. »Ich dachte, Konstantin, die Kinder und ich könnten uns jetzt gemütlich und ganz unter uns zum Frühstück setzen.«

»Gemütlich schon, Tante Sofia«, sagte der kleine Fürst. »Nur seid ihr nicht mehr unter euch. Oder habt ihr Geheimnisse?«

»Aber nein, Chris. Nehmt die Kinder mit, Frau Falkner hat ihnen sehr leckeren Fruchtbrei zubereitet.«

»Zubereitet?«, fragte Bettina. »Sie hat keinen Fertigbrei genommen, Sofia?«

»Wo denkst du hin? Das wäre unter ihrer Würde. Sie ist, seit ihr hier seid, ganz in ihrem Element. Endlich kann sie sich an ihrem neuen Herd austoben.« Sofia hatte am Abend zuvor von dem Küchenbrand erzählt, der die Schlossbewohner vor kurzem in Angst und Schrecken versetzt hatte.

Sie begaben sich also in den Salon, in dem für gewöhnlich die Mahlzeiten eingenommen wurden. Hier war liebevoll eingedeckt worden. Sie griffen mit gutem Appetit zu. Konstantin ließ es sich nicht nehmen, Paul zu füttern, Christian übernahm Miriam.

»Wenn das so ist«, meinte Bettina, »dann muss ich mich ja offenbar um nichts kümmern.«

»Freu dich doch«, meinte Christian harmlos, »jede Mutter ist doch froh, wenn sie mal ein bisschen Ruhe hat.«

Sie warf ihm einen scharfen, prüfenden Blick zu, den er in aller Unschuld erwiderte. Er hatte Miriam gerade wieder einen Löffel Apfelbrei in den winzigen Mund geschoben, als ein seltsames Klopfgeräusch ertönte.

»Mein Handy«, sagte Bettina entschuldigend. »Es könnte wichtig sein, entschuldigt bitte. Ich weiß, es ist unhöflich …« Mit diesen Worten erhob sie sich und bewegte sich auf die Tür zur, während sie das Gespräch entgegennahm.

Konstantin folgte ihr mit seinem Blick und sah sie mit einem Ruck stehenbleiben.

»Joseph?«, rief sie so laut, dass auch Christian und die Baronin aufmerksam wurden. Paulchen verzog das Gesicht, während Miriam mit ungeduldigen Bewegungen ihrer kleinen Hände nach mehr Brei verlangte.

Bettina hatte den Namen französisch ausgesprochen, und jetzt sprach sie in schnellem Französisch weiter. Offenbar hatte sie vergessen, dass sie Zuhörer hatte, denn sie dachte nicht mehr daran, den Salon zu verlassen. Christian verstand nur einzelne Wörter, er sah seiner Tante und Konstantin an, dass es ihnen ähnlich ging.

Das Gespräch endete schnell. Als Bettina sich zu den anderen umdrehte, war ihr Gesicht kreidebleich. »Ich muss sofort nach Stuttgart«, erklärte sie. »Da sind … Freunde von mir aus Gabun angekommen, denen werden Schwierigkeiten bei der Einreise gemacht. Ich muss ihnen helfen. Sie sprechen kaum Deutsch. Ich hatte ihnen eine Einladung geschickt, damit sie ein Visum bekommen, aber etwas scheint schiefgelaufen zu sein.«

»Ich begleite Sie«, sagte Konstantin schnell entschlossen.

»Aber nein, ich …«

»In Ihrem Zustand setzen Sie sich nicht ans Steuer«, sagte er ruhig, aber sehr bestimmt. »Ich schlage außerdem vor, dass Christian uns begleitet. Wenn er, als zukünftiger Fürst von Sternberg, sich für Ihre Freunde einsetzt, werden sie womöglich weniger Schwierigkeiten haben. Was meinst du, Chris?«

»Ich möchte gern mitfahren. Ich darf doch, Tante Sofia?«

Sofia begegnete Konstantins Blick, und ihr war, als wollte er ihr wortlos etwas mitteilen. Wenn sie auch die Botschaft nicht verstand, so begriff sie doch, dass es sich offenbar um etwas Wichtiges handelte und dass sie die Bitte nicht ablehnen konnte. »Natürlich«, antwortete sie ruhig. »Ich kümmere mich um die Kinder, Tina, mach dir keine Sorgen. Und bring deine Freunde dann bitte mit. Wir sollten ihnen vielleicht eine weitere Einladung schreiben – nur zur Vorsicht.«

»Danke, Sofia!« Bettinas Augen schwammen in Tränen.

Keine Viertelstunde später fuhren die drei ab und ließen die Baronin nachdenklich zurück. Sie war froh, dass Miriam und Paul ihre Aufmerksamkeit beanspruchten und sie von all den Fragen, die sie sich stellte und auf die sie keine Antwort fand, ablenkten.

*

Es wurde eine schweigsame Fahrt nach Stuttgart. Zum Glück dauerte sie nicht allzu lange. Bettina war unübersehbar nervös – und nicht nur das, sie hatte auch Angst, das war ihr anzumerken. Da sie aber offenbar noch immer nicht reden wollte, hielten Christian und Konstantin es für besser, sie nicht zu bedrängen. Außerdem hatte Bettinas Nervosität längst auf sie übergegriffen. Sie wussten nicht genau, was sie erwartete, also konnten sie sich auch nicht auf das Bevorstehende einstellen.

Als sie sich dem Flughafen näherten, hielt Konstantin es für angemessen, das Schweigen zu brechen. »Wenn wir Ihnen helfen sollen, brauchen wir ein paar Information, Frau von Rabenfels«, erklärte er ruhig. »Wir sollten zumindest die grundlegenden Fakten kennen. Ihre Freunde heißen also Elise und Joseph Ogudu?« Das wusste er, weil er die Einladung nach Sternberg für die beiden selbst geschrieben hatte.

Sie nickte. »Ja. Ich kenne Elise und Joseph gut, weil wir zusammen gearbeitet haben, fast zwei Jahre lang. Joseph ist Chirurg, ein sehr guter Chirurg, Elise ist Hebamme, die beste, die ich je kennengelernt habe.«

Sie stockte kurz, dann setzte sie hinzu: »Sie sind mit dem Tode bedroht worden von diesen Mörderbanden, die durchs Land ziehen. Ich hatte Angst genug, dass sie es nicht schaffen würden, sich abzusetzen. Sie hätten längst hier sein sollen – aber es ist immer schwieriger geworden, den Kongo über die Grenze nach Gabun zu verlassen. Die beiden sind Kongolesen, und sie lieben ihre Heimat. Sie haben lange gezögert, sie wollten eigentlich nicht gehen.« Sie schluckte, während sie aus dem Fenster sah. »Ich denke, mehr müssen Sie nicht wissen. Sie sind meine Freunde, ich habe sie zu mir eingeladen. Sie haben ein Recht darauf, hier zu sein.« Ihre Stimme war bei den letzten Sätzen immer heftiger geworden.

Niemand sagte danach ein Wort. Konstantin fuhr langsamer und wechselte die Spur. Der Flughafen lag jetzt direkt vor ihnen.

*

»Schlafen die anderen noch?«, fragte Anna, als sie, noch immer verschlafen aussehend, nach unten kam.

»Nein, Tina ist nach Stuttgart gefahren, mit Konstantin und Christian, um Freunde aus dem Kongo abzuholen«, antwortete die Baronin. Ihr Mann und sie wechselten einen kurzen Blick. Friedrich war auch ziemlich spät aufgestanden, aber bereits im Bilde über das, was geschehen war.

Annas Gesicht war ein einziges großes Fragezeichen, und so erzählte die Baronin ein weiteres Mal, was sich ereignet hatte.

»Mist, dass ich verschlafen habe!«, rief Anna. »Wieso habt ihr mich nicht geweckt? Ich wäre so gern mitgefahren, Mama!« Sie sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. »Chris haben sie mittlerweile bestimmt eingeweiht. Jetzt kommt die Wahrheit ans Licht, und ich bin nicht dabei!«

»Welche Wahrheit denn?«, fragte Baron Friedrich erstaunt.

»Ach nichts«, nuschelte Anna, als sie merkte, dass sie zu viel gesagt hatte.

»Dadada«, rief Miriam aus der Ecke des Salons, in der sie gerade herumkrabbelte.

Anna eilte zu ihr, denn sie hielt das für eine sehr elegante Art und Weise, weiteren forschenden Fragen zu entgehen.

Doch ihre Eltern hatten nicht die Absicht, sich so einfach abspeisen zu lassen. Die Baronin erhob die Stimme. »Papa hat dich etwas gefragt, und wir sind gespannt auf die Antwort, Anna.«

»Es ist aber nicht mein Geheimnis«, erklärte das Mädchen widerstrebend.

»Raus mit der Sprache!«, forderte Sofia energisch. »Was geht hier vor?«

»Wir wissen doch gar nichts Bestimmtes, Mama.«

»Wer ist ›wir‹?«

»Na, Konstantin, Chris und ich. Eigentlich ist Chris auf die Idee gekommen, dass Tinas Geschichte einfach nicht stimmen kann.«

Die Baronin setzte sich kerzengerade hin, und auch Baron Friedrich richtete seine Konzentration nun ganz auf seine Tochter. Mit wachsendem Erstaunen nahmen sie die Überlegungen zur Kenntnis, die Konstantin und die beiden Teenager am Tag zuvor angestellt hatten.

»Donnerwetter!«, murmelte der Baron, als Anna zum Ende gekommen war. »Ich muss zugeben, es spricht einiges dafür, dass ihr Recht haben könntet. Wieso sind wir nicht darauf gekommen, Sofia?«

»Gute Frage«, erwiderte sie. »Wir haben Tina wahrscheinlich geglaubt, weil wir ihr immer geglaubt haben, Fritz.«

Er nickte nachdenklich. »Hoffentlich geht alles gut in Stuttgart«, sagte er beunruhigt.

»Und ich bin nicht dabei!«, klagte Anna.

»Was ist denn hier los?«, fragte Konrad von der Tür her. »Wo sind denn alle hin?«

Dieses Mal übernahm es der Baron, die Geschichte zu erzählen.

*

Konstantin hatte richtig vermutet: Die Tatsache, dass sich der kleine Fürst persönlich nach Elise und Joseph Ogudu erkundigte und erklärte, die beiden würden auf Schloss Sternberg dringend erwartet, brachte Bewegung in die bis dahin festgefahrene Angelegenheit mit den afrikanischen Passagieren, deren Papiere seit Stunden überprüft wurden. Als sie zudem noch die Einladung nach Sternberg präsentierten, gab es keine Bedenken mehr, die beiden Kongolesen einreisen zu lassen.

Bettina eilte auf das junge Paar zu und umarmte zuerst Elise, dann Joseph. Sie raunte ihnen einige Informationen zu, bevor sie sie Konstantin und Christian vorstellte. Der kleine Fürst hieß sie in tadellosem Französisch in Deutschland willkommen, woraufhin Elise ihn liebevoll umarmte. Was ein deutscher Prinz war, vermochte sie sich nicht vorzustellen – und es war ihr wohl auch nicht wichtig.

Auch Konstantin begrüßte die Neuankömmlinge auf Französisch, das er allerdings nicht besonders gut beherrschte. Er stellte fest, dass Joseph etwa in seinem Alter war, Elise schien ihm einige Jahre jünger zu sein. Ihnen waren die Strapazen der letzten Wochen anzusehen, sie wirkten müde und erschöpft. Vielfältige Entbehrungen, Angst und Not hatten feine Linien in ihre Gesichter gegraben.

Er fragte, ob sie essen wollten, aber das lehnten sie ab.

»Sie brauchen Ruhe, das vor allem«, erklärte Bettina. »Am besten, wir fahren so schnell wie möglich zurück.«

Dieses Mal verlief die Fahrt nicht so schweigsam. Bettina saß hinten bei ihren Freunden, Christian und Konstantin konnten ihrer leise und schnell geführten Unterhaltung nicht folgen. Doch sie glaubten zu wissen, wonach Elise und Joseph sich so eindringlich erkundigten – oder besser gesagt: nach wem.

*

Anna war auf den Hügel am Rande des Sternberger Schlossparks gestiegen – hier lag der Familienfriedhof, hier hatten Christians Eltern ihre letzte Ruhe gefunden. Togo war bei ihr. Sonst begleitete er den kleinen Fürsten auf seinem Gang hierher – heute war es Anna ein Bedürfnis gewesen, ihn zu vertreten. Christian besuchte seine Eltern jeden Tag, er ›redete‹ in Gedanken mit ihnen über alles, was ihm wichtig erschien.

»Ihr werdet es nicht glauben«, begann Anna ihren stummen Bericht, »aber Chris ist nach Stuttgart gefahren, zum Flughafen, und ich bin ziemlich sicher, dass dort die Eltern der Zwillinge angekommen sind. Hat er euch davon erzählt? Noch nicht? Macht nichts, das kann ich ja jetzt nachholen.«

Sie ging in Gedanken die ganze lange Geschichte noch einmal durch und begriff mit einem Mal, warum der tägliche Besuch der fürstlichen Gruft für Christian so wichtig geworden war: Er hielt auf diese Weise nicht nur die Erinnerung an seine Eltern aufrecht, sondern er ordnete auch seine Gedanken. Sie war plötzlich ganz sicher, dass man an diesem Ort jedes Problem lösen konnte, wenn man nur lange genug blieb. Es war still hier und friedlich. Die Aussicht war atemberaubend schön, und die Anwesenheit der Toten wirkte seltsam tröstlich und nicht etwa, wie man vielleicht hätte meinen können, beängstigend.

»Ich war zuerst ziemlich sauer«, beendete Anna ihren inneren Monolog, »weil Chris mich nicht geweckt hat, damit ich auch mitfahren kann – aber jetzt finde ich es gut. So konnte ich Mama und Papa sagen, was wir glauben. Sie sind jetzt also vorbereitet und können deshalb mit Elise und Joseph bestimmt viel besser umgehen. Findet ihr das nicht auch gut?«

Anna sah sich um, als müsste ihr von irgendwoher eine Stimme antworten, aber nichts geschah. Das fand sie ein wenig enttäuschend. »Ich gehe jetzt wieder – ich wollte euch nur sagen, dass Chris unterwegs ist und euch heute erst etwas später besuchen wird. Tschüss.« Laut sagte sie: »Komm, Togo.«

Der Hund war bereits auf den Beinen und rannte den Weg hinunter in den Park, wo er gleich darauf nicht mehr zu sehen war. Anna folgte ihm langsamer. Sie ging an anderen Grabsteinen vorüber und drehte sich dann noch einmal um. Sonnenflecken waren auf der Gruft zu sehen, die von einem dichten Blätterdach beschützt wurde. Ein Eichhörnchen kam näher, betrachtete Anna neugierig und flitzte dann am Stamm einer dicken Eiche hinauf. Im nächsten Moment schon saß es auf einem Ast direkt über Annas Kopf und äugte auf sie herunter.

Anna lächelte. Christian hatte ihr schon oft erzählt, dass seine Eltern ihm Zeichen sandten, damit er wuss­te: Sie hatten ihn gehört. Das Eichhörnchen war ganz gewiss ein solches Zeichen.

Sie hörte das leise Brummen eines Autos. Sie beschirmte die Augen mit einer Hand und spähte zur langen Auffahrt hinüber. Da kamen sie!

Nun hatte sie es eilig. Sie rannte los, denn verpasst hatte sie an diesem Tag wahrhaftig schon genug.

*

»Frau Baronin, Herr Baron, der Wagen von Herrn von Klawen nähert sich«, sagte Eberhard Hagedorn.

»Danke, Herr Hagedorn.« Sofia nahm Miriam auf den Arm, Friedrich schnappte sich den kleinen Paul, und dann eilten sie zum Hauptportal, um ihre Gäste gebührend zu empfangen. Sie riefen nach Konrad, doch er antwortete nicht.

Konstantin und Christian sprangen zuerst aus dem Wagen, ihnen folgten Bettina und dann, langsam und zögernd, die beiden afrikanischen Gäste, Elise und Joseph. Die Augen der jungen Frau weiteten sich, als sie Sofia und Friedrich mit den Babys auf dem Arm sah. »Mes petits«, rief sie, »meine Kleinen!« Sie schwankte, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Ihr Mann stützte sie, auch er war sichtlich gerührt. Dann stürzten sie vorwärts.

Was nun folgte, sollte keiner, der es miterlebte, jemals wieder vergessen. Elise und Joseph herzten und küssten die Kinder, drückten sie an sich, weinten und lachten und konnten es kaum fassen, dass die Zeit der Angst und Not tatsächlich vorüber war. Nach einer Weile drehten sie sich zu Bettina um und streckten die Arme nach ihr aus. In einem Gemisch aus Englisch, Französisch und ein paar Brocken Deutsch erklärten sie, dass Bettina ein Engel sei, der sie und ihre Kinder gerettet habe.

»Nun wisst ihr’s«, sagte Bettina verlegen. »Die Zwillinge sind nicht meine Kinder, ich habe sie nur als meine ausgegeben, damit es keine Schwierigkeiten gibt, bis auch Elise und Joseph in Sicherheit sind. Ich hätte es euch natürlich sagen können, aber je weniger Mitwisser, des­to weniger Gefahr, so lautet die Regel, und daran habe ich mich gehalten. Entschuldigt bitte.«

»Das wussten wir doch längst, Tina!«, erklärte der kleine Fürst.

»Wie bitte?«

»Wir sind schließlich nicht blöd«, setzte Anna hinzu.

»Na ja, ein bisschen schon«, meinte die Baronin. »Fritz und ich, wir haben dir bis heute Morgen geglaubt, Bettina.«

»Ich habe Ihnen auch geglaubt«, erklärte Konstantin. »Bis gestern, da hat Chris uns erläutert, dass Ihre Geschichte eigentlich überhaupt nicht stimmen kann.«

»Schluss jetzt!«, rief die Baronin. »Kommt herein, unsere Gäste sind müde und erschöpft. Für Erklärungen ist hinterher noch genügend Zeit.«

Wieder einmal verblüffte Eberhard Hagedorn seine Arbeitgeber. In geschliffenem Französisch bat er die Gäste herein und führte sie in die schönste und größte Gästesuite, die Schloss Sternberg zu bieten hatte.

An diesem Abend war Marie-Luise Falkner in ihrem Element. Dem neuen Herd wurde alles abverlangt, und sie schaffte es, ein Menü auf den Tisch zu bringen, dem sie afrikanische Akzente beimischte. Das Lob fiel überschwänglich aus. Für den Höhepunkt des Abends sorgte dann allerdings Miriam, die ihre Mutter in die Nase kniff und dabei von ihrem üblichen ›dadada‹ abwich und fröhlich: »Mama!« sagte – sie sprach es französisch aus, mit einem kleinen deutschen Akzent.

Elise kamen erneut die Tränen.

*

»Sie haben es also gewusst«, stellte Bettina fest, als Konstantin ihr später auf die Terrasse folgte. Die Tischgesellschaft löste sich allmählich auf.

»Wie gesagt, erst seit gestern«, erklärte er bedauernd. »Ich wünschte, ich hätte es schon vorher gewusst, das hätte mir Kummer erspart.«

»Kummer?«, fragte sie.

»Ja – ich war unglücklich, weil Sie sich nicht mit mir verabreden wollten. Mir schien das ein deutlicher Hinweis darauf zu sein, dass Sie an mir nicht so interessiert waren, wie ich zuvor gehofft hatte.«

»Da haben Sie sich geirrt«, erwiderte sie leise. »Ich hätte mich sehr gern mit Ihnen getroffen, aber ich wollte Ihnen von dieser Geschichte nichts erzählen. Elise und Joseph waren in Gefahr, ich durfte nicht über sie reden, bis ich sie in Sicherheit wusste. Es gab viele Probleme – ich war ziemlich unter Druck.«

»Ja, das habe ich jetzt verstanden. Sie sind sehr mutig.«

»Eigentlich nicht«, widersprach sie. »Es gab nur keine andere Möglichkeit, ihnen zu helfen. Was meinen Sie, welche Ängste ich ausgestanden habe, als ich die Zwillinge als meine Kinder ausgegeben habe, mit gefälschten Papieren. Ich habe buchstäblich Blut und Wasser geschwitzt.«

»Ich glaube, ich kann es mir vorstellen«, lächelte Konstantin. »Wenn ich das richtig verstanden habe, können wir uns jetzt also verabreden?«

»Wozu?«, fragte sie. »Wir sehen uns doch sowieso dauernd, so lange wir hier auf Sternberg sind. Stimmt es übrigens, dass Sie von einigen Freunden ›Tino‹ genannt werden?«

»Ja – und Sie sind Tina.«

»Klingt wie ein Artistenduo beim Zirkus«, lachte sie.

Ein einziger langer Blick, den sie tauschten, genügte, um alle noch offenen Fragen zu beantworten. Behutsam zog Konstantin Bettina in seine Arme. »Das habe ich mir schon während deines Vortrags gewünscht«, sagte er leise.

»So früh schon?«, wunderte sie sich. »Ich muss allerdings gestehen, dass du mir auch schon aufgefallen bist, während ich am Rednerpult stand. Und später dann, im Restaurant, da war es um mich geschehen.«

»Es ist dir aber ziemlich gut gelungen, das vor mir zu verbergen«, sagte Konstantin, und dann küsste er sie endlich. Es wurde ein langer, inniger Kuss, mit dem sie einen Schlusspunkt unter die Missverständnisse der Vergangenheit setzten. Diesem ersten Kuss folgten viele weitere, sie vergaßen Ort und Zeit – und sie bemerkten nicht einmal, dass mehrmals jemand kam, nach ihnen Ausschau hielt und sich rasch wieder zurückzog, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Nur Elise und Joseph blieben einen Moment lang stehen und sahen dem Liebespaar zu. Niemandem gönnten sie ein solches Glück mehr als der Frau, die ihnen so selbstlos geholfen hatte.

*

»Henning hat es von Anfang an geahnt«, sagte Alexa. Sie und ihr Mann waren gleich am nächsten Tag nach Sternberg gefahren. Nun saßen die beiden Frauen allein auf der Terrasse und ließen die Ereignisse der letzten Tage Revue passieren. »Zuerst wollte ich ihm nicht glauben, aber er hat ja Recht behalten.«

»Bei uns war es Chris, der zuerst angefangen hat zu zweifeln«, berichtete die Baronin.

Sie wechselten einen verständ­nis­innigen Blick, während sie Elise und Joseph zusahen, die ihre Kinder kaum eine Minute aus den Augen ließen. Sie hielten sich an den Händen und schienen ihr Glück immer noch nicht fassen zu können, dass sie endlich wieder mit Miriam und Paul vereint waren. Paul hatte sich im Übrigen kurz zuvor ein Beispiel an seiner Schwester genommen und etwas gesagt, das entfernt wie ›Papa‹ geklungen hatte. Josephs Rührung war unbeschreiblich gewesen.

Anna steuerte mit Christian und Togo den Familienfriedhof an. »Und wir haben die ganze Zeit Deutsch mit Miriam und Paul gesprochen, Chris. Das konnten sie doch überhaupt nicht verstehen!«

»Ich glaube, das war nicht so schlimm«, erwiderte der kleine Fürst. »Tina hat, wenn sie mit ihnen allein war, bestimmt alles auf Französisch noch mal erzählt.«

»Glaubst du?«

»Ganz bestimmt!«

Friedrich und Henning machten einen Rundgang durch die Ställe. »Gut, dass der Spuk vorbei ist«, brummte Henning. »Alexa war außer sich, Fritz.«

»Nun ja, zwei schwarze uneheliche Kinder – das bietet auch heute in unserer aufgeklärten Zeit noch Anlass für einige Aufregung, Henning. Ein Leben als allein erziehende Mutter ist sicherlich niemals leicht, und daran wird Alexa gedacht haben.«

»Ja, sicher«, gab Henning zu. »Aber weißt du was? Ich habe die beiden Racker richtig ins Herz geschlossen – sie wären mir als Enkel sehr willkommen gewesen.«

Der Baron lachte. »Sag deiner Tochter das!«

»Zu spät«, schmunzelte Henning. »Sie hat ihr Herz an Herrn von Klawen verloren – diese Verbindung wird uns wohl kaum schwarze Enkelkinder bescheren.«

Friedrich staunte. Das war ihm tatsächlich bisher entgangen.

Ein Blick ins Labyrinth, das sich in der Mitte des Parks befand, hätte freilich genügt, ihm zu sagen, dass Henning Recht hatte: Er hätte Bettina und Konstantin in zärtlicher Umarmung sehen können.

»Ich liebe dich, Tina.«

»Und ich liebe dich, Tino.«

»Am liebsten würde ich dich nie mehr loslassen.«

Bettina lachte leise und schmiegte sich an den geliebten Mann. »Dann bleiben wir eben für immer hier an dieser Stelle stehen«, sagte sie und küsste ihn. »Denn wo du bist, da will ich auch sein.«

»Heiraten wir, Tina? Ich möchte, dass du meine Frau wirst.«

Sie nickte nur, das war ihm Antwort genug. Sie blieben noch lange im Labyrinth, bis es schließlich kühl wurde.

»Wir kommen morgen wieder her«, schlug Bettina vor. »Aber jetzt lass uns hineingehen, ja? Außerdem werden wir vielleicht schon vermisst.«

Sie suchten den Ausgang des Labyrinths – und fanden ihn nach einigen vergeblichen Versuchen schließlich auch. Als sie sich dem Schloss näherten, hörten sie lebhafte Stimmen und Gelächter.

»Hier ist das Glück zu Hause«, sagte Bettina leise.

Er legte einen Arm um ihre Schultern, sie schlang ihren um seine Hüfte. Eng aneinandergeschmiegt kehrten sie zu den anderen zurück.

Der kleine Fürst Staffel 6 – Adelsroman

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