Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 6 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 9

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»Was meinst du, Albert?«, fragte Kurt Wille. »Schaffen wir das bis heute Abend?«

Die junge Frau, die er mit »Albert« angesprochen hatte, schob sich ihren Bauhelm in den Nacken und betrachtete nachdenklich den noch nicht vollendeten Brückenpfeiler. Sie hatte dunkle kurzgeschnittene Haare, ebenfalls dunkle Augen und ein sehr ausdrucksvolles Gesicht. Wer sie nur flüchtig ansah, konnte sie zunächst für einen jungen Mann halten, zumal sie wie alle anderen hier einen Blaumann trug. Erst bei näherem Hinsehen fielen der volle Mund, die weiche Rundung ihrer Wangen und ihre zarte Haut auf. »Ja«, beantwortete sie die Frage ihres Kollegen jetzt mit großer Entschiedenheit. »Wenn wir uns ranhalten, schaffen wir das!«

»Ihr habt es gehört, Jungs!«, dröhnte Kurt, ein blonder Riese mit hellblauen Augen und beeindruckend breitem Kreuz. »Zeigen wir den Bürohengsten mal, wozu echte Männer imstande sind!« Er grinste. »Entschuldige, Albert, ist nicht persönlich gemeint.«

»Weiß ich doch, Kurt!« Albertina von Braun lachte vergnügt, dann drehte sie sich um und ging wieder an die Arbeit. Sie war schneller als die meisten ihrer männlichen Kollegen, und sie hatte sich deren Respekt innerhalb kürzester Zeit verschafft. Als Bau-Ingenieurin war sie in eine Männerdomäne eingebrochen, aber das hatte sie vorher gewusst, und sie war bereit gewesen, einiges einzustecken für ihren Traumberuf. Als sie an ihrem ersten Arbeitstag auf der Baustelle erschienen war, hatte man sie mit verdächtiger Freundlichkeit empfangen. Sie war auf der Hut gewesen – zu Recht. Überall hatten sie ihr kleinere und größere Fallstricke ausgelegt und gespannt auf ihre Reaktion gewartet.

Sie hatte sich Zeit gelassen bis zur Mittagspause, dann war sie aufgestanden, hatte sich breitbeinig vor die Männer gestellt und gesagt: »Ihr werdet mich nicht los, und wenn ihr euch auf den Kopf stellt. Von mir aus spielt eure blöden Spielchen weiter, lasst mich ausrutschen oder ein paar Meter tief stürzen – ihr werdet mich nicht los. Dies ist der Beruf, den ich liebe. Ich bin gut, mindestens so gut wie ihr. Aber wahrscheinlich habt ihr ja nur Angst, dass ihr es mit mir nicht aufnehmen könnt.«

Nach dieser Rede hatte erst einmal verblüfftes Schweigen geherrscht, bis der Schichtleiter angefangen hatte zu lachen. »Du bist schon richtig, Albert!«, hatte er gerufen. »Wer sich so frech hier herstellt und eine solche Rede hält, dem geben wir zumindest eine Chance – oder, Jungs?«

Das war der Anfang gewesen, vor einem Jahr. Seitdem war niemand mehr auf die Idee gekommen, Albertinas Fähigkeiten als Ingenieurin in Zweifel zu stellen. Heute bereitete es ihr selbst ein diebisches Vergnügen, zusammen mit »den Jungs« neue Kollegen ein wenig an der Nase herumzuführen.

Sie arbeitete hart, war nicht zimperlich und hatte sich bisher noch nicht einen Tag krank gemeldet. Und sie behielt fast immer den Durchblick – das unterschied sie von anderen, die unter Stress schon mal die Nerven und auch die Übersicht verloren. Auf Albertina war immer Verlass, und das wussten ihre Kollegen zu schätzen. Dass sie eine Adelige und aus vermögendem Hause war, wusste freilich niemand. Sie hatte das »von« in ihrem Namen bei der Vorstellung einfach unterschlagen. Es machte alles leichter für sie, wenn die anderen sie für Albertina Braun hielten. Den Spitznamen »Albert« hatten sie ihr bereits am ersten Tag verpasst. Ihr war es recht.

Sie schafften die Vorgabe für diesen Tag tatsächlich, genau wie sie es vorhergesagt hatte – allerdings waren sie dafür abends auch alle ziemlich fertig. »Das war hart heute«, stellte Albertina fest.

»Kannst du laut sagen«, brummte Kurt Wille. Mit ihm verstand sie sich am besten. Er hatte sich als einer der Ersten auf ihre Seite gestellt – zu einem Zeitpunkt, da mancher seiner Kollegen sie noch skeptisch beäugt hatte. Der große, starke Kurt und die schmale, wendige Albertina bildeten seitdem ein perfektes Arbeitsteam, meistens verstanden sie sich blind.

»Dafür wird es morgen leichter«, stellte Albertina fest. »Von jetzt an müssten wir eigentlich gut vorankommen – vorausgesetzt, es passieren nicht neue Katastrophen.«

Ein Wassereinbruch hatte sie in der vergangenen Woche zurückgeworfen, doch der Auftraggeber pochte darauf, dass der Vertrag erfüllt werden musste. Die Brücke war lange in der Planung gewesen, noch länger war der Bau hinausgezögert worden von Gegnern des Vorhabens. Aber nun endlich wurde sie gebaut, und sie sollte so schnell wie möglich fertig werden.

Kurt reckte sich. »Heute Abend haue ich mich früh in die Falle«, brummte er. »Bin echt müde.«

»Ich auch, aber ich habe leider noch was vor.« Albertina nahm den Helm ab. »Wir sehen uns morgen, Kurt.« Sie seufzte. »Ich arbeite ja wirklich gern, aber ein freier Samstag wäre zur Abwechslung auch mal wieder schön, finde ich.«

»Was hast du denn vor?«, fragte er. »Neuer Verehrer?«

Sie knuffte ihn kumpelhaft in die Seite. »Quatsch – es gibt keinen Mann neben dir, das weißt du doch, Kurt!«

Kurt war glücklich verheiratet und stolzer Vater dreier Kinder, aber er hörte es gern, wenn Albertina so etwas sagte, und sie wusste das.

»Ich muss zu meinen Eltern, das wird sicher ein bisschen anstrengend. Bis morgen dann!«

Sie verabschiedete sich auch von den anderen Kollegen, dann stieg sie in ihren alten, ziemlich verbeult aussehenden Kleinwagen und machte sich auf den Heimweg.

Sie war bereits nach fünf Minuten zu Hause, hatte aber zu ihren Eltern dann noch fast eine Dreiviertelstunde zu fahren. So hatte sie genügend Zeit, sich innerlich auf den vor ihr liegenden Abend vorzubereiten.

Doch bevor sie sich erneut auf den Weg machte, hatte sie noch etliches zu tun. Sie zog sich schnell aus, duschte – und dann begann das, was sie »Albertinas Verwandlung« nannte. Dieser Vorgang nahm insgesamt eine halbe Stunde in Anspruch. Die junge Frau, die im Anschluss daran das Haus verließ und in einen gepflegten, blitzblanken Sportwagen stieg, hätte niemand »Albert« genannt, so viel stand fest.

*

»Sehr schönes Haus«, bemerkte Baronin Sofia von Kant.

»In der Tat«, stimmte Baron Friedrich seiner Frau zu.

Langsam näherten sie sich dem Eingang der stilvollen Villa, in der Eliane und Johannes von Braun wohnten. Sie hatten das Ehepaar erst kürzlich kennengelernt und gleich sympathisch gefunden. Dieses war ihre erste Einladung im Hause von Braun.

Sie hatten den Chauffeur gebeten, sie unten an der Straße aussteigen zu lassen, damit sie noch ein paar Schritte zu Fuß gehen konnten.

»Wir haben so häufig Gäste, Fritz, aber selbst gehen wir kaum aus. Wieso eigentlich?«

»Vielleicht, weil es auf Sternberg so schön ist?«

Sie lachte leise. »Ja, das spielt sicherlich eine Rolle«, gab sie zu. »Und vielleicht liegt es auch daran, dass ich immer noch denke, wir können die Kinder nicht allein lassen.«

»Lass sie das nicht hören, dass du sie Kinder nennst!«

Sie hatten die Villa erreicht und wurden herzlich begrüßt von den Gastgebern. Eliane von Braun war eine aparte Schwarzhaarige, ihr Mann Johannes, lang und dünn, überragte sie um einen ganzen Kopf. »Wie schön, dass Sie gekommen sind!«, sagte Eliane. »Wir haben uns richtig auf diesen Abend gefreut.«

»So wie wir«, erklärte Sofia.

Als sie in einen großzügigen Wohnsalon geführt worden waren, erwartete sie eine Überraschung: Sie trafen dort auf ein ihnen bekanntes Paar, Gräfin Caroline und Graf Ernst zu Kallwitz. Die Freude war groß, die Begrüßung ein weiteres Mal herzlich.

»Unsere Tochter wird auch noch kommen«, erklärte Eliane von Braun. »Sie hat zwar sehr viel zu tun, aber wir haben ihr gesagt, wie schön wir es fänden, wenn sie unsere neuen Freunde kennenlernen würde, und so wird sie uns wenigs-tens beim Essen Gesellschaft leis-ten. Sie kommt sicher bald. Was dürfen wir Ihnen als Aperitif anbieten?«

Sofia fühlte sich wohl. Sie genoss die geschmackvolle Einrichtung, die angeregte Unterhaltung, die Gesellschaft von Menschen, die sie gern hatte.

Sie nippte gerade an ihrem trockenen Sherry, als eine Tür geöffnet wurde und eine bezaubernde junge Frau eintrat: Das musste Albertina von Braun sein. Sie trug ihre schwarzen Haare ziemlich kurz, was ihr ausgezeichnet stand. Ein klares Gesicht mit klugen Augen und einem ausgesprochen sinnlichen Mund. Das helle Seidenkleid unterstrich Albertinas zarte Figur. Mit schnellen Schritten kam sie herein.

»Albertina, da bist du ja endlich«, rief Eliane und setzte dann mit sichtlichem Stolz hinzu: »Das ist unsere Tochter!«

Erst als die Vorstellung beendet war, begrüßte Albertina ihre Eltern mit liebevollen Umarmungen und Küssen.

Was für eine reizende junge Frau, dachte Sofia.

*

Graf Carl zu Kallwitz stöhnte, als er im Fitness-Studio vom Laufband stieg. Eine Dreiviertelstunde hatte er trainiert und dabei eine ziemlich hohe Geschwindigkeit eingestellt. Jetzt reichte es ihm. Er griff nach seinem Handtuch und trocknete sich die schweißnasse Stirn.

»Bist du schon fertig?«, fragte eine Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um und nickte. »Du nicht?«, fragte er seinen Freund Robert Heuser. Sie trafen sich oft im Studio.

»Eigentlich nicht, aber ich habe keine Lust mehr. Lass uns noch irgendwo ein Bier trinken und über die Schlechtigkeit der Welt reden.«

Carl musste lachen. »Nichts dagegen«, sagte er.

Sie duschten ausgiebig und steuerten anschließend ein Lokal an, in dem sie gelegentlich nach dem Training einkehrten. »Also, was ist dir heute passiert?«, fragte Carl, nachdem sie zwei Pils bestellt hatten.

Robert sah mit düsterem Gesicht vor sich hin. »Sabine«, war alles, was er antwortete.

»Bitte, nicht schon wieder!«, rief Carl. »Kannst du dir diese Frau nicht endlich aus dem Kopf schlagen, Robert? Sie macht sich nichts aus dir – akzeptier das und such dir eine andere.«

»Ich will aber nur Sabine«, murmelte Robert.

»Dir ist echt nicht zu helfen. Sie ist nett, sie sieht toll aus, ich finde sie sympathisch – aber sie liebt dich nicht. Und das hat sie dir auch schon ungefähr hundert Mal gesagt. Und weißt du was? Ich glaube, du liebst sie auch nicht.«

Die Pilsgläser landeten vor ihnen auf dem Tisch.

Robert sah seinen Freund ent-geistert an. »Wie kannst du so etwas sagen? Natürlich liebe ich Sabine.«

»Wenn du das tätest, würdest du auch mal an sie denken und nicht immer nur an dich. Sie leidet da-runter, dass sie dich ständig abweisen muss, weil du offenbar taub bist. Du vermiest ihr das Leben.« Er sah, dass seinem Freund dieser Gedanke offenbar noch nie gekommen war.

»Ich … ihr?«, fragte Robert zweifelnd. »Aber sie macht mich unglücklich, Carl!«

Geduldig setzte Carl ihm seinen Gedanken noch einmal ausführlich auseinander. »Wenn du sie liebst«, beendete er seinen Vortrag, »dann müsstest du wollen, dass es ihr gut geht – und nicht, dass sie sich ständig mit einem schlechten Gewissen herumplagen muss.«

»Mann«, sagte Robert endlich, »wenn das wahr wäre, dann müsste ich aber wirklich umdenken.«

»Es ist wahr, und du musst umdenken, Robert.«

»Ja, wahrscheinlich«, erwiderte Robert nach einer Weile überraschend. »Ich habe mich lange genug zum Narren gemacht, das muss aufhören. Sabine ist ja beinahe so etwas wie eine fixe Idee für mich geworden.«

»Das klingt ja fast so, als hättest du etwas begriffen.«

»Habe ich – es ist nur trotzdem schwer, sein Verhalten zu ändern. Hast du noch nie Liebeskummer gehabt? Ich meine, weil du total verknallt warst, deine Angebetete aber nichts von dir wissen wollte?«

»Doch, das habe ich auch schon erlebt«, gab Carl zu, »aber da war ich sechzehn, siebzehn. Seitdem verliebe ich mich nicht mehr in Frauen, die mich nicht wollen – das ist besser für mich.«

Robert gab eine Art Grunzlaut von sich und wechselte das Thema. Der Name Sabine fiel kein einziges Mal mehr an diesem Abend.

*

Albertina saß beim Essen zwischen Baron Friedrich von Kant und Graf Ernst zu Kallwitz – und sie fühlte sich wider Erwarten gut unterhalten. Sie war nur ihren Eltern zuliebe hier, die sie sehr liebte und denen sie ewig dankbar dafür sein würde, dass sie Ingenieurin hatte werden dürfen, obwohl vor allem ihre Mutter das »wenig weiblich« fand. Hätte Eliane geahnt, in welch rauer Gesellschaft sich ihre Tochter auf Baustellen befand und wie sie sich dort Tag für Tag durchsetzen und bewähren musste – sie hätte wahrscheinlich keine ruhige Minute mehr gehabt.

Albertina trennte ihre beiden Leben fein säuberlich voneinander, das bereitete ihr keine Schwierigkeiten – wobei freilich feststand, dass ihr alles, was mit ihrem Berufsleben zusammenhing, viel wichtiger war als die sogenannten »gesellschaftlichen Verpflichtungen«. Auf die hätte sie gern verzichtet, wären nicht ihre Eltern gewesen, denen sie keinen Kummer bereiten wollte. Auf Baustellen und mit ihren »Kumpels« fühlte sie sich allemal wohler als bei eleganten Einladungen. Manchmal stellte sie sich vor, Kurt und die anderen könnten sie sehen, wenn sie in vornehmen Villen oder auf Schlössern dinierte – das reizte sie jedes Mal zum Lachen.

Dieser Abend allerdings verlief anders als sonst. Das lag an ihren beiden Tischherren, die offenbar so wenig Interesse wie sie selbst an belanglosem Geplauder hatten. Baron Friedrich fragte sie gleich zu Beginn des Essens, was sie beruflich machte, da ihre Mutter erwähnt habe, sie sei so eingespannt.

Kaum hatte Albertina erzählt, dass sie Ingenieurin war, hatte sich auch Graf zu Kallwitz in das Gespräch eingeklinkt. »Wie interessant! Ich habe früher selbst mit der Idee geliebäugelt, diesen Beruf zu ergreifen. Leider ist es anders gekommen – ich musste in die väterliche Firma einsteigen. Aber ich trauere dieser verpassten Gelegenheit noch immer ein wenig nach, muss ich gestehen.«

Die beiden Herren erkundigten sich eingehend nach Albertinas Berufsalltag, und sie erzählte ihnen bereitwillig davon, obwohl ihr auffiel, dass ihre Mutter ihr immer wieder beunruhigte Blicke zuwarf. Arme Mama, dachte sie, sie leidet schon wieder, weil ich über »unweibliche« Themen spreche.

»Wie interessant«, meinte Graf Ernst. »Sie bauen also an dieser Riesenbrücke mit?«

»Ja, schon seit einem Vierteljahr. Sie soll ja pünktlich fertig werden.«

»Aber das klappt doch garantiert nicht?«

»Doch, das klappt – jedenfalls, wenn es nach uns geht. Wir sind gut in der Zeit, trotz einiger Rückschläge.«

»Sie sind doch wahrscheinlich die einzige Frau auf der Baustelle, oder? Ist das nicht schwierig, sich da durchzusetzen?«, fragte Baron Friedrich.

Sofort war Albertina auf der Hut. Über diesen Teil ihrer Arbeit gab sie niemals Auskunft. Sie legte nicht den geringsten Wert darauf, dass jemand, den sie privat kannte, mitbekam, wie es auf Baustellen zuging. Das war eine eigene Welt, niemand, der hier am Tisch saß, konnte sich das vorstellen.

»Es geht schon«, antwortete sie ruhig. »Ich bin ganz gut in meinem Job, das wird respektiert.«

Der Baron nickte, sie sah ihm jedoch an, dass er noch weitere Fragen zum Thema stellen wollte, denn ganz zufrieden war er offenbar nicht mit ihrer Antwort. Um ihm zuvorzukommen, beschloss sie, das Thema zu wechseln. Was konnte sie ihn fragen? Womit würde er sich ablenken lassen? Ihr fiel ein, dass er mit seiner Familie auf Schloss Sternberg lebte – das sollte doch eigentlich genug Gesprächsstoff bieten!

»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Herr von Kant?«

»Aber natürlich, nur zu. Was möchten Sie wissen?«

»Wie schafft es ein fünfzehnjähriger Junge, den Verlust beider Eltern zu verkraften? Helfen Sie und Ihre Frau Christian von Sternberg dabei – oder lehnt er Hilfe eher ab.«

Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, und beinahe schämte sie sich, diese Frage gestellt zu haben. Doch sie hatte ihn nicht nur ablenken wollen, die Antwort interessierte sie tatsächlich.

Als das Fürstenpaar von Sternberg vor etlichen Monaten tödlich verunglückt war, hatte das ganze Land Anteil genommen am Schicksal des fünfzehnjährigen Prinzen Christian von Sternberg. Er war von der Familie seiner Tante Sofia von Kant aufgenommen worden, einer Schwester seiner Mutter. Familie von Kant lebte bereits seit vielen Jahren ebenfalls auf Sternberg.

»Er stattet seinen Eltern jeden Tag einen Besuch auf dem Friedhof ab«, antwortete Friedrich jetzt, »und erzählt ihnen in Gedanken, was sich in seinem Leben ereignet hat. Das hilft ihm sehr. Außerdem ist es natürlich gut, dass er in seiner gewohnten Umgebung bleiben konnte und in gewisser Weise ohnehin schon Teil unserer Familie war. Wir haben ja ziemlich eng zusammengelebt auf Sternberg. Unsere beiden Kinder sind praktisch von Anfang an wie Geschwister für ihn gewesen.«

»Der kleine Fürst«, sagte Albertina nachdenklich.

»Ja, der kleine Fürst.«

»Warum wird er eigentlich so genannt?«

»Weil er noch kein Fürst ist, das wird er ja erst mit achtzehn. Und früher, als er wirklich noch klein war, haben die Leute ihn im Unterschied zu seinem Vater so genannt. Leopold war ja sehr groß – und so hieß es dann scherzhaft: der große und der kleine Fürst.«

»Es hört sich nett an.«

»So ist es auch gemeint. Ein Kosename. Christian ist sehr beliebt, zu Recht übrigens. Ein großartiger Junge. Etwas zu ernst für sein Alter vielleicht, aber das ist ja kein Wunder.«

»Waren Sie noch nie auf Sternberg?«, warf Graf Ernst ein.

»Nein«, antwortete Albertina. »Dabei liegt es ja ganz in der Nähe, aber ich bin noch nie dort gewesen.«

Ihre Mutter hatte die letzten Sätze gehört. »Aber natürlich warst du schon auf Sternberg, Albertina!«, rief sie. »Wir haben früher gelegentlich Ausflüge dorthin gemacht, das hast du nur vergessen. Du warst noch ein Kind damals. Einmal waren wir zum Beispiel anlässlich eines großen Wohltätigkeitsbasars dort – wir haben Kuchen verkauft.«

»Das weiß ich noch!«, sagte Albertina. »Aber ich wusste nicht, dass das auf Schloss Sternberg war. Da muss ich fünf oder sechs gewesen sein.«

Ihre Mutter nickte und wandte sich mit einem Lächeln wieder Baronin Sofia zu, um das unterbrochene Gespräch fortzusetzen.

Als sich die kleine Tischgesellschaft auflöste, um vor dem Kamin noch einen Kaffee zu trinken, verabschiedete sich Albertina. Sie war so müde, dass sie sich am liebsten oben in ihr altes Kinderzimmer gelegt und dort geschlafen hätte – doch das war aus verschiedenen Gründen ein Ding der Unmöglichkeit. Sie musste nach Hause, und das so schnell wie möglich.

Als sie Baron Friedrich die Hand reichte, sagte dieser: »Besuchen Sie uns auf Sternberg, wann immer Sie wollen. Wir würden uns sehr da-

rüber freuen, Frau von Braun.«

Sie bedankte sich für die Einladung und versprach, darüber nachzudenken. Im Wagen drehte sie die Musikanlage auf – sie musste sich ja noch einige Zeit wach halten.

*

Christian von Sternberg, genannt der kleine Fürst, sah auf, als seine Cousine Anna von Kant die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Sie war zwei Jahre jünger als er und nicht nur seine Cousine, sondern auch seine beste Freundin. Mit ihr konnte er über alles reden. »Ich kann nicht schlafen«, verkündete sie. »Deshalb wollte ich sehen, ob du auch noch wach bist.«

»Komm rein«, sagte er. »Wir können uns noch einen Film zusammen ansehen, wenn du willst.«

Sie nickte und ließ sich auf sein Bett fallen. Jetzt erst bemerkte sie, dass der Fernsehapparat lief. »Was läuft denn?«

Christian warf einen Blick auf den Bildschirm, der Ton war leise gestellt. »Ich habe nur Nachrichten angesehen, hier aus der Region. Sie haben über diese Riesenbrücke berichtet, die gerade gebaut wird.«

»Wahnsinnig interessant«, murmelte Anna.

Er musste lachen, als er ihr gelangweiltes Gesicht sah. »Mich hat es schon interessiert«, erklärte er. »Das ist ein gigantisches Unternehmen – du machst dir keine Vorstellung davon, wie viele Tonnen Beton die da verbauen.«

»Von mir aus«, meinte Anna und unterdrückte ein Gähnen. »Also, was gucken wir jetzt an? Du hast von einem Film gesprochen.«

Christian nahm die Fernbedienung vom Tisch, warf einen Blick in die Zeitung und wählte dann einen anderen Sender. Der Vorspann lief bereits, sie sahen gerade noch die Titel.

Sofort war Anna wieder hellwach. »Super, den kenne ich noch gar nicht!«, rief sie.

»Dann ist der Abend ja gerettet«, stellte Christian fest. »Deine Eltern kommen bestimmt erst spät wieder, oder?«

»Ich schätze schon.« Anna stopfte sich ein paar Kissen ins Kreuz, um besser zu liegen. »Sie sind ja zum ersten Mal bei diesen neuen Bekannten – da dauert es bestimmt etwas länger.«

Christian streckte sich neben ihr aus. Der Film begann.

*

»Willst du schon wieder Schicksal spielen?«, fragte Graf Ernst zu Kallwitz mit gutmütigem Lächeln. »Lass das sein, Caroline, du weißt, dass unser Sohn keine Einmischung in sein Privatleben wünscht. Und wenn du es genau wissen willst: Das kann ich sehr gut nachvollziehen.«

»Aber sie ist reizend, Ernst!«, rief Gräfin Caroline. »So natürlich, so lebhaft, dabei klug und auch noch hübsch anzusehen. Wir können Carl immerhin ein bisschen von ihr vorschwärmen. Du bist doch selbst ganz hingerissen von ihr.«

»Sie hat mir gut gefallen, das stimmt. Sonst sind die Gespräche bei solchen Gelegenheiten ja in ihrer Belanglosigkeit häufig nicht zu unterbieten, aber mit ihr konnte man sich richtig gut unterhalten. Auch Fritz war sehr angetan von der jungen Dame.«

»Alle sind also begeistert von ihr – und ich darf unserem Sohn nichts davon sagen?«, rief Caroline temperamentvoll.

Er legte begütigend eine Hand auf ihren Arm. »Du darfst ja«, sagte er. »Du solltest ihm bloß nicht sagen, dass Albertina von Braun die geeignete Frau für ihn wäre, denn dann verschließt er sich garantiert wie eine Auster.«

»Ja, da kannst du Recht haben«, gab sie zu. »Also werde ich ganz diplomatisch vorgehen.«

Ernst zu Kallwitz schmunzelte in sich hinein. Er kannte seine Frau gut genug, um zu wissen, dass die Begeisterung mit ihr durchgehen und sie alle Vorsicht vergessen lassen würde. Aber das ließ sich wohl kaum verhindern, also konnte er sich weitere Vorhaltungen sparen. »Tu das, meine Liebe«, sagte er und gab ihr einen Kuss. »Ich werde dich aber, wenn ich darf, vorher noch einmal an deinen Vorsatz erinnern.«

Sie kniff ihn liebevoll in die Wange. »Du denkst, mit mir gehen wieder die Pferde durch, Ernst, aber das wird nicht der Fall sein. Ich lasse ihn nicht merken, was ich mir wünsche, du wirst schon sehen.«

Er küsste sie erneut. »Lass uns schlafen gehen«, schlug er vor. »Es ist spät genug geworden, und bis Carl am Sonntag kommt, haben wir ja noch Zeit, darüber zu reden, wie du Albertina von Braun am unauffälligsten ins Gespräch bringen kannst.«

Sie nickte und unterdrückte ein Gähnen. Ihr letzter Gedanke vor dem Schlafengehen galt noch einmal Albertina: Wie schön wäre es, dachte sie, eine Schwiegertochter wie sie zu bekommen.

*

Die Holzbohle schien aus dem Nichts zu kommen und landete am Samstagmorgen mit einem unheilvollen Krachen auf Albertinas linkem Fuß. Vor Schreck und Schmerz wurde sie blass. Schnell sprangen zwei ebenfalls erschrockene Kollegen herbei und befreiten ihren Fuß. »Verdammt!«, fluchte sie. »Welcher Idiot hat die denn hier so geparkt, dass sie einen beinahe erschlägt?« Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die der Schmerz ihr unwillkürlich hatte in die Augen schießen lassen. Nach Luft japsend lehnte sie sich an eine Wand und hielt den lädierten Fuß in die Höhe. Er schmerzte teuflisch.

»Wird der Neue gewesen sein«, vermutete Kurt, der sie besorgt beobachtete. »Den nehme ich mir gleich mal zur Brust. Kommt mir sowieso etwas weich vor, der Knabe.«

Albertina humpelte ein paar Schritte, verzog dabei jedoch unwillkürlich das Gesicht. »Immerhin scheint der Fuß noch ganz zu sein«, murmelte sie.

Sie war hart im Nehmen, aber Kurt wusste genau, was eine Holzbohle anrichten konnte, wenn sie einem mit voller Wucht auf den Fuß fiel. »Hast du dir was angeknackst?«, fragte er.

»Nein, ich glaube nicht.« Sie riss sich zusammen. Es half niemandem, wenn sie mit schmerzverzerrtem Gesicht herumlief, aber sie beschloss, in der Frühstückspause nachzusehen, wie ihr Fuß aussah. Vermutlich wurde er blau und schwoll an. Nicht dran denken, beschwor sie sich, sie konnten sich im Augenblick keine Verletzten auf der Baustelle leisten. Der Zeitplan war unerbittlich, und sie hatten nun einmal ihren Ehrgeiz dareingelegt, dass sie rechtzeitig fertig wurden. Sie ließ sich nicht gern nachsagen, dass sie ihren Verpflichtungen nicht nachkam. Zwar war niemand gegen höhere Gewalt gefeit, gegen eigene Dummheit aber schon. Wäre sie nicht so verdammt müde gewesen, hätte sie das Ungemach gesehen, das ihr drohte. Die Bohle hatte da nicht zu stehen gehabt, das war zweifellos richtig, aber sie hätte sie einfach rechtzeitig bemerken müssen. Aber wenn man gerade gähnte und dabei die Augen schloss, weil man am Abend zuvor zu lange wach geblieben

war …

»Setz dich mal einen Moment hin«, hörte sie Kurt hinter sich sagen, während er sie mit sanfter Gewalt auf einen Hocker drückte. Im nächsten Moment reichte er ihr einen Becher Kaffee. »Trink den auf den Schreck«, kommandierte er.

Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Kurt konnte sehr rüde Umgangsformen an den Tag legen, aber ihr gegenüber benahm er sich immer tadellos – und er beschützte sie ganz unauffällig. Natürlich war ihm klar, dass sie den meisten Kollegen an Kraft unterlegen war, und so wusste er es zu verhindern, dass sie sich mit ihnen messen musste.

»Und jetzt zieh den Stiefel aus, ich will mir das ansehen.«

Sie gehorchte. Ihre Vermutungen erwiesen sich als richtig: Der Fuß war bereits blau, er schwoll an, aber mehr als eine Prellung hatte sie nicht davongetragen.

»Glück gehabt«, kommentierte Kurt. »Das musst du heute Abend kühlen. Und jetzt zieh schnell den Stiefel wieder an, sonst kommst du nicht mehr rein.«

Sie gehorchte. Nachdem sie den Kaffee getrunken hatte, ging es ihr besser. Der Fuß schmerzte zwar, aber es ließ sich aushalten. Sie würde ihn später, in der Mittagspause, hochlegen.

Mit zusammengebissenen Zähnen machte sie sich wieder an die Arbeit. Manchmal war es wirklich verdammt anstrengend, wenn man keine Schwäche zeigen durfte!

*

»Hallo, Carl«, sagte Sabine Ketteler. »Das ist ja nett, dass wir uns mal wieder treffen.«

Carl blieb stehen und begrüßte die hübsche Blondine, die seinen Freund Robert seit einem Jahr unglücklich machte – ohne dass man ihr daraus einen Vorwurf hätte machen können. Sie liebte ihn nur einfach nicht, und das hatte sie Robert auch von Anfang an gesagt.

»Hast du in letzter Zeit mal mit Robert gesprochen?«, fragte sie.

»Ja, gestern Abend zum Beispiel. Warum fragst du?«

»Wie schätzt du die Chance ein, dass er irgendwann begreift, was ich ihm sage?«

»Sehr gut!«, antwortete Carl mit Nachdruck.

Misstrauen schlich sich in ihren Blick. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Davon bin ich weit entfernt«, beteuerte Carl. »Es geht ihm gut, Biene, er hat dich endgültig überwunden, glaub mir.« Das war zwar ein wenig übertrieben, schadete aber sicherlich nicht.

Sie hätte jetzt zufrieden und glücklich aussehen müssen, fand er, doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil: Sie wirkte ein wenig grämlich, und das verunsicherte ihn.

»Was ist denn?«, erkundigte er sich. »Ich dachte, du freust dich, dass er dir endlich nicht mehr nachläuft. Du hast ihm schließlich oft genug gesagt, dass du seine Gefühle nicht erwiderst. Er hat es jetzt endlich begriffen und wird dich in Ruhe lassen. Mit etwas Glück verliebt er sich dann vielleicht sogar bald in eine andere Frau.«

Sie starrte ihn an, dann nickte sie. »Hoffentlich!«, sagte sie endlich. Ihre Stimme klang ein wenig gepresst. »Du, ich muss weiter. War schön, dich mal wieder getroffen zu haben. Bis dann, Carl.«

Sie drehte sich um und ging, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, noch etwas zu erwidern. Er blieb noch eine ganze Weile stehen und sah ihr nach. Was war das denn jetzt gewesen? Er verstand die Welt nicht mehr. Warum freute sie sich nicht?

Wahrscheinlich glaubte sie ihm nicht, was er immerhin nachvollziehbar fand. Bisher war Robert nach jedem heiligen Schwur, sich Sabine endlich aus dem Kopf zu schlagen, wieder rückfällig geworden. Hoffentlich hielt er dieses Mal durch!

*

»Ingenieurin ist sie?«, fragte Anna. »Das ist selten, oder? Eigentlich ist das doch ein richtiger Männerberuf. Sieht sie auch aus wie ein Mann?«

Sofia, Friedrich, Anna, Christian und Annas Bruder Konrad saßen an diesem Samstag bei einem ziemlich späten Frühstück. Sofia und Friedrich erzählten vom vergangenen Abend. Wie nicht anders zu erwarten, war besonders alles, was mit Albertina von Braun zusammenhing, auf lebhaftes Interesse bei den Teenagern gestoßen.

Der Baron lachte. »Sie sieht sehr hübsch aus, Anna – und sehr weiblich, das darfst du mir glauben. Stimmt doch, Sofia, oder?«

»Ja, das stimmt. Vielleicht besucht sie uns einmal hier, dann könnt ihr euch selbst davon überzeugen. Als Kind war sie schon auf Sternberg zu Besuch, hat aber keine Erinnerung daran.«

»Was baut sie denn gerade?«, erkundigte sich Christian.

»Die neue Brücke – sie hat davon erzählt«, berichtete der Baron. »Sehr interessante Sache – und offenbar nicht ganz einfach, weil es ein gigantisches Projekt ist. Aber sie ist mit Begeisterung dabei. Es war eine Freude, sich mit ihr zu unterhalten, das muss ich schon sagen.«

»Die große Brücke?«, fragte Anna. Sie warf Christian einen Blick zu. »Hast du nicht gestern auch was darüber erzählt, Chris?«

»Ich habe einen Bericht im Fernsehen darüber gesehen. Sie baut wirklich daran mit?«

»Ja, und sie versteht etwas davon, das dürft ihr mir glauben.«

»Das wäre kein Beruf für mich«, stellte Anna fest.

Die anderen lachten, sie teilten Annas Meinung.

»Caroline war jedenfalls ganz begeistert von Albertina und hat insgeheim bestimmt schon wieder Pläne geschmiedet«, berichtete die Baronin weiter.

»Ach ja«, meinte Anna, »sie will Carl ja immer verheiraten – und er wehrt sich. Wäre Albertina denn eine Frau für ihn?«

»Wie sollen wir das beurteilen, Anna?«, mischte sich der Baron ein. »Wir kennen die junge Frau doch kaum. Und nur weil sie

hübsch aussieht und einen sympathischen Eindruck macht, heißt das noch lange nicht, dass sie die richtige Frau für Carl zu Kallwitz wäre.«

»Der arme Carl«, sagte der kleine Fürst. »Ich stelle es mir schrecklich vor, wenn immer jemand versuchen würde, mich zu verheiraten. Warum hört seine Mutter nicht endlich damit auf? Ich mag Gräfin Caroline wirklich gern, aber sie sollte ihren Sohn in Ruhe lassen.«

»Der Ansicht sind wir auch«, erklärte Baron Friedrich. »Aber sie wird sich nicht ändern, Chris. Sie will Carl glücklich verheiratet sehen, und sie wird keine Ruhe geben, bevor es nicht so weit ist.«

»Oder sie treibt ihn in eine unglückliche Ehe«, warf Anna ein. »Er heiratet, damit er endlich seine Ruhe hat – und stellt dann fest, dass er leider die falsche Frau genommen hat.«

»Jetzt ist aber Schluss!«, rief die Baronin. »Ich will nichts mehr davon hören. In diesen Dingen bin ich abergläubisch – man soll das Unheil nicht herbeireden!«

»Aber, Sofia!«, schmunzelte der Baron. »So kenne ich dich ja gar nicht.«

»Ich habe noch viele andere Seiten, die dir unbekannt sind, Liebs-ter.« Sie beugte sich zu ihm, um ihm einen Kuss zu geben.

Danach wurde das Thema gewechselt.

*

Albertina hielt durch, aber nach der Arbeit bestand Kurt darauf, sie in eine Ambulanz zu bringen, damit ihr Fuß untersucht werden konnte. Sie hatte keine Kraft mehr, sich zu widersetzen, und es stellte sich heraus, dass das gut gewesen war. Der Arzt in der Notaufnahme eines nahe gelegenen Krankenhauses schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als er Albertinas Fuß sah. »Wann ist das passiert?«, fragte er. Auf dem Schild an seinem Kittel stand »Dr. Andreas Bertram«.

»Paar Stunden her«, murmelte sie undeutlich. Sie wollte ihm lieber keine allzu genaue Antwort geben – dann hätte sie nämlich zugeben müssen, dass der Unfall mittlerweile über acht Stunden zurücklag.

»Und warum sind Sie nicht sofort zu mir gekommen? Der Fuß muss gekühlt und hoch gelagert werden. Außerdem braucht er Ruhe, mehrere Tage. Ich werde ihn vorsichtshalber röntgen – es ist durchaus möglich, dass der Knochen etwas abbekommen hat.«

»Da ist nichts gebrochen!«, versicherte Albertina. »Das würde ich merken, glauben Sie mir. Ich kenne meinen Körper ganz gut.«

»Und Sie können also auch durch Ihre Haut hindurch bis auf den Knochen sehen?«, erkundigte sich Dr. Bertram. »Ich mache eine Röntgenaufnahme! Alles andere wäre unverantwortlich.«

»Der Herr Doktor hat Recht«, mischte Kurt sich ein. »Wir hätten gleich hierher fahren sollen, Albert.«

»Du weißt genau, dass wir für so etwas keine Zeit haben«, murrte Albertina.

Der Arzt kümmerte sich nicht mehr um ihren Widerstand. Er setzte sie in einen Rollstuhl und machte sich mit ihr auf den Weg zum Röntgen.

Der treue Kurt ging mit. »Ich muss dich ja anschließend noch zu deinem Auto bringen«, sagte er.

»Auto?«, rief Dr. Bertram mit allen Anzeichen des Entsetzens. »Sie darf mit diesem Fuß nicht Auto fahren – sie wäre eine Gefahr für den Straßenverkehr. Bringen Sie Ihre Freundin nach Hause und sorgen Sie dafür, dass sie ein paar Tage Ruhe hält – ich kann sonst für nichts garantieren.«

Kurt wollte etwas erwidern, Albertina ebenfalls, doch der junge Mediziner kümmerte sich nicht darum. Er verschwand mit seiner Patientin in einem Raum, dessen Tür er nachdrücklich hinter sich schloss.

Kurt kratzte sich am Hinterkopf. Wenn seine jüngere Kollegin tatsächlich einige Tage ausfiel, kam das einer Katastrophe gleich.

Nach einer Viertelstunde schob der Arzt sie wieder hinaus auf den Gang. »Glück gehabt«, sagte er zu Albertina. »Diese Bohle hätte Ihnen auch den Mittelfußknochen zertrümmern können, aber Ihre Schuhe haben einiges abgehalten. Also: Kühlen, hoch legen, ruhig halten, einige Tage lang. Am Dienstag stellen Sie sich hier bitte wieder vor.«

»Aber das geht nicht, da arbeite ich!«, erklärte Albertina.

»Wenn Sie das tun, lehne ich die Verantwortung für Ihre weitere Genesung ab!«, entgegnete der Arzt mit funkelndem Blick.

»Ich sorge dafür, dass sie keine Dummheiten macht«, warf Kurt schnell ein, als er sah, dass Albertina erneut zu einer Erwiderung ansetzte.

Dr. Bertram nickte nur, dann lächelte er. »Seien Sie vernünftig«, bat er in versöhnlichem Ton. »In Ihrem eigenen Interesse. Der Fuß wird Ihnen sonst noch länger Probleme bereiten, glauben Sie mir. Gönnen Sie ihm jetzt drei Tage Ruhe, dann ist das Schlimmste überstanden.« Er gab ihr noch zwei Krücken mit, denn ohne die würde sie sich nicht bewegen können.

Albertina nickte, obwohl sie nicht die Absicht hatte, auf den Arzt zu hören. Aber was nützte es, sich mit ihm zu streiten? Sie würde, wie immer, tun, was sie für richtig hielt.

Aber als Kurt sie nach Hause gefahren hatte und ihr half, aus dem Auto zu steigen und zum Haus zu humpeln, merkte sie mit einem Mal, dass sie doch angeschlagener war als angenommen. Der Fuß bereitete ihr jetzt viel größere Probleme als während des Tages, sie konnte nicht auftreten, ohne dass ihr ein scharfer Schmerz durch das ganze Bein schoss. Also benutzte sie zähneknirschend die Krücken, obwohl sie das eigentlich nicht vorgehabt hatte.

»Ich kümmere mich morgen um dein Auto«, versprach Kurt. »Meine Frau und ich können es zu dir fahren. Du bist ein solcher Dickschädel, Albert. Warum wolltest du nicht mit zu uns kommen? Wir hätten dich versorgen können, bis du wieder auf den Beinen bist.«

»Das ist sehr lieb von dir, Kurt, danke, aber es geht auch so. Ich komme jetzt allein zurecht, das Haus hier hat einen Aufzug.« Sie wollte nicht, dass er ihre Wohnung sah. Die war zwar ziemlich schlicht eingerichtet, aber hier und da gab es eben doch eine Kostbarkeit, die sich eine normale Bauingenieurin, die noch nicht lange berufstätig war, kaum hätte leisten können. Vielleicht hätte er das nicht einmal bemerkt, aber sie wollte lieber nichts riskieren. Zum Glück war das Haus, in dem sie wohnte, nicht weiter auffällig: ein hübsch renovierter Altbau, nichts Luxuriöses.

»Ruf an, wenn etwas ist«, bat er. »Aber wie ich dich kenne, machst du das sowieso nicht.«

»Danke!«, sagte sie noch einmal. »Fahr nach Hause, Kurt, deine Familie wartet auf dich, und ich schaffe das ab jetzt allein.«

Er zögerte noch immer, nickte dann aber und ging zurück zu seinem Auto. Sie wartete, bis er eingestiegen und weggefahren war, dann humpelte sie zum Fahrstuhl und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand, während er sie nach oben brachte. In ihrer Wohnung angekommen, steuerte sie sofort das Sofa an und ließ sich da-rauf nieder. Als sie den verletzten Fuß hochlegte, fühlte sie sich besser, trotz der noch immer heftigen Schmerzen.

Später duschte sie noch, wobei sie sich bemühte, den Verband nicht nass werden zu lassen. Jetzt erst merkte sie, wie selbstverständlich sie ihre gute Konstitution immer hingenommen hatte. Nun hatte sie einen verletzten Fuß, eine vergleichweise kleine Behinderung also – und dennoch konnte sie sich kaum allein helfen.

Sie aß eine Kleinigkeit, dann legte sie sich wieder auf ihr Sofa, lagerte den Fuß hoch und schaltete den Fernseher ein, nachdem sie noch eine Schmerztablette genommen hatte.

Als sie mitten in der Nacht aufwachte, lief der Fernseher noch immer. Die Schmerzen hatten nachgelassen. Leise vor sich hin schimpfend angelte sie nach den Krücken und humpelte ins Bett, wo sie sofort wieder einschlief.

Zum Glück war am nächsten Tag Sonntag!

*

Gräfin Caroline war voll der bes-ten Vorsätze gewesen, doch kaum hatte sie angefangen, von Albertina zu reden, da war die Begeisterung auch schon mit ihr durchgegangen, und sie hatte ihrem Sohn dringend nahe gelegt, die Bekanntschaft der reizenden jungen Frau zu suchen.

»Mama!«, seufzte Carl, halb amüsiert, halb verärgert. »Wir wollten dieses Thema doch fallen lassen. Ich bin erwachsen, überlass es mir, mich zu verlieben.«

»Aber das ist es doch eben!«, rief seine Mutter. »Wenn ich das täte, würde ja nie was draus.«

»So wird es aber auch nichts«, entgegnete Carl, »weil ich mich nämlich ärgere und nun erst recht keine Lust mehr habe, mich um irgendeine Frau zu bemühen.«

Caroline fing einen Blick ihres Mannes auf. Sie lächelte schuldbewusst. »Ich hatte mir so vorgenommen, zurückhaltend zu sein«, murmelte sie. »Ehrlich, Carl, ich wollte dich nicht unter Druck setzen, aber wir waren so angetan von dieser jungen Frau …«

»Wie schon von etlichen anderen zuvor«, bemerkte Carl trocken. Er wandte sich an seinen Vater. »Du findest diese Albertina also auch schön, klug, sympathisch und damit unwiderstehlich, Papa?«

Graf Ernst lächelte. »Wenn du es genau wissen willst, mein Sohn: ja. Sie hat uns bestens unterhalten, Fritz von Kant und mich. Sie ist nämlich Ingenieurin und arbeitet zurzeit an dieser großen Brücke mit. Du weißt, dass ich gern selbst eine solche berufliche Laufbahn eingeschlagen hätte, deshalb hat mich alles, was Albertina zu erzählen hatte, sehr interessiert. Außerdem ist sie eine ausgesprochen attraktive junge Frau.«

»Schön, jetzt habt ihr mir das mitgeteilt, ich bin also über ihre Vorzüge informiert. Könnten wir jetzt bitte über etwas anderes reden?«

Ernst warf seiner Frau einen warnenden Blick zu, damit sie nicht noch einen Fehler machte.

Sie nickte ihm verstohlen zu. An dem nun folgenden Gespräch beteiligte sie sich kaum noch. Es tat ihm leid, dass Carls Junggesellentum ihr solchen Kummer berei-tete, aber in diesem Punkt war er ganz auf der Seite seines Sohnes: Ob Carl sich verheiratete oder nicht und wann er das tat, war ausschließlich seine Sache. Es half niemandem, in dieser Angelegenheit Druck auszuüben.

Es dauerte lange, bis Caroline zu ihrer sonstigen Heiterkeit zurückgefunden hatte – und ein Rest von Enttäuschung über Carls schroffe Abwehr ließ sich noch immer von ihrem Gesicht ablesen, als er sich gegen Abend wieder verabschiedete. Hätte sie freilich gewusst, dass ihr Sohn, aus reiner Neugierde, beschlossen hatte, sich diese sagenhafte Albertina einmal anzusehen, ohne dass seine Eltern etwas davon erfuhren, wäre sie außer sich vor Freude gewesen.

*

Robert Heuser hatte Glück an diesem Sonntag: Er sah seine große Liebe Sabine, bevor sie ihn entdeckte – und so blieben ihm etliche Sekunden, sich auf die unvermeidliche Begegnung einzustellen. Sein letztes Gespräch mit Carl hatte Spuren hinterlassen, er war, zum ersten Mal, seit er sich in Sabine verliebt hatte, fest entschlossen, seine Gefühle für sie zu bekämpfen. Sie liebte ihn nicht, die Sache war aussichtslos, er musste also damit aufhören, wenn er sich nicht vollständig lächerlich machen wollte!

Er schaffte es, dank seines kleinen Vorteils, unverbindlich zu lächeln, als sie ihn endlich auch erkannte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, aber das konnte sie ja zum Glück nicht sehen. Auch dass seine Hände feucht vor Aufregung waren, würde sie nicht mitbekommen, da sie sich noch nie per Handschlag begrüßt hatten. Er musste nur seine Stimme unter Kontrolle behalten, und das sollte doch eigentlich zu schaffen sein!

»Hallo, Biene«, sagte er freundlich, während er Anstalten machte, seinen Weg fortzusetzen.

Sie jedoch blieb stehen und betrachtete ihn prüfend. »Hallo, Robert«, erwiderte sie. »Carl sagte mir, dass es dir sehr gut geht.«

»Sieht man das nicht?«, lächelte er, während er verzweifelt versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen. Wie schön sie war! Er sehnte sich so sehr danach, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen, dass er seine Fäuste tief in die Taschen seiner Jacke bohrte, um nur ja keine verräterische Bewegung zu machen.

»Doch«, erwiderte sie zögernd. »Du … du hast also wirklich begriffen, dass aus uns nie ein Paar werden wird?«

»Ja«, behauptete er und hoffte, überzeugend zu wirken. »Hat ein bisschen lange gedauert, ich weiß, und das tut mir auch leid. Aber …« Er hatte das Folgende eigentlich gar nicht sagen wollen, aber es schien ihm die passende Lüge zu sein, um seine Worte zu untermauern. »Aber seit ich Amelie getroffen habe, ist alles anders. Jetzt weiß ich erst, was Liebe ist. Ich war ziemlich dumm. Entschuldige, dass ich dich so lange belästigt habe, Biene.«

Ihr Blick war ungläubig, aber er las noch etwas anderes darin. Etwas, das er kaum glauben konnte, aber er war sicher, dass er sich nicht irrte: Ihr gefiel die Vorstellung nicht, dass er in eine andere Frau verliebt war.

»Schon gut«, sagte sie jetzt. »Dann ist ja alles klar von jetzt an.«

»Aber ja!«, erwiderte er mit gespielter Fröhlichkeit. »Bis demnächst mal wieder!« Er wartete nicht auf ihre Reaktion, sondern setzte seinen Weg nach einem letzten Kopfnicken fort, wobei er sich zwang, leise zu pfeifen – so wie man es eben tat, wenn man glücklich und mit sich und der Welt im Reinen war.

Er wusste es so sicher, als hätte er sich umgedreht und sich mit eigenen Augen davon überzeugt, dass sie ihm nachsah – ungläubig und keinesfalls glücklich darüber, dass sich ein Problem für sie erledigt hatte.

Ich bin ihr auf die Nerven gegangen, weil ich ihr hinterhergelaufen bin, dachte Robert. Aber jetzt, wo ich das nicht mehr tue, sieht sie mich plötzlich mit anderen Augen. Das ist ja wirklich hochinteressant!

Er pfiff ein wenig lauter und sah auf seinem weiteren Weg in lauter lächelnde Gesichter.

*

Als es klingelte, humpelte Albertina zur Tür. Mit den Krücken kam sie mittlerweile gut klar, auch der Fuß bereitete ihr, so lange sie nicht auftrat, keine Probleme mehr. Sie hatte ihn gleich nach dem Frühstück wieder hoch gelagert, eine weitere Schmerztablette hatte sie bisher nicht gebraucht. Aber natürlich fragte sie sich, wie es am nächs-ten Tag auf der Baustelle sein würde.

»Hallo, Albert!«, sagte Kurt. »Darf ich reinkommen?«

Sie nickte. Ihr war klar gewesen, dass er sich im Laufe des Sonntags bei ihr blicken lassen würde, und so hatte sie Vorsorge getroffen und ein paar Bilder und Skulpturen in ihrem Schlafzimmer verschwinden lassen. Was sich Kurts interessierten Blicken bot, war eine ziemlich spartanisch eingerichtete Wohnung mit mehr oder weniger kahlen Wänden. Hier und da hatte sie einen billigen Kalender oder ein Foto aufgehängt.

»Du könntest ein paar Pflanzen und Poster an den Wänden gebrauchen«, stellte er fest, nachdem er sich vorsichtig in einem ihrer Sessel niedergelassen hatte. Albertina selbst bettete sich wieder aufs Sofa.

»Ich kann mit Pflanzen nicht viel anfangen«, wehrte sie ab, »die gehen bei mir alle ein. Und die Wände habe ich gern so, mich beruhigt das.«

»Mir wäre das zu kahl«, gestand Kurt. »Wieso hast du so wenig Möbel?«

»Mehr brauche ich nicht.«

»Ich kann nicht lange bleiben, meine Frau wartet unten im Wagen – wir haben dir dein Auto hergebracht.« Er legte die Autoschlüssel von Albertinas verbeultem Kleinwagen auf den Tisch.

»Wieso ist deine Frau nicht mit raufgekommen?«

»Sie wollte nicht aufdringlich sein. Außerdem hat sie unseren Jüngsten dabei, den stillt sie gerade. Das ist schon in Ordnung so. Kommst du klar?«

»Gut, muss ich sagen. Der Fuß schmerzt kaum noch, ich kann nur immer noch nicht auftreten.«

»Dann lass dich krankschreiben«, riet Kurt. »Und melde es der Versicherung, das ist ja ein Arbeitsunfall gewesen. Ich habe schon mit unserem Neuen geredet und ihm ordentlich die Meinung gesagt. Er hat das gleich zugegeben mit der Holzbohle – wäre ja auch kein anderer so blöd gewesen, sie so hinzustellen.«

»Ich wollte eigentlich morgen kommen«, murmelte Albertina.

»Nur über meine Leiche«, erklärte Kurt kategorisch. »Tu, was dieser Notarzt dir gesagt hat – was sind schon drei Tage? Wenn danach das Schlimmste vorüber ist, bist du doch glimpflich davongekommen.«

»Aber wir haben so viel zu tun, Kurt! Und uns fehlen sowieso schon Leute! Wie wollt ihr das denn noch ausgleichen, wenn ich jetzt auch noch ausfalle?«

»Das lass mal schön unsere Sorge sein.« Kurt griff in eine Tasche, die er neben sich auf den Boden gestellt hatte. »Hier, ein bisschen Eintopf, damit du nicht kochen musst. Hat meine Frau gemacht, schmeckt echt lecker!«

»Kurt, das ist …«

Er hob abwehrend beide Hände. »Kannst dich bei Gelegenheit mal bei ihr bedanken, aber es war ihre eigene Idee. Sie meinte, ich sollte dich mitnehmen jetzt, aber ich habe ihr gesagt, dass ich dann schon Gewalt anwenden müsste, weil du auf keinen Fall freiwillig mitkämst.«

»Da hast du Recht«, bestätigte Albertina. »Danke für alles, Kurt. Grüß deine Frau von mir – und ich überlege mir das mit der Krankschreibung, jedenfalls für morgen.«

Er stand auf. »Ich bringe den Eintopf in die Küche«, sagte er. »Und morgen komme ich wieder vorbei.«

Als er zurückkehrte, sagte er: »Ist eigentlich eine schöne Wohnung, die du da hast – wenn du sie dir ein bisschen gemütlicher eingerichtet hättest, könnte man sich hier richtig wohlfühlen. Bis morgen dann, Albert. He, bleib bloß liegen, ich finde die Wohnungstür allein!«

»Danke, Kurt!«

Sie fühlte sich erschöpft, als er gegangen war. Erschöpft und seltsam gerührt. Sie kannte Kurt erst seit einem Jahr, dennoch fühlte er sich bereits für sie verantwortlich – und seine Frau gab ihm Eintopf für sie mit.

Plötzlich schossen ihr Tränen in die Augen, sie wusste selbst nicht, warum. Sie weinte selten, es gab auch nicht allzu viel Anlass dazu. Jetzt aber flossen die Tränen reichlich, und sie entdeckte erstaunt, wie gut es ihr tat, ihnen freien Lauf zu lassen.

*

Carl hatte in den Tagen nach dem Besuch bei seinen Eltern sehr viel zu tun, und so vergaß er Albertina von Braun erst einmal. Er verwaltete die Finanzen der Familie und benötigte dafür ein Büro mit mehreren Angestellten. Die Grafen zu Kallwitz hatten ihre Besitztümer und Firmenbeteiligungen weit verstreut, da war es nur gut, dass Carl eine Banklehre und später noch ein Betriebswirtschaftsstudium absolviert hatte.

Es war bereits Mittwoch, als ihm die junge Ingenieurin wieder einfiel, von der seine Eltern so begeis-tert gewesen waren. Hätte sich nur seine Mutter positiv über Albertina von Braun geäußert, wäre er vermutlich darüber hinweggegangen, denn bei ihr war der Wunsch nach einer Schwiegertochter und Enkelkindern mittlerweile so groß geworden, dass er ihr Urteilsvermögen gelegentlich trübte. Doch auch sein Vater war beeindruckt gewesen, und das hieß schon etwas.

Er betrachtete sinnend seinen Terminkalender und stellte fest, dass er am Donnerstag in seiner Mittagspause ganz gut einen Abstecher zur Baustelle machen konnte. Es würde nicht schwer sein, sich dort Zutritt zu verschaffen – er kannte einen Politiker, der den Bau der Brücke entschieden vorangetrieben hatte. Das entsprechende Telefonat erledigte er selbst und bat dabei, inkognito bleiben zu dürfen, wenn er sich umsah. »Rein privates Interesse«, beteuerte er, als der Politiker sich besorgt erkundigte, ob es Ungereimtheiten ge-

be, denen Carl nachzugehen wünsche.

Am Donnerstagmittag machte er sich rechtzeitig auf den Weg und traf an der Baustelle ein, als dort noch gearbeitet wurde. Das war ihm recht. Er bekam einen Helm und einen Besucherausweis, sowie einige Anweisungen, wo er sich aufhalten konnte und wo nicht. Dann durfte er herumlaufen, ohne eine Begleitperson neben sich.

Es war eine riesige Baustelle, und obwohl Albertina von Braun vermutlich die einzige Frau weit und breit war, hatte er Probleme, sie ausfindig zu machen, da Arbeitskleidung und Helme alle ähnlich aussehen ließen. Er fand sie durch Zufall: Sie rief einem Kollegen etwas zu, und ihre Stimme war unverkennbar weiblich. Breitbeinig stand sie neben einem blonden Riesen. Als sie ein paar Schritte ging, merkte er, dass sie ein wenig hinkte, als bereitete ihr das Laufen Probleme. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wie sie mit seinen Eltern an einer elegant gedeckten Tafel saß und sich höflich mit ihren Tischnachbarn unterhielt.

Er hielt sich abseits, schlenderte ein bisschen herum, behielt Albertina aber im Auge. Als umwerfend attraktiv hatte seine Mutter sie geschildert – nun, das konnte er nicht beurteilen, er sah ja kaum etwas von ihr. Und dann hielt er plötzlich mitten in der Bewegung inne, denn Albertina hatte offenbar etwas entdeckt, was ihr missfiel. Sie brüllte ein paar Schimpfwörter, woraufhin mehrere Arbeiter eiligst herbeigelaufen kamen. Er sah, dass sie ihnen etwas zeigte, konnte aber nicht erkennen, worum es sich handelte. Wohl aber verstand er das Meiste von dem, was sie sagte, da sie nach wie vor sehr laut sprach. Je länger er ihr zuhörte, desto fassungsloser wurde er. Sie fluchte wie ein Fuhrknecht, ihre Ausdrucksweise war mehr als deutlich – und nun spuckte sie auch noch aus. Er verstand die Welt nicht mehr. Von dieser Frau hatte seine Mutter ihm etwas vorgeschwärmt? Wahrscheinlich hatte sie sich bei ihren Eltern zusammengerissen, aber hier, auf der Baustelle, zeigte sie ihr wahres Gesicht.

Halb verärgert, halb erleichtert stand er da und lauschte den Kraftausdrücken, mit denen Albertina von Braun um sich warf. Er hatte Zeit verschwendet, aber immerhin konnte er sie nun mit gu-tem Gewissen aus seinem Gedächtnis streichen, er brauchte wahrhaftig keinen weiteren Gedanken an sie zu verschwenden. Was er gesehen und vor allem gehört hatte, reichte ihm vollkommen. Albertina von Braun kam so wenig als seine Freundin oder Frau infrage wie alle anderen Kandidatinnen, die seine Mutter bisher für sich eingenommen hatte.

Nur eine Frage blieb: Wie war es möglich, dass nicht nur seine Mutter, sondern auch sein Vater sich von Albertina von Braun hatten täuschen lassen? Doch die Antwort auf diese Frage interessierte ihn nicht genug, ihm ihr nachzugehen. Er hatte wahrhaftig anderes zu tun.

*

»Wo kommt dieser Beton her?«, fragte Albertina wütend. Sie war seit Montag wieder auf der Baustelle, sie hatte es zu Hause nicht ausgehalten. Und natürlich war sie nicht, wie angeordnet, noch einmal im Krankenhaus gewesen, um sich ein zweites Mal untersuchen zu lassen. Kurts Vorhaltungen waren auf taube Ohren gestoßen, er hatte schließlich resigniert aufgegeben.

Es war auch einigermaßen gut gegangen, allerdings hatte sie abends wieder heftige Schmerzen im Fuß gehabt. Doch nachdem sie ihr Bein eine Zeit lang brav hoch gelagert hatte, ließen die Schmerzen nach.

Heute war Donnerstag, der Fuß war noch nicht in Ordnung, aber sie ignorierte ihn, so gut es ging. Und nun also waren sie, eher durch Zufall, auf ein Problem gestoßen: Einer der Männer, die den Beton verarbeiteten, hatte gesagt, der sei nicht so wie der bisher angelieferte, irgendwas komme ihm komisch vor. Daraufhin hatten sich Albertina und Kurt die Sache ein wenig genauer angesehen und schließlich den Bauleiter befragt.

»Neuer Lieferant«, erklärte der achselzuckend. »Mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»Guck dir an, wie das hier aussieht, Alf, das können wir wieder einreißen«, rief Albertina erbost. »Verdammter Mist! Mit dem Beton stimmt was nicht. Ihr wisst doch, dass es Firmen gibt, die minderwertigen Beton liefern, um ein paar Euro extra zu verdienen.« Sie trat mit dem Fuß heftig gegen die gerade hochgezogene Mauer. »Hier, siehst du, wie das Material reagiert? Das ist doch nicht in Ordnung. Die haben uns Mist angedreht!« Sie ließ noch ein paar unflätige Schimpfwörter folgen.

»Sag das nicht so laut, Albert – die könnten dich wegen Verleumdung drankriegen. Und du musst den Beton ja nicht bezahlen«, sagte der Bauleiter.

Sie stieß weitere Flüche aus, bevor sie fortfuhr: »Nein, ich muss ihn nicht bezahlen, aber ich bin mit euch allen zusammen dafür verantwortlich, dass diese Brücke, wenn wir sie gebaut haben, auch hält – und nicht nach ein paar Jahren oder vielleicht auch noch schneller schon die ersten Schäden aufweist, weil wir minderwertigen Beton verwendet haben.«

»So sei doch endlich ruhig – wenn dich jemand hört, der …«

Doch Albertina ließ sich nicht beeindrucken von den ängstlichen Warnungen des Bauleiters. Sie ließ ihn nicht einmal ausreden. »Hast du Angst?«, rief sie laut. »Das ist ja lächerlich! Wenn der Beton in Ordnung ist, hat niemand etwas zu befürchten – haben sie gepanscht, sollen sie sich warm anziehen! Ich will, dass der Beton untersucht wird. Der wird erst weiter verbaut, wenn die Untersuchung ergeben hat, dass er einwandfrei ist.«

»Du weißt, dass wir in Zeitnot sind.«

»Verdammt noch mal, ja, das weiß ich! Jeder hier weiß das – vielleicht ist das ja der Grund dafür, dass jemand versucht, uns solchen Dreck anzudrehen! Vielleicht denkt er, wir würden es vor lauter Zeitnot nicht merken. Und das wäre ja auch um ein Haar passiert!«

Längst hatten etliche Kollegen die Arbeit niedergelegt und verfolgten das aufgeregte Wortgefecht interessiert.

Der Bauleiter machte ihm schließlich ein Ende, da er wusste, wie viel Respekt Albertina bei ihren Kollegen genoss. »Gut, wir untersuchen ihn. Aber während das passiert, steht ihr hier gefälligst nicht untätig herum, sondern macht etwas anderes, damit wir vorankommen. Und wenn ihr nur aufräumt!«

Niemand widersprach. Arbeit gab es schließlich genug.

Albertina besprach sich leise mit Kurt. »Glaubst du, er will uns über den Tisch ziehen?«

Kurt schüttelte den Kopf. »Er hat Angst, aber er kann es sich gar nicht leisten, diesem Verdacht nicht nachzugehen. Stell dir vor, wir haben Recht, und er hat unseren Hinweis übergangen – dann kann er aber lange suchen, bis er wieder Arbeit findet.«

Albertina nickte, das schien ihr einleuchtend zu sein. »Dann wollen wir mal«, sagte sie. »Ich hoffe, die Untersuchung dauert nicht so lange!«

Zerstreut folgte sie mit den Augen einem Mann, der eilig dem Parkplatz zustrebte. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er trug einen Helm, hatte aber offenbar nichts mit der Baustelle zu tun, seiner sonstigen Kleidung nach zu urteilen. Erkennen konnte sie ihn nicht, er schien noch jung zu sein, seinen Bewegungen nach zu urteilen.

Jemand rief ihr etwas zu, und sie vergaß den Mann wieder.

*

»Was ist denn mit dir los?«, erkundigte sich Barbara Gerold bei Sabine Ketteler. »Den ganzen Morgen bist du schon so seltsam.«

Sie arbeiteten zusammen im Einkauf eines großen Kaufhauses, so hatten sie sich auch kennengelernt und waren Freundinnen geworden.

»Ich weiß es nicht genau«, murmelte Sabine, »aber mir ist was Komisches passiert, Babs.«

»Und was?«, fragte Barbara geduldig.

»Ich habe Robert am Wochenende getroffen.«

»Nicht schon wieder!«, stöhnte Barbara. »Wird er es denn nie begreifen, dass er sich die Mühe sparen kann, dir immer wieder Liebes-erklärungen zu machen?«

»Hat er nicht«, entgegnete Sabine. »Er hat sich in eine Andere verliebt. Er war völlig verändert und hatte es ziemlich eilig, sich wieder von mir zu verabschieden.«

Barbara war mehrere Sekunden lang sprachlos. »Aber das ist doch großartig!«, jubelte sie dann. »Das heißt, du bist ihn endlich los. Das hast du dir doch so lange gewünscht, Biene!«

»Ja, habe ich«, murmelte Sabine. »Das Seltsame ist nur: Jetzt, so sich dieser Wunsch erfüllt hat, freue ich mich überhaupt nicht mehr da-

rüber.«

»Was meinst du damit?«

»Das, was ich gesagt habe: Ich hätte mich freuen müssen, statt-dessen stand ich da und war beinahe … na ja, beinahe eifersüchtig.«

Barbara starrte sie verständnislos an. Endlich brachte sie heraus: »Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder?«

»Doch«, erklärte Sabine kleinlaut. »Ich verstehe mich selbst nicht, aber ich habe ihn auf einmal mit völlig anderen Augen gesehen als vorher.«

Langsam ließ Barbara sich auf einen Stuhl sinken. »Mit anderen Augen?«

»Ja. Er ist mir immer auf die Nerven gegangen, weil er mich so angehimmelt hat. Aber jetzt, wo er mir gegenüber ganz gleichgültig ist, habe ich plötzlich gesehen, wie attraktiv er ist.«

Barbara stöhnte. »Ich fasse es nicht«, rief sie. »Ehrlich, ich fasse es nicht. Seit Monaten erzählst du mir, wie Robert dich nervt, wie sehr du dir wünschst, dass er endlich …«

»Das weiß ich doch alles! Aber vielleicht habe ich mich ja auch geirrt, Babs.«

Barbara ächzte. »Geirrt«, wiederholte sie.

»Ja. Ich habe ihn nie richtig wahrgenommen, weil ich von vornherein schon voller Abwehr war, sobald ich ihn nur auf mich zukommen sah.«

»Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, dass du vielleicht in ihn verliebt bist, oder?«

»Ich weiß nicht.« Sabines Stimme klang kläglich. »Babs, ich komme mir so blöd vor. Ehrlich, ich war fest davon überzeugt, dass ich froh sein würde, ihn endlich loszuwerden. Aber jetzt sieht mit einem Mal alles ganz anders aus.«

»Und wenn du dich wieder irrst? Ich meine, du kannst mit dem Mann keine Spiele treiben, Sabine, und ihm jetzt Hoffnungen machen, um dann in Kürze festzustellen: Oh, tut mir leid, ich habe mich schon wieder geirrt.«

»Das weiß ich selbst. Ich fühle mich schrecklich, Babs.« In Sabines Augen glänzten Tränen. »Du findest mich unmöglich, stimmt’s?«

»Unmöglich vielleicht nicht, aber schon ein bisschen wankelmütig, das muss ich sagen. Ich habe dir jedenfalls geglaubt, dass du dir nichts aus Robert machst.«

»Ich habe mir auch geglaubt«, bekannte Sabine leise.

Barbara bekam Mitleid mit ihr, stand auf und nahm sie in die Arme. »Jetzt beruhige dich erst einmal, und dann überlegen wir, was du tun könntest.«

»Nichts, es ist ja zu spät! Er hat sich in eine andere Frau verliebt, das habe ich dir doch erzählt.«

»Ja, das hast du erzählt, aber das muss ja nicht ewig halten. Vielleicht hat er sich ja auch nur verliebt, um endlich von dir loszukommen.«

»Glaubst du?«, fragte Sabine hoffnungsvoll.

»Es wäre immerhin eine Möglichkeit«, antwortete Barbara diplomatisch. Insgeheim fragte sie sich, wie die sonst so klar denkende Sabine, die immer zu wissen schien, was sie wollte, in einen solchen Gefühls-Schlamassel hatte geraten können.

»Und was soll ich jetzt tun?«

»Erst einmal gar nichts. Warte ab, wie sich das mit seiner Freundin entwickelt.«

»Das erfahre ich doch gar nicht, Babs. Ich könnte höchstens …« Sabine verstummte.

»Was?«

»Na ja, ich könnte unauffällig bei seinem Freund Carl nachfragen, der wird diese Amelie ja bestimmt schon zu Gesicht bekommen haben.«

»Amelie heißt sie also«, stellte Babara fest. »Das mit seinem Freund ist eine gute Idee. Frag ihn – und dann reden wir weiter.«

Sabine nickte. Mit einer raschen Bewegung wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Aber als sie versuchte zu lächeln, misslang ihr das kläglich.

*

»Es wäre schön, wenn Sie kommen könnten«, sagte Baronin Sofia am Telefon zu Eliane von Braun. »Wir haben ein paar sehr interessante Künstler eingeladen und hoffen jetzt nur noch, dass das Wetter mitspielt und das Konzert im Schlosspark stattfinden kann. Ich bin sicher, es würde Ihnen gefallen. Und natürlich hoffen wir, dass Sie Ihre Tochter mitbringen.«

»Wir fragen sie gern, aber es ist möglich, dass sie keine Zeit hat, Frau von Kant. Sie arbeitet schon seit Wochen jeden Samstag. Trotzdem vielen Dank für die Einladung, mein Mann und ich freuen uns sehr.«

»Und wir freuen uns«, erklärte Sofia. Nachdem sie sich von Eliane von Braun verabschiedet hatte, rief sie Gräfin Caroline zu Kallwitz an, um zu fragen, ob sie mit dem Erscheinen von Caroline und Ernst zum Konzert rechnen konnten.

»Ja, natürlich, Sofia!«, antwortete die Gräfin auf diese Frage. »Haben wir eure Konzerte schon einmal ausgelassen? Das ist für uns immer einer der Höhepunkte des Jahres.«

»Freut mich sehr, das zu hören. Wir haben die Brauns auch eingeladen.«

»Ach«, entfuhr es der Gräfin, »und kommt die entzückende Albertina auch?«

»Das konnte mir ihre Mutter noch nicht sagen, aber eingeladen haben wir sie jedenfalls. So wie wir natürlich auch Carl einladen, aber das versteht sich ja von selbst.«

»Ich sorge dafür, dass er uns begleitet«, erklärte Caroline eifrig. »Ich hatte ja versucht, ihn dazu zu bewegen, sich einmal mit Albertina zu treffen, aber er denkt natürlich gar nicht daran. Er wird mit vierzig noch Junggeselle sein, Sofia!«

»Da wäre ich nicht so überzeugt. Wenn die Richtige auftaucht, geht das manchmal sehr schnell, Caro.«

»Danke, dass du mich trösten willst, aber ich bin kurz davor, die Hoffnung aufzugeben. Und Ernst ist mir in dieser Hinsicht überhaupt keine Hilfe. Wenn ich davon anfange, brummt er immer nur, dass ich Carl selbst über sein Leben bestimmen lassen soll.«

»Dann tu das doch. Hab’ ein

bisschen Vertrauen zu Carl – er weiß ja sonst auch sehr genau, was er will.«

»Das stimmt. Aber in der Liebe braucht er Nachhilfe, Sofia.«

Die Baronin schmunzelte in sich hinein, als sie sich von Gräfin Caroline verabschiedet hatte. Sollten sowohl Albertina von Braun als auch Carl zu Kallwitz kommen, konnte es rund um das Konzert herum sehr interessant werden.

*

»Auf der Brückenbaustelle gibt es einen Skandal«, berichtete Anna ihrem Cousin Christian am nächs-ten Tag, als sie im Schulbus auf dem Heimweg waren. »Hast du davon gehört? Die haben ihnen minderwertigen Beton geliefert.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich dachte, du interessierst dich nicht für den Brückenbau. Neulich jedenfalls hast du nur gegähnt, als ich davon gesprochen habe.«

»Jetzt ist das etwas anderes«, erklärte sie. »Erstens wegen dieser Albertina, die da arbeitet – und dann wegen des Skandals. Zum Glück haben sie es schnell gemerkt – bevor viel von dem Beton verbaut wurde. Jetzt ruhen die Arbeiten, es gibt richtig Stress, weil jeder dem anderen die Schuld zuweist. Dabei ist die Sache ziemlich eindeutig. Sie suchen nur noch nach demjenigen, der das Geschäft mit dem neuen Betonlieferanten vermittelt hat, denn der hat natürlich auch Dreck am Stecken.«

»Dass die sich überhaupt trauen«, murmelte der kleine Fürst. »Immerhin fahren und gehen ja später viele Leute über die Brücke. Wenn sie einstürzt …«

»Na ja, sie würde wohl nicht gleich einstürzen, sondern erst einmal Risse und so kriegen. Dann müsste sie aber schon bald wieder geflickt werden, das würde teuer. Jedenfalls wird jetzt dort nicht gearbeitet.«

»Deine Mutter hat Albertina von Braun zum Konzert eingeladen – wenn sie nicht arbeiten muss, kommt sie vielleicht.«

»Sehen würde ich sie schon gerne mal«, meinte Anna nachdenklich. »So wie sie von ihr geschwärmt haben, muss sie ja besonders nett sein.«

Der Bus hielt, sie mussten aussteigen. Von hier aus hatten sie nur noch den kurzen Anstieg zum Schloss zu bewältigen. Als es vor ihnen aufragte, hörten sie Togo in der Ferne bellen, Christians jungen Boxer. Gleich darauf sahen sie ihn in langen Sprüngen auf sie zu jagen. Begeistert umkreiste er sie, bis sie sich bückten und nach einem geeigneten Stöckchen suchten, das sie für ihn werfen konnten.

Als sie das Schloss endlich erreichten, waren sie alle drei außer Atem.

*

Albertina war insgeheim nicht böse darüber, dass die Arbeit auf der Baustelle ein paar Tage ruhte. Noch vor einer Woche hätte sie das als Katastrophe angesehen, da war sie aber auch noch vollkommen fit gewesen. Davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Sie hatte ihren Fuß zu früh belastet, eindeutig. Mittlerweile wünschte sie sich, sie hätte auf Dr. Bertraum gehört, den Arzt im Krankenhaus. Da sie nun in Zwangsurlaub geschickt worden war, hatte sie beschlossen, diesen zu nutzen, um ihren Fuß richtig auszukurieren.

Sie fuhr sogar von sich aus noch einmal ins Krankenhaus, um sich, mit einigen Tagen Verspätung, untersuchen zu lassen.

»Sie haben nicht auf mich gehört«, stellte Dr. Bertram fest, als er den Fuß sah.

»Nein«, gab sie zu. »Ich kann nicht gut untätig zu Hause herumsitzen, deshalb bin ich am Montag wieder auf die Baustelle gegangen.«

»Baustelle? Ich wollte neulich schon fragen, wieso Ihnen eine Bohle auf den Fuß gefallen ist, aber dazu bin ich gar nicht mehr gekommen.«

»Ich bin Ingenieurin.«

Da sie die Frage in seinen Augen las, erklärte sie ihm auch noch, wo sie arbeitete und warum sie nun auf einmal mehr Zeit hatte, als ihr lieb war.

»Interessant«, meinte Dr. Bert-ram. »Wenn Sie mich fragen: Der minderwertige Beton ist das Beste, was Ihrem Fuß passieren konnte. Werden Sie mir versprechen, jetzt auf mich zu hören?«

»Ja«, antwortete Albertina. »Sie wissen doch, Herr Doktor: Durch Schaden wird man klug.«

Er musste lachen, und sie stellte erstaunt fest, dass er mit einem Mal ausgesprochen nett aussah. »Ich dachte, Sie wären ein richtiger Miesepeter«, gestand sie. »Aber vielleicht war ich ein bisschen voreilig mit meinem Urteil. Jetzt kommen Sie mir ganz nett vor.«

»Danke für die Blumen«, bemerkte er trocken, aber seine Augen lächelten dabei. »Bestimmt sind Sie selbst hergefahren, oder?«

Sie nickte. »Ist das schlimm?«

»Ja, ist es. Lassen Sie das Auto-fahren sein in den nächsten Tagen. Fahren Sie von mir aus noch nach Hause, aber dann bleibt das Auto bitte stehen!« Er gab ihr noch eine ganze Reihe von Verhaltensmaßregeln, und sie versprach, sich daran zu halten.

Er blickte so skeptisch, dass sie schließlich beteuerte: »Ich tue alles, was Sie sagen, ehrlich! Ich will endlich wieder schmerzfrei sein und keinen Fuß, der bei der ge-ringsten Belastung anschwillt wie ein Ballon.«

»Dann behandeln Sie ihn gefälligst gut!«

Mit diesen Worten entließ Dr. Bertram sie, gab ihr aber einen Termin für eine weitere Untersuchung. Seufzend versprach sie, ihn einzuhalten.

Sie fuhr langsam und vorsichtig zurück, humpelte dann zum Einkaufen und war schließlich froh, sich in ihrer Wohnung wieder hinlegen zu können. Manchmal war ihre Dickköpfigkeit eindeutig ein Nachteil. Sie hatte sich schon als Kind schwer getan, wenn sie die Anweisungen anderer befolgen sollte. Es gab Geschichten in ihrer Familie, die heute noch erzählt wurden – sie alle handelten davon, dass Albertina immer und überall ihren Kopf hatte durchsetzen wollen.

Später rief ihre Mutter an, völlig aufgelöst. »Was ist das für ein Skandal bei eurer Brücke?«

Albertina erzählte, was sie bisher wusste und setzte dann hinzu: »Wir machen jetzt praktisch eine Zwangspause.« Ihren Fuß erwähnte sie selbstverständlich nicht.

»Wunderbar, dann komm doch zu uns!«

»Tut mir leid, Mama, aber ich möchte gern einfach ein paar Tage lang meine Ruhe haben. Außerdem gibt es eine Menge Papierkram, den ich erledigen muss – ich bin froh, dass ich endlich die Zeit dazu finde.«

»Schade, es wäre schön gewesen, dich mal wieder etwas länger hier zu haben. Wirst du uns denn nach Sternberg begleiten am nächsten Wochenende? Da findet ein Konzert statt …«

Albertina überdachte ihre Situation. Bis dahin würde ihr Fuß wieder in Ordnung sein, wenn sie keine Dummheiten machte – zumindest hatte Dr. Bertram ihr das versprochen. Und sie wusste, dass ihre Eltern über eine Zusage glücklich wären. Kurz entschlossen sagte sie zu. Eliane von Braun reagierte wie erwartet hocherfreut.

Danach sank Albertina wieder in ihre liegende Position, griff nach der Fernbedienung und suchte nach einem Liebesfilm.

Doch bald darauf wurde sie ein weiteres Mal gestört: Kurt stand vor ihrer Tür. Sie war heilfroh, dass sie ihre Bilder noch nicht wieder aufgehängt hatte und die Skulpturen noch immer in ihrem Schlafzimmer standen.

»Was macht dein Fuß?«, erkundigte er sich.

»Ich war noch mal in der Ambulanz vorhin. Dr. Bertram war ziemlich sauer auf mich. Ab jetzt höre ich auf ihn. Und da wir sowieso nicht arbeiten …«

Kurt grinste. »Schöner Zufall, nicht?« Er wurde schnell wieder ernst. »Für dich ist das gut, aber insgesamt ist es natürlich eine Katastrophe. Den Zeitplan können wir damit vergessen – und wenn es in diesem Jahr früh kalt wird …«

»Jetzt mal den Teufel nicht an die Wand, Kurt«, bat sie. »Ich glaube nicht, dass die Baustelle lange geschlossen bleibt, das kann sich doch niemand leisten.«

»Die suchen denjenigen, der diesen Beton bestellt hat – die Vermutung ist nämlich, dass da jemand von unserer Seite die Finger drin hatte. Und bevor das nicht geklärt ist, geht gar nichts weiter.« Er starrte auf seine Fußspitzen. »So ein Mist«, brummte er. »Bei uns ist es immer ziemlich knapp, meine Frau kann ja wegen des Babys nicht arbeiten zurzeit, und das Geld fehlt uns. Du weißt ja, die zahlen zwar den Grundlohn weiter, aber das war’s dann auch schon.«

Sie schämte sich plötzlich, dass sie ihm noch immer eine Komödie vorspielte – er wusste nichts über ihren Hintergrund, und sie tat alles, um ihn weiterhin hinters Licht zu führen. Dabei war er längst ein Freund geworden, begriff sie mit plötzlicher Klarheit. Sie waren nicht nur Kollegen. Außerhalb der Baustelle gab es vermutlich keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, aber er war trotzdem ein Freund. »Ich habe dich angelogen«, sagte sie, ohne lange nachzudenken. »Dich und die anderen auch.«

»Angelogen?« Er sah sie entgeis-tert an. Dann wurde er blass. »Willst du etwa sagen, dass du mit dieser Betongeschichte was zu tun hast, Albert? Hast du dich auf krumme Geschichten eingelassen, um etwas Geld nebenher zu verdienen?«

Dieser Gedanke war so absurd, dass sie beinahe gelacht hätte, sie unterdrückte dieses Bedürfnis jedoch. »Natürlich nicht!«, antwortete sie. »Ich muss kein Geld nebenher verdienen, Kurt, ich habe Geld genug. Das habe ich für mich behalten, weil ich es dann noch schwerer gehabt hätte bei euch – ich meine, bis ihr mich endlich akzeptiert hättet.«

»Du hast Geld genug?«, fragte er misstrauisch. »Was willst du denn damit sagen?«

Sie holte tief Luft und erzählte ihm, dass sie einer vermögenden Adelsfamilie entstammte, dass ihr Name nicht »Braun« sondern »von Braun« war, und sie gestand ihm sogar, dass sie ihre Wohnung ein wenig »umdekoriert« hatte für ihn. Nach ihrem Geständnis wartete sie atemlos auf seine Reaktion.

Die ließ so lange auf sich warten, dass sie nervös wurde. »Bitte, Kurt, ich weiß, es war nicht nett, aber ich möchte, dass wir weiterhin Freunde sind! Ich war unsicher, verstehst du? Und … Ach, Mist, ich hätte es dir viel früher sagen sollen.«

Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht damit, dass er nach einer halben Minute der Fassungslosigkeit in schallendes Gelächter ausbrechen würde. So heftig lachte er, dass ihm Tränen über die Wangen liefen.

»Was ist denn an dem, was ich gesagt habe, so komisch?«, erkundigte sie sich, als er sich ein wenig beruhigt hatte. Sie wusste nicht, ob sie über seine Reaktion beleidigt oder erleichtert sein sollte.

»Entschuldige, Albert, ich habe nicht über dich gelacht, sondern über die Situation: Wenn die Jungs das wüssten …«

»Bloß nicht!«, rief Albertina erschrocken. »Versprich mir, dass du das für dich behältst.«

Er nickte. »Wenn du nicht da-

rüber reden willst, werde ich nichts sagen, das ist doch klar. Aber ich denke nicht, dass du noch Schwierigkeiten zu befürchten hättest. Du bist akzeptiert, daran wird sich nichts mehr ändern.«

»Kann sein, ja«, murmelte sie. »Aber es ist immer schwer, eine Lüge zurückzunehmen, wenn sie erst einmal in der Welt ist.«

»Direkt gelogen hast du doch gar nicht.«

»Na ja, schon irgendwie. Ich bin froh, dass du nicht böse auf mich bist, Kurt.«

»Kann ich es meiner Frau sagen?«

»Ja, natürlich. Wir sollten uns einfach mal zu dritt treffen, was hältst du davon?«

»Gern, sie ist sowieso neugierig auf dich – und manchmal auch ein bisschen eifersüchtig, weil sie von meiner Arbeit nichts versteht und da nicht mitreden kann.« Er beugte sich vor. »Eine Bitte hätte ich noch, Albert.«

»Du hast einen Wunsch frei«, erklärte Albertina. »Weil ich dich getäuscht habe.«

»Ich möchte die Sachen sehen, die du hier rausgeschleppt hast, damit es ein bisschen kahl und ungemütlich aussieht.«

»Nicht deshalb!«, protestierte sie. »Ich hatte nur Angst, du könntest vielleicht merken, dass das keine billigen Reproduktionen sind. Warte, ich …«

Er drückte sie zurück aufs Sofa. »Du bleibst, wo du bist. Wo ist das Zeug?«

Ergeben legte sie sich wieder hin. »Im Schlafzimmer.«

Er schleppte alle Bilder zurück ins Wohnzimmer – und alle Skulpturen. Danach nahm er den Kalender aus der Apotheke und die Fotos, die Albertina planlos verteilt hatte, ab und hängte die Bilder an die Stellen, die sie ihm zeigte. Auch die Skulpturen kamen an ihre angestammten Plätze zurück. Nach getaner Arbeit ging Kurt zur Tür und ließ das Zimmer auf sich wirken. »So sieht das ja schon ganz anders aus!«, stellte er fest. »Jetzt finde ich es auch nicht mehr kahl und ungemütlich. Du bist ganz schön durchtrieben, Albert!«

»Gar nicht!«, verteidigte sie sich. »Ich wollte bloß noch nicht auffliegen!«

Er nahm wieder Platz. »Mir ist egal, was du bist und wie viel Geld du hast«, sagte er ruhig. »Ich mag dich, ich arbeite gern mit dir zusammen, und ich vertraue dir. Du bist meine Freundin. Alles andere zählt nicht.«

Albertina musste schlucken. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie etwas erwidern konnte – und dann waren es auch nur zwei Wörter: »Danke, Kurt!«

*

Carl gab nach. »Ist gut, Mama, wenn dir so viel daran liegt, dann begleite ich euch nach Sternberg. Ich habe zwar sehr viel zu tun, aber ein bisschen Abwechslung schadet mir sicherlich nicht. Außerdem habe ich die Sternberger schon lange nicht mehr gesehen.«

Er hörte an ihrer Reaktion, wie sehr sie sich über seinen Entschluss freute. Lächelnd verabschiedete er sich von ihr, klappte sein Handy zusammen und wollte eben seinen Weg zu Robert, mit dem er verabredet war, fortsetzen, als er Sabine Ketteler auf sich zukommen sah. Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, und ihm fiel auf, dass sie verändert wirkte. Allein die Art, wie sie ging – als hätte sie allen Schwung verloren. Wo war denn die attraktive Blondine geblieben, von der Robert so lange vergeblich geträumt hatte? Wenn er sie jetzt sehen könnte …

Nun hatte auch sie ihn entdeckt und mühte sich ein Lächeln ab.

»Tag, Sabine«, sagte Carl. »Geht’s dir nicht gut?«

»Wieso?«, fragte sie. »Sehe ich so aus?«

»Du bist ein bisschen blass und spitz um die Nase, finde ich.« Das war sehr zurückhaltend ausgedrückt, aber er wollte ihr nicht zu nahe treten – schließlich hörte keine Frau es gern, wenn man ihr sagte, dass sie nicht gut aussah.

»Eigentlich geht’s mir gut«, behauptete sie, aber er glaubte ihr kein Wort. Sie war nicht nur blass, um ihren Mund lag auch ein angestrengter Zug, den er noch nie zuvor an ihr bemerkt hatte. Sie sah, fand er, gestresst und unglücklich aus, was ihn wunderte. Von Robert wusste er, dass sein Freund nach einer kurzen zufälligen Begegnung mit Sabine, bei der er sich offenbar gut gehalten hatte, nicht mehr mit ihr zusammengetroffen war. Zudem hatte er geschworen, sie nie wieder angerufen zu haben. Daran also, dass Robert ihr noch immer auf die Nerven ging, konnte es nicht liegen.

»Wie geht’s Robert?«, fragte sie.

»Immer noch gut«, lächelte er. Ein wenig verwunderlich fand er es schon, dass sie ihn auch dieses Mal wieder nach seinem Freund fragte. Eigentlich hätte sie doch froh sein müssen, nichts mehr von ihm zu hören! Er jedenfalls wäre nicht auf die Idee gekommen, ausgerechnet Sabine gegenüber die Sprache auf Robert zu bringen.

»Und … seine Freundin?«, fragte sie weiter. »Ist er noch mit ihr zusammen?«

Carl war so verblüfft, dass er zunächst nicht wusste, was er sagen sollte. Dann kam ihm der Verdacht, dass Robert vielleicht eine Freundin erfunden hatte, um sich den Umgang mit Sabine, wenn er sie denn einmal traf, zu erleichtern. »Klar«, antwortete er deshalb. »Die beiden sind ja ganz frisch verliebt. Du, Sabine, tut mir leid, aber ich muss weiter, ich habe noch ziemlich viel zu erledigen.«

Sie nickte nur, ihm schien, als sei sie noch ein wenig blasser geworden.

Carl widerstand der Versuchung, sich nach ihr umzudrehen, als er schon etliche Meter zurückgelegt hatte, aber er hätte schwören können, dass sie noch immer an derselben Stelle stand und ihm nachsah. Und mit einem Mal stieg ein merkwürdiger Verdacht in ihm auf: War Sabine am Ende gar nicht so uninteressiert an Robert, wie sie immer gesagt hatte? Aber dann hätte sie sich doch seinem Freund gegenüber anders verhalten im vergangenen Jahr!

Einige Minuten später hatte er das Haus erreicht und klingelte an Roberts Wohnung. Seine Entscheidung stand fest: Er würde über die soeben angestellten Überlegungen kein Wort verlieren, sonst fing Robert nur wieder an, erneut von Sabine zu träumen, und das Elend ging von vorne los. Das musste unbedingt vermieden werden.

»Komm rein!«, sagte Robert. »Was machst du denn für ein Gesicht? Ich dachte, wir verbringen einen schönen Abend unter Männern miteinander!«

»Das machen wir auch. Ich habe nur über etwas nachgedacht. Sag mal, hast du eine Freundin erfunden – Sabine gegenüber?«

»Bist du ihr schon wieder begegnet?« Robert lächelte sehnsüchtig. »Ich sehe sie nie mehr.«

»Das ist auch besser so!«, erklärte Carl mit Nachdruck. »Also, was ist jetzt mit der Freundin?«

»Sie heißt Amelie«, erklärte Robert verlegen. »Ich dachte, es wäre eine gute Idee, Sabine zu sagen, dass ich mich verliebt habe – damit sie sich auch wirklich sicher vor mir fühlt.«

»Das scheint geklappt zu haben«, bemerkte Carl in neutralem Tonfall. »Wohin gehen wir?«

Robert überhörte seine Frage. »Was hat sie sonst noch gesagt? Sabine, meine ich. Ihr müsst ja über mich gesprochen haben, sonst hättest du nicht nach meiner angeblichen Freundin gefragt.«

Verflixt, dachte Carl, ihm entgeht aber auch nichts, sobald es sich um Sabine dreht.

»Sie hat nur erwähnt, wie froh sie ist, dass es dir gut geht mit deiner neuen Freundin. Wir haben kaum miteinander gesprochen, Robert. Also, wohin gehen wir? Ich will mit dir nicht über Sabine reden!«

»Na gut«, seufzte Robert. »Aber eins sage ich dir, Carl: Das wird Jahre dauern, bis ich sie vergessen kann. Falls mir das überhaupt jemals gelingt.«

Als sie das Haus verließen, um ein Restaurant anzusteuern, überlegte Carl, ob es denkbar war, dass aus Sabine und Robert ein glückliches Paar wurde. Bisher hatte er sich das nicht vorstellen können, aber wie es schien, war diese Geschichte ja noch längst nicht zu Ende.

*

»Keine einzige Absage«, stellte die Baronin zufrieden fest. »Weder bei den Musikern, noch bei den

Gästen. Das ist einmalig.«

»Bis zum Wochenende kann noch viel passieren, Tante Sofia«, meinte der kleine Fürst, »freu dich lieber nicht zu früh!«

Sie lachte. »Da hast du auch wieder Recht, Chris. Aber wie es aussieht, kommt sowohl Albertina von Braun, als auch Carl zu Kallwitz. Caroline kann es einfach nicht lassen – und ich helfe ihr auch noch dabei!«

»Wobei denn?«

»Na, du weißt doch, dass sie Carl gern verheiratet sähe. Ihre neueste Traum-Schwiegertochter ist Albertina, aber Carl hat sich bisher nicht einmal bequemt, sie kennenzulernen. Caroline meinte, so desinteressiert habe er sich noch nie gezeigt.«

»Ehrlich, Tante Sofia, wenn du später einmal versuchen solltest, mir eine Frau zu suchen – ich glaube, da würde ich ziemlich sauer werden.«

»Tatsächlich? Nun, ich muss gestehen, dass ich bisher nicht einmal auf die Idee gekommen bin, so etwas zu tun.«

»Dann ist es ja gut«, ließ sich Sofias Sohn Konrad von der Tür her vernehmen. »Ich würde nämlich auch sauer werden, Mama.«

»Keine Sorge«, versicherte Sofia, »ich bin in dieser Hinsicht nicht gefährdet.«

»Aber wenn ich mit fünfunddreißig immer noch allein wäre?«, fragte Konrad. »Das würde dir doch bestimmt nicht gefallen, oder?«

»Und ich auch?«, setzte Chris-tian hinzu. Das Gedankenspiel begann ihm Spaß zu machen.

Sofia seufzte. »Ich weiß nicht, ihr beiden. Wahrscheinlich wäre es mir lieber, ihr würdet eine Familie gründen, aber ich hoffe, ich würde es schaffen, mich trotzdem nicht einzumischen.«

»Bei Chris müsstest du dich einmischen, Mama, er ist der letzte Sternberg«, sagte Konrad.

Einen Augenblick war es still, dann setzte Konrad schnell hinzu: »Entschuldige bitte, Chris, ich … ich wollte nicht …«

»Schon gut«, sagte der kleine Fürst. »Es stimmt ja, was du gesagt hast.« Aber der heitere Ausdruck war von seinem Gesicht verschwunden, und mit einer gemurmelten Entschuldigung verließ er den Salon.

»Es tut mir leid, Mama. Ich wollte ihn nicht daran erinnern, dass seine Eltern tot sind und dass

er …« Konrad brach ab. Er sah so unglücklich aus, dass Sofia Mitleid mit ihm empfand. Er hatte schneller geredet als nachgedacht

»Ich weiß«, erwiderte sie. »Und ich glaube nicht, dass Christian dir böse ist. Er vergisst den Tod seiner Eltern sowieso nicht.«

»Aber ich hätte ihn nicht in dieser Weise noch einmal daran erinnern müssen«, sagte Konrad unglücklich. »Mist, ich habe überhaupt nicht nachgedacht, die Bemerkung war schon draußen, als mir bewusst wurde, was sie bedeutet.« Sein Blick glitt zum Fenster. »Glaubst du, er geht jetzt auf den Hügel?«

»Das halte ich für sehr wahrscheinlich.«

»Dann … dann gehe ich ihm nach.«

Sofia sah ihrem Sohn verwundert nach. Konrad war mehrere Jahre lang ein Sorgenkind gewesen – er hatte die falschen Freunde gehabt, die Schule geschwänzt und war nur schwer zu kontrollieren gewesen. Doch seit einiger Zeit veränderte er sich zum Positiven. Dazu gehörte, dass er viel weniger mit seiner jüngeren Schwester stritt – und eben auch, dass er selbst merkte, wenn er einen Fehler gemacht hatte und dann bestrebt

war, diesen wieder gutzumachen. So wie jetzt.

Sie ging zum Fenster und sah ihn durch den Park eilen. Viel weiter vor ihm lief tatsächlich der kleine Fürst, begleitet von seinem treuen Boxer Togo. Lächelnd wandte sie sich ab. Christian war nicht nachtragend, das gute Einvernehmen zwischen den beiden Cousins würde schon bald wieder hergestellt sein.

*

Der kleine Fürst hatte den Hügel erreicht, auf dem der Familienfriedhof untergebracht war. Hier hatten auch die sterblichen Über-reste seiner Eltern ihre letzte Ruhe gefunden. Mit raschen Schritten lief er den Weg hinauf, ging an den zum Teil uralten Grabsteinen vorüber bis zu der steinernen Gruft, die dem Fürstenpaar und seinen direkten Nachkommen vorbehalten war. Er kam jeden Tag hierher, sofern das möglich war – und immer fand er hier seine Ruhe wieder, wenn er aufgewühlt oder erregt war. So wie jetzt.

Er war nicht böse auf Konrad, denn ihm war klar, dass sein Cousin ihn nicht hatte verletzen wollen. Ihm selbst rutschten gelegentlich auch Worte heraus, die er im nächsten Moment bereits bereute. Genauso war es bei Konrad gewesen, das hatte er ihm angesehen. Aber getroffen war er eben doch. Manchmal gelang es ihm über Stunden hinweg zu vergessen, dass er der letzte Sternberg war. Er liebte seine Tante Sofia, seinen Onkel Friedrich, Anna und Konrad. Sie waren seine neue Familie, aber sie waren auch schon Teil seiner früheren Familie gewesen. Sie gehörten zu seinem Leben, so lange er denken konnte. Dennoch überkam ihn manchmal das Gefühl, vollkommen allein und verlassen zu sein, obwohl er das in Wirklichkeit nicht war.

Er stand vor der Gruft, starrte auf die Namen seiner Eltern und fragte sich gerade, was er ihnen heute »erzählen« würde – er sprach in Gedanken immer mit ihnen, wenn er an diesem Ort war – als er hinter sich ein Geräusch hörte. Schnell drehte er sich um.

Konrad kam mit verlegenem Lächeln auf ihn zu. »Es tut mir leid, Chris«, sagte er. »Ich hoffe, du glaubst mir das. Es war eine gedankenlose Bemerkung.«

»Schon gut, ich bin dir gar nicht böse, Konny. Es ist nur …« Der kleine Fürst stockte. Erst nach einer Weile sprach er weiter, immer wieder nach Worten suchend. »Manchmal vergesse ich, was passiert ist. Ich meine, ich vergesse es nicht wirklich, aber ich denke zumindest eine Weile nicht daran. So war das vorhin – und dann hast du diesen Satz gesagt, und ich habe mich plötzlich schrecklich allein gefühlt.«

Konrad stand jetzt neben ihm. Im Gegensatz zu seiner Schwester Anna bestieg er den Hügel nicht sehr häufig, Friedhöfe waren keine Orte, an denen er sich gerne aufhielt. »Aber du bist nicht allein!«, sagte er. »Deine Eltern sind tot, aber du bist nicht allein und wirst es auch nie sein. Wir sind eine Familie, wir halten zusammen, auch wenn wir uns zwischendurch auf die Nerven gehen.«

Christian wandte den Kopf und sah Konrad an. Er hatte mit seinem Cousin viel weniger zu tun als mit Anna, aber in diesem Augenblick fühlte er sich ihm sehr verbunden. »Danke, Konny«, sagte er.

Über ihnen fing eine Amsel an zu singen. Konrad sah erstaunt nach oben, der kleine Fürst aber lächelte, er sah die Amsel als Bote seiner Eltern, die ihm auf diese Weise sagten, dass sie noch bei ihm waren, auch wenn er sie nicht mehr sehen konnte. »Lass uns gehen«, sagte er. »Ich besuche meine Eltern später noch einmal.«

Die Baronin, die die beiden Jungen einträchtig zum Schloss zu-rückkehren sah, lächelte. Sie hatte es genau so kommen sehen.

*

»Das hätten Sie eher haben können, Frau von Braun«, stellte Dr. Bertram fest, als er Albertinas Fuß noch einmal untersuchte. Er war noch ein bisschen blau, aber Albertina hatte keine Schmerzen mehr, und auch das Laufen ging jetzt wieder völlig problemlos.

»Ich weiß«, erwiderte sie. »Ich war dumm.«

»Aber Sie sind lernfähig, das ist die Hauptsache. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Kühlen Sie auch weiterhin und legen Sie den Fuß hoch, so oft Sie können.«

»Ich fahre am Wochenende weg«, gestand sie. »Da könnte es ein wenig schwierig werden mit dem Hochlegen.«

»Versuchen Sie es – und kommen Sie nicht auf die Idee, bereits ausgedehnte Wanderungen zu unternehmen.«

»Nein, nein, keine Sorge!« Sie reichte ihm verlegen die Hand. »Danke für alles«, sagte sie. »Ich weiß, dass ich eine schwierige Patientin war.«

»Nur am Anfang«, entgegnete er. »Wie sieht es denn auf Ihrer Baustelle aus?«

»Der stellvertretende Bauleiter steckt mit drin, so viel haben sie herausgefunden. Nächste Woche können wir wieder arbeiten, zum Glück. Aber wir haben mehrere Tage verloren, ich weiß gar nicht, wie wir die wieder aufholen sollen. Es war vorher schon knapp, jetzt sieht es noch schlechter aus.«

»Vielleicht haben Sie Glück und ab jetzt läuft alles reibungslos«, meinte Dr. Bertram.

»Auf jeden Fall brauchen wir mehr Leute – und ob wir die bekommen, bezweifele ich. Die Firmen sind sehr vorsichtig im Augenblick, keiner will etwas riskieren.«

»Seltsam, dass Sie sich so einen Beruf ausgesucht haben.«

»Mir gefällt er, es kam von Anfang an kein anderer in Frage.«

»Ich kann mir Sie auf einer Baustelle nicht vorstellen, muss ich gestehen.«

Sie lachte. »Sie würden mich gar nicht erkennen, glauben Sie mir.« Sie reichte ihm die Hand. »Auf Wiedersehen kann ich nicht sagen, denn ich rechne nicht damit, dass ich noch einmal hier lande – also: Leben Sie wohl, Herr Dr. Bert-ram.«

»Sie auch, Frau von Braun. Und versuchen Sie nicht mehr, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.«

»Wird mir schwerfallen, aber vielleicht klappt es, wenn ich an Sie denke!«, lachte Albertina.

Draußen vor dem Krankenhaus atmete sie tief durch. Als Nächstes kam der Ausflug nach Sternberg – wo sie allerdings wegen des Konzerts elegante Kleidung tragen musste, das war lästig. Sonst ging es auf dem Schloss nicht so steif zu, aber bei einer Veranstaltung gab es Regeln, die einzuhalten waren. Außerdem wollte sie ja ihren Eltern eine Freude bereiten.

Und danach durfte sie endlich wieder arbeiten. Sie sehnte sich direkt danach, ihren Blaumann anzuziehen, in die Stiefel zu schlüpfen und sich auf der Baustelle ans Werk zu machen. Hoffentlich, dachte sie, verschieben sie den Arbeitsbeginn nicht noch weiter – jetzt, wo ich wieder fit bin, darf es gern so schnell wie möglich losgehen!

*

»Du musst dich zusammenreißen, Sabine«, sagte Barbara Gerold nach einem nachdenklichen Blick auf ihre Freundin. »Du siehst aus wie ein Gespenst, das ist in unserem Beruf nicht so günstig. Mich hat schon jemand gefragt, ob du krank bist oder Liebeskummer hast.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Dass deine Mutter krank ist und du dir Sorgen um sie machst. Warum gehst du nicht zu Robert und erklärst ihm, was los ist?«

»Weil er eine Freundin hat.«

»Vielleicht trennt er sich von ihr – schließlich war er ziemlich lange ziemlich heftig in dich verliebt. Das kann sich ja nicht alles von heute auf morgen in Luft aufgelöst haben.«

»Von heute auf morgen vielleicht nicht, aber ich habe ihn ja immer ziemlich deutlich abblitzen lassen, und irgendwann hat es ihm dann wohl einfach gereicht. Ich komme mir so blöd vor, Babs!«

»Das ist ja auch eine unangenehme Situation. Trotzdem: Rede mit ihm, das ist der einzige Rat, den ich dir geben kann.«

»Und wenn er mich nicht will?«

Barbara verlor die Geduld. »Ich will dir mal was sagen, Biene: Ein Jahr lang beschwerst du dich über Robert, der dich mit seiner Liebe verfolgt, obwohl du nichts von ihm wissen willst, und ich habe mir alles geduldig angehört. Nun stellst du fest, dass du dich leider geirrt hast und doch etwas für ihn empfindest. Riskier endlich was! Wenn dir etwas an ihm liegt, dann bemüh dich um ihn. Tust du das nicht, hör auf, über ihn zu reden, ich bin es nämlich allmählich leid! Und ich sage dir noch etwas: Solltest du nur etwas für Robert empfinden, weil er gerade unerreichbar ist, kündige ich dir die Freundschaft!«

Sabine war so entgeistert, dass ihr im ersten Augenblick die Worte fehlten. »Du stellst mich ja hin«, brachte sie endlich heraus, »als wäre ich ein Monster. Ich habe mich doch nicht absichtlich in meinen Gefühlen geirrt.«

»Nein, das glaube ich auch nicht – aber ich nehme schon an, dass du das nicht zu schätzen weißt, was du leicht haben kannst. Hast du dagegen das Gefühl, dass etwas oder jemand unerreichbar ist, dann wird das Unerreichbare plötzlich wertvoll. Denk mal darüber nach. Das ist nämlich kein besonders netter Charakterzug.«

Das Erscheinen einer Kollegin unterbrach sie. Sabine blieb an diesem Tag einsilbig, und Barbara versuchte nicht, ihr ein weiteres Gespräch aufzudrängen. Sie nahm an, dass ihre Freundin Zeit brauchte, um sich ein paar Gedanken zu machen – und diese Zeit wollte sie ihr gern einräumen.

*

Eberhard Hagedorn, der lang-jährige Butler auf Schloss Sternberg, behielt auch an Tagen wie diesem die Übersicht, wo sich zahlreiche Gäste auf dem Schlossgelände befanden, die gekommen waren, um ein berühmtes Orchester und einige Künstler mit großen Namen zu hören. Unauffällig dirigierte er die Bediensteten, die heute von

etlichen zusätzlich angeheuerten Hilfskräften unterstützt wurden. Das Wetter war strahlend, sodass die Veranstaltung wie geplant draußen im Park stattfinden konnte. An mehreren Ständen wurden Erfrischungen und Kleinigkeiten zu essen angeboten – von dieser Möglichkeit machten die meisten Gäste Gebrauch. Wie immer bei einem solchen Anlass fand man sich mindestens zwei Stunden vor Beginn des Konzerts ein, um Bekannte und Freunde begrüßen und in Ruhe mit ihnen reden zu können.

Als Eberhard Hagedorn, etwa eine Stunde vor Beginn des Konzerts, der Küche einen kurzen Besuch abstattete, traf er die junge Köchin Marie-Luise Falkner ein wenig abgehetzt, aber glücklich an. Bei solchen Veranstaltungen war sie in ihrem Element, sie liebte die Herausforderung, und wie immer meisterte sie auch diese mit Bravour. »Die Leute reißen sich förmlich um Ihre kleinen Köstlichkeiten, Marie«, berichtete der alte Butler. »Ich bin nur gekommen, um Ihnen das zu sagen.«

Sie strahlte ihn an. »Danke, Herr Hagedorn – warten Sie nur, wenn die nächste Fuhre fertig ist. Das schlägt alles!«

Schmunzelnd verließ er die Küche wieder und warf genau in dem Moment einen Blick auf den Schlossplatz, als eine weitere Limousine vorfuhr. Ihr entstiegen

Eliane und Johannes von Braun mit ihrer Tochter Albertina. Eberhard Hagedorn sah alle drei zum ersten Mal, aber selbstverständlich hatte er sich vorher mit dem Äußeren der zu erwartenden Gäste vertraut gemacht, damit er sie auf angemessene Weise begrüßen konnte. Nicht umsonst nannte man ihn einen perfekten Butler.

Er ging ihnen entgegen, um sie in Empfang zu nehmen.

*

»Ich war wirklich lange nicht hier«, stellte Carl fest. Er hatte sich von seinen Eltern getrennt und schlenderte mit Anna und Chris-tian durch den Schlosspark.

»Woran siehst du das?«, fragte Anna erstaunt. »Hier sieht doch alles wie immer aus – oder nicht?«

»Nicht ganz, würde ich sagen. Ihr beide zum Beispiel habt euch ziemlich verändert.«

»Sehen wir erwachsener aus?«, fragte Anna hoffnungsvoll.

»Das kann man wohl sagen.«

Anna hatte eine weitere Frage stellen wollen, doch eine verspätete Limousine, die soeben den Schlossplatz erreicht hatte, erregte ihre Aufmerksamkeit. »Wer ist das denn?«, fragte sie verwundert. »Drei Leute, die wir nicht kennen, Chris.«

Auch Christian und Carl wandten sich jetzt der Limousine zu. »Kennst du die Leute, Carl?«

»Nein, nie gesehen«, antwortete Carl. Zu den drei Neuankömmlingen gehörte eine attraktive, sehr elegante junge Frau mit kurzen schwarzen Haaren.

»Herr Hagedorn scheint aber zu wissen, wer sie sind«, meinte Anna, »er …« Sie brach ab. »Wir sind ja blöd, Chris! Das muss Albertina von Braun mit ihren Eltern sein.«

»Stimmt«, gab Christian zu, »alle anderen Gäste kennen wir.«

»Albertina von Braun?«, fragte Carl. Er war zugleich zornig – auf seine Mutter, die dieses Zusammentreffen garantiert eingefädelt hatte – und verwirrt. Diese elegante junge Frau konnte nicht die fluchende, schimpfende, sich wie ein Mann gebärdende Person sein, die er auf der Baustelle beobachtet hatte, das war unmöglich! Wahrscheinlich war er einem Irrtum erlegen und hatte die Falsche beobachtet …

»Komm mit, Carl, wir begrüßen sie«, schlug Anna vor.

Er folgte ihr und Christian, seine Neugier war auf jeden Fall größer als der Zorn auf seine Mutter. Die würde sich später einiges anhören müssen, aber zuerst wollte er sich diese Albertina mal aus der Nähe ansehen!

*

Albertina fühlte sich wie immer beengt und unwohl in ihrem eleganten silbergrauen Seidenkleid und den schmalen Pumps. Ihr Fuß muckte zwar noch nicht auf, aber er würde es tun, wenn sie lange auf ihren hohen Absätzen herumlaufen musste, das war ihr klar. Nun ja, beim Konzert konnte sie sitzen und die Pumps unauffällig ausziehen – und das hatte sie auch vor.

Sie sah zwei Jugendliche auf sich zukommen, einen Jungen und ein Mädchen. Vermutlich der kleine Fürst und seine Cousine, dachte sie. Mit einem Mal freute sie sich darüber, ihre Eltern begleitet zu haben. Es war schön hier – aus weiter Ferne stiegen ein paar Kindheitserinnerungen an das Schloss und seinen wundervollen Park in ihr auf.

Erst als die beiden Teenager sie schon beinahe erreicht hatten, stellte sie fest, dass sie von einem gut aussehenden, ziemlich großen Mann etwa ihres Alters begleitet wurden, dessen Augen forschend auf sie gerichtet waren. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen, dessen war sie sicher. Sein Gesicht gefiel ihr – er sah so aus, als wüsste er, was er wollte, und die Fältchen um seine Augen verrieten, dass er gern lachte. Mit Menschen, die keinen Humor hatten, konnte sie nichts anfangen. Nur: Warum guckte er sie so an wie ein Polizist, der einem Verdächtigen auf den Grund der Seele blicken will, um seine Geheimnisse zu ergründen?

Eberhard Hagedorn, der sich eben anschicken wollte, die Gäste zu den Gastgebern zu geleiten, blieb stehen und übernahm die Vorstellung. Wie erwartet handelte es sich bei den beiden Teenagern um Anna von Kant und Christian von Sternberg. Albertina mochte die beiden auf Anhieb.

»Sie sind Carl zu Kallwitz?«, rief ihre Mutter erfreut, als sie Carls Namen hörte. »Wir haben kürzlich Ihre Eltern kennengelernt und bei der Gelegenheit auch von Ihnen gesprochen.«

»Es freut mich sehr, gnädige Frau, dass wir uns nun endlich begegnen«, erwiderte Carl.

»Das ist unsere Tochter Albertina«, erklärte Eliane.

Er sah wirklich gut aus, auch aus der Nähe, stellte Albertina fest. Und diese Augen … Sie hätte etwas darum gegeben zu wissen, was in seinem Kopf vorging. Es kam ihr so vor, als hätte er mit widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen, was sie sich jedoch nicht erklären konnte. Er kannte sie doch gar nicht!

Sein Händedruck war so fest wie ihrer, er benahm sich untadelig höflich, dennoch war etwas an ihm, das sie verunsicherte. Kannte er sie vielleicht doch von irgendwoher? Von der Baustelle womöglich? Hoffentlich nicht, dachte sie erschrocken. Bisher hatte sie noch nie Probleme gehabt, ihre beiden Leben strikt voneinander zu trennen – aber natürlich war ihr klar, dass das nicht immer so bleiben musste.

Sie war fast erleichtert, als sie ihre Mutter sagen hörte: »Da kommen ja auch Sofia und Fritz!«

Sie drehte sich um und sah ein elegantes Paar mittleren Alters näherkommen, dem ihre Eltern sie vorstellten. Danach wandten sich Sofia und Friedrich von Kant Carl zu Kallwitz zu, sodass sein forschender Blick nicht länger auf ihr ruhte. Er brachte sie durcheinander, und das gefiel ihr nicht. Sie konnte derzeit keinen Mann in ihrem Leben gebrauchen. Viel zu lange hatte es gedauert, bis sie in ihrem geliebten Beruf Fuß gefasst hatte – davon würde sie sich in den nächsten Jahren von keinem Mann abhalten lassen, mochte er noch so attraktiv sein …

Zum Glück ahnte er nichts von dem Aufruhr in ihrem Inneren, und sie hatte nicht die Absicht, ihm etwas darüber zu erzählen.

*

»Sabine!« Robert starrte die Frau seiner Träume an wie eine Erscheinung, riss sich jedoch schnell zusammen. »Was verschafft mir denn die Ehre deines Besuchs?«, fragte er und war stolz darauf, dass das sogar ein wenig kühl klang.

»Ich muss mit dir reden«, erklärte Sabine. »Geht das?«

Robert hatte schon die eilige Beteuerung auf der Zunge, dass das natürlich ginge, aber er bremste sich. »Ich habe nicht viel Zeit«, behauptete er. »Worum geht es denn?« Er musste richtig an sich halten, sie nicht in seine Wohnung zu bitten. Vorsichtshalber hielt er sich am Türrahmen fest, damit er nicht weich wurde. Ihm fiel auf, dass sie ziemlich blass und mitgenommen aussah, aber er verhärtete sein Herz gegen diese Erkenntnis. Das ging ihn nichts an!

»Um mich … äh … um uns«, stammelte Sabine.

Robert glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«, fragte er. »Uns? Du und ich, das hat es überhaupt nie gegeben – also kann es auch nicht um ›uns‹ gehen.«

»Ja, das … das stimmt.« Sie verstummte.

Seine Verwunderung wuchs. So, wie sie jetzt vor ihm stand, so kleinlaut und irgendwie bedauernswert, kannte er sie bislang gar nicht. Plötzlich verspürte er Panik. War vielleicht etwas Entsetzliches passiert, und sie brauchte einen Freund? War sie deshalb zu ihm gekommen – und er behandelte sie wie eine Fremde? Das hatte sie nicht verdient, er musste …

Noch bevor er seinen Gedankengang abgeschlossen hatte, ergriff Sabine erneut das Wort. »Also gut, dann geht es eben um mich. Könnten wir nicht … ich meine, kannst du mich nicht einen Augenblick reinlassen? Ich möchte nicht hier im Treppenhaus darüber reden.«

Roberts Unsicherheit wich. Es ging nicht um eine Katastrophe, das spürte er. Und zugleich merkte er, dass ihm anders zumute war als früher, wenn er mit Sabine zu tun gehabt hatte. Woran lag das? Hatte er endlich den nötigen Abstand gewonnen? Hatte er seine Gefühle für sie überwunden? »Nein«, antwortete er, »ich möchte dich nicht in meiner Wohnung haben. Und, wie gesagt, ich habe nicht viel Zeit. Sag also, was du sagen willst – und dann geh bitte wieder.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe es wohl verdient, dass du mich so behandelst«, erwiderte sie mit leiser Stimme. »Ich habe mich geirrt, Robert, das wollte ich dir sagen. Du bist mir überhaupt nicht gleichgültig. Du hast mich nur genervt, weil du mich so gedrängt hast, aber seit du das nicht mehr tust, merke ich erst, wie gern ich dich habe. Du fehlst mir.«

Mit allem hatte Robert gerechnet, aber nicht mit diesem Geständnis. Sie sah ihm wohl an, wie entgeistert er war, denn sie trat bereits einen Schritt zurück. »Entschuldige!«, sagte sie. »Ich … ich weiß ja, dass du in eine andere Frau verliebt bist. Ich habe meine Gefühle für dich einfach zu spät entdeckt, und ich wollte, dass du es wenigstens erfährst. Es hätte ja sein können, dass du … ich meine, dass wir …« Sie wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte, drehte sich mit einem hilflosen Achselzucken um und rannte aufschluchzend die Treppe hinunter.

Robert stand noch geschlagene zwei Minuten regungslos im Rahmen seiner Wohnungstür, bevor er wieder zum Leben erwachte. Er schloss die Tür sehr langsam und fast andächtig, dann ging er in sein Wohnzimmer, setzte sich in einen Sessel und dachte intensiv nach.

*

»Er hat sie schon mal gesehen«, raunte Anna dem kleinen Fürsten zu. »Da wette ich mit dir.«

»Aber wo?«, fragte Christian zweifelnd. »Gesagt hat er nichts davon.«

»Aber er hat so geguckt!«, erklärte Anna.

Das musste Christian zugeben: Carl hatte Albertina bei der Vorstellung angesehen, als sei er sicher, dass sie nicht diejenige war, für die sie sich ausgab. Das war schon seltsam gewesen.

Der Dirigent des Orchesters trat jetzt ans Pult, Beifall brandete auf, wenig später erklangen die ersten Töne, und alle Gespräche verstummten. Es war ein Konzert der Sonderklasse, die Musik entfaltete an diesem schönen Ort einen Zauber, dem sich niemand entziehen konnte.

Auch Carl nicht, der mit seinen Eltern schräg hinter Albertina und ihren Eltern saß – die Plätze neben ihnen waren bereits besetzt gewesen. »Gib zu, dass sie reizend ist!«, hatte seine Mutter ihm zugeflüs-tert, und er hatte ihr mit einem abwesenden Nicken geantwortet. Ja, sie war reizend. Aber wer war die Frau gewesen, die er auf der Baustelle beobachtet hatte?

Immer wieder glitten seine Augen zu Albertina hinüber. Er konnte sie im Halbprofil sehen, die weiche Linie ihres Halses, ihr rundes Kinn, die hohen Wangenknochen. Ab und zu, wenn sie den Kopf wandte, sah er auch ihre dichten Wimpern und die schmale kleine Nase. Das gibt’s doch nicht, dachte er verwirrt, ich werde mich doch nicht bei diesem Konzert in eine Frau verlieben, die zwei Gesichter hat – denn er musste ja auf der Baustelle die Richtige beobachtet haben: Seine diskreten Erkundigungen hatten schließlich ergeben, dass Albertina von Braun als einzige Frau dort arbeitete.

Die Musik hüllte ihn ein und machte sein Herz weit. Er schloss die Augen und ließ sich endlich ganz weit weg tragen von den Klängen, die den Schlosspark erfüllten. Nach dem Konzert wollte der Beifall nicht enden, und auch Carl klatschte so lange, bis das Orches-ter eine heitere Zugabe spielte, die zu diesem schönen Spätsommerabend passte. Danach aber war endgültig Schluss. Das Orchester wurde noch mit herzlichstem Applaus verabschiedet, als die ersten Limousinen bereits vom Schloss-hof rollten.

Carl und seine Eltern würden auf Sternberg übernachten, er hatte es also nicht eilig. Allerdings hätte er gerne gewusst, ob auch die Familie von Braun zu den Übernachtungsgästen gehörte, denn dann ergäbe sich ja vielleicht eine Gelegenheit, die Bekanntschaft mit Albertina unauffällig zu vertiefen …

»Kanntest du sie?«, fragte eine Stimme neben ihm.

Er schrak zusammen und entdeckte Anna und Christian neben sich.

»Wen denn?«, fragte er.

»Albertina«, erklärte der kleine Fürst. »Du hast sie so angesehen, als stimmte etwas nicht. Du hast sie vorher schon mal gesehen, oder?«

Verflixt, dachte Carl, ich muss mich besser beherrschen. Wenn man mir so deutlich ansieht, was ich denke, dann habe ich nicht aufgepasst!

»Wir erzählen es niemandem«, versicherte Anna, die ihn sehr genau beobachtet hatte.

Ihm fiel wieder ein, wie gut er immer mit Anna und Christian ausgekommen war – und dass die beiden schon einige Geheimnisse aufgedeckt hatten, ohne ihr Wissen jemals für eigene Zwecke auszunutzen. »Ja«, antwortete er daher, »ich habe sie schon einmal gesehen. Das glaube ich zumindest.«

»Wo denn?«

Carl seufzte. Am liebsten hätte er mit seinem Freund Robert über diese ganze verflixte Angelegenheit gesprochen – und zwar persönlich, nicht am Telefon. Aber Robert war nicht hier. Was sprach also dagegen, dieses Gespräch mit Anna und dem kleinen Fürsten zu führen, da sein Freund ihm nicht zur Verfügung stand?

»Auf der Baustelle«, sagte er, »und das kam so …«

Um sie herum leerte sich der Schlosspark ziemlich schnell, eine lange Reihe von Limousinen fuhr die Auffahrt hinunter. Anna und Christian lauschten aufmerksam, während Carl ihnen von dem Eindruck erzählte, den er auf der Baustelle von Albertina gewonnen hatte.

»Versteht ihr?«, fragte er schließlich. »Meine Eltern waren so be-geistert von ihr, dass ich dachte: Ich kann ja mal gucken. Und dann höre ich sie fluchen und … ich glaube, ausgespuckt hat sie auch noch.« Er musste bei der Erinnerung lachen. »Sehen konnte ich sie kaum, weil sie einen Helm trug, aber allein ihr Verhalten war für mich Anlass genug, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ich habe von diesem Besuch niemandem etwas erzählt, auch meinen Eltern nicht.«

»Und jetzt?«, fragte Anna.

»Na ja, Anna, jetzt sieht die Sache mit einem Mal völlig anders aus«, erwiderte Carl. »Da ich euch sowieso schon einen tiefen Einblick in mein Inneres gewährt habe: Ich bin völlig hingerissen von ihr – ich meine, von ihr, wie sie jetzt ist.«

»Und was willst du machen?«

»Eigentlich wollte ich noch einmal auf die Baustelle fahren, es könnte ja sein, dass ausgerechnet an dem Tag eine andere Frau dort war …«

»Das glaubst du doch nicht im Ernst, oder?«, fragte der kleine Fürst.

»Nein, eigentlich nicht«, gab Carl zu. »Ihr kennt sie auch nicht besser als ich, oder?«

»Wir haben sie heute kennengelernt, genau wie du«, erklärte Anna. »Sag ihr doch, dass du sie toll findest – dann wirst du schon sehen, wie sie reagiert.«

»Ich weiß nicht recht, Anna. Wenn du sie auf der Baustelle erlebt hättest, wüsstest du, warum ich zögere. So gut sie mir jetzt gefällt – ich hätte Probleme damit, eine Frau oder Freundin zu haben, die flucht wie ein Fuhrknecht und sich auch sonst so benimmt.«

»Hier tut sie das aber nicht«, wandte Christian ein.

»Nein, hier nicht. Aber sie hat ja offenbar noch ein zweites Leben. Ich muss in Ruhe darüber nachdenken.«

»Wir könnten herausfinden, ob sie einen Freund hat«, schlug Anna vor. »Und wenn sie keinen hat: ob sie vielleicht einen sucht.«

»Ich habe natürlich keine Ahnung, Anna, trotzdem glaube ich sicher zu wissen, was ihr herausfinden werdet.«

»Was denn?«

»Sie hat keinen Freund, und sie sucht auch keinen. Sie liebt ihren Beruf und ist froh, dass sie ihn ausüben kann.«

»Könnte sein«, gab Anna zu. »Aber sie kann sich trotzdem in dich verlieben.«

»Und wie soll ich es anstellen, damit das passiert?«

»Auf keinen Fall darfst du sie drängen«, erklärte Anna und wirkte dabei wie eine weise alte Frau.

Carl seufzte. »Ich bin ja nicht einmal sicher, ob ich mir überhaupt wünschen soll, ihr näherzukommen, Anna. Wie schon gesagt: Eine Frau mit zwei Gesichtern entspricht nicht meinem Traumbild.«

Christian wollte etwas entgegnen, doch die Baronin kam mit schnellen Schritten näher und rief: »Wo bleibt ihr denn? Wir sitzen in der Bibliothek und lassen den Abend ausklingen. Wollt ihr euch uns nicht anschließen?«

»Natürlich, Sofia!«, sagte Carl und setzte leiser hinzu: »Wir reden morgen weiter, ja? Bis dahin kann ich dann ja noch ein bisschen nachdenken über diese seltsame Geschichte.«

Sie folgten also der Baronin ins Schloss. Der erste Mensch, auf den Carls Blick fiel, als er die Bibliothek betrat, war Albertina. Er lächelte ihr zu und hoffte, dass man ihm nicht ansah, was er dabei dachte.

Sie erwiderte sein Lächeln flüchtig, dann wandte sie sich dem neben ihr sitzenden Baron Friedrich zu, ohne Carl eines weiteren Blickes zu würdigen.

*

»Caroline, ich hoffe, das ist dir eine Lehre«, sagte Graf Ernst zu Kallwitz, als er sich zu später Stunde mit seiner Frau in die Gäste-

suite zurückgezogen hatte, die sie auf Sternberg bewohnten. »Albertina hat nicht das geringste Interesse an Carl gezeigt, ich hoffe, das ist selbst dir aufgefallen.«

Sie nickte niedergeschlagen. »Ich verstehe das aber nicht, er kann doch sonst über mangelnden Erfolg bei Frauen nicht klagen, Ernst! Sie hat ihn ja nicht einmal angesehen, und ich glaube, gesprochen haben sie überhaupt nicht miteinander.«

»Nein, haben sie nicht«, bestätigte der Graf. »Aber mit allen anderen hat sie gesprochen – und zwar auf die charmante Art, die uns neulich so für sie eingenommen hat.«

Caroline zu Kallwitz nickte. »Aber ich verstehe es nicht!«, wiederholte sie.

»Ob du es verstehst oder nicht, spielt leider keine Rolle. Sei bitte so gut, diese Sache jetzt auf sich beruhen zu lassen. In Liebesangelegenheiten anderer Menschen sollte man sich nicht einmischen, das ist meine feste Überzeugung – nicht einmal, wenn sie den eigenen Sohn betreffen.«

»Aber er scheint durchaus Interesse an ihr zu haben, Ernst!«

»Was hilft ihm das, wenn dieses Interesse nicht erwidert wird? Bitte, Caro …«

»Ist ja schon gut«, seufzte sie. »Der heutige Abend hat mich entmutigt, du hättest mir gar nicht mehr ins Gewissen reden müssen, schließlich bin ich nicht blind. Dabei ist sie nicht gebunden, das weiß ich ganz sicher.«

»Caroline!«

»Ich habe ganz beiläufig danach gefragt, Ernst!«, beteuerte die Gräfin. »Wirklich, es war ganz unauffällig. Aber ihr Verhalten heute Abend war eindeutig, das sehe ich ein.«

»Na, also«, erwiderte Ernst erleichtert. »Dann lass uns bitte nicht länger darüber sprechen.«

Sie nickte stumm.

Er umarmte sie und gab ihr einen Kuss. Es tat ihm leid, dass sie so enttäuscht war, und auch er hätte ja gegen eine Verbindung zwischen Albertina und Carl nichts einzuwenden gehabt – doch erzwingen ließ sie sich natürlich nicht. »Ich gehe jetzt schlafen, kommst du auch?«

»Geh nur schon vor«, bat sie, »ich möchte noch einen Moment hier sitzen bleiben.«

Graf Ernst legte sich an diesem Abend in dem irrigen Glauben ins Bett, das Thema »Albertina und Carl« sei ein für alle Mal erledigt.

*

»Ich muss mit dir reden«, sagte Robert, nachdem Carl sich gemeldet hatte. »Störe ich?«

»Überhaupt nicht, ich bin froh, dass du anrufst. Was ist denn passiert?«

»Sabine war bei mir und hat mir eine Liebeserklärung gemacht. Was sagst du nun?«

Carl war dankbar dafür, von seinen Gedanken an Albertina abgelenkt zu werden. »Ich bin platt!«, behauptete er, obwohl er sich etwas in der Art ja schon gedacht hatte. »Erzähl!«

Die Geschichte sprudelte nur so aus Robert heraus, und Carl kam schließlich zu dem gleichen Ergebnis wie sein Freund: »Du hast dazu gelernt!«, stellte er fest. »Nun verfall bloß nicht wieder in den alten Fehler und wirf dich ihr zu Füßen – bildlich gesprochen.«

»Das Bedürfnis habe ich gar nicht«, erklärte Robert. »Ich weiß selbst nicht mehr, warum ich ihr gegenüber immer so unsicher und ohne Selbstbewusstsein war. Das ist vorbei, Carl. Ich würde mich heute nicht mehr so behandeln lassen von ihr.«

»Willst du ihr sagen, dass es gar keine Amelie gibt?«

»Mal sehen, das weiß ich noch nicht genau. Aber ich schätze mal, es wäre nicht sehr nett, sie noch lange schmoren zu lassen, oder? Ich meine, ich liebe sie ja nach wie vor, daran hat sich nichts geändert.«

»Ich würde jedenfalls nichts überstürzen«, riet Carl, und Robert versprach, diesen Rat zu beherzigen.

Nach dem Gespräch war Carl wieder hellwach und verspürte Lust auf einen nächtlichen Spaziergang durch den Park. Leise schlich er nach unten – aber er war wohl nicht leise genug gewesen, denn wie ein Schatten tauchte Eberhard Hagedorn auf.

»Ich lasse Sie hinaus, Graf Kallwitz«, sagte er.

»Sie haben mich erschreckt, Herr Hagedorn! Schlafen Sie denn nie?«

»Später«, erklärte der alte Butler mit seinem zurückhaltenden Lächeln. »Wenn alle Gäste schlafen.«

»Meinetwegen müssen Sie nicht wach bleiben«, beteuerte Carl. »Ich kann hinterher alles wieder abschließen.«

Doch darauf ließ sich Eberhard Hagedorn nicht ein. »Das ist meine Aufgabe«, erklärte er ruhig, »außerdem bin ich noch gar nicht müde. Wollen Sie in den Park? Dann mache ich die Beleuchtung noch einmal an.«

»Nein, nein, ich vertrete mir nur ein bisschen die Beine und schnappe frische Luft. Und ich bleibe bestimmt nicht lange«, versprach Carl. Er schlüpfte hinaus in die überraschend kühle Nacht. Es war doch während des Konzerts noch ganz warm gewesen! Kurz entschlossen änderte er seine Meinung und näherte sich mit raschen Schritten dem Schlosspark – wenn er sich bewegte, würde ihm schnell wieder warm werden.

Doch es erwies sich, dass der Schlosspark bei Nacht seine Tücken hatte: Nach einigen hundert Metern übersah Carl eine vorwitzige Pflanze, die sich nicht da-rauf beschränkte, an einem eigens angebrachten Klettergerüst emporzuranken, sondern eine ihrer Schlingen über den Weg geschickt hatte. In dieser Schlinge blieb Carl hängen. Bevor er begriff, was geschehen war, lag er auch schon am Boden. In seine Handflächen, mit denen er versucht hatte, den Sturz in letzter Sekunde abzufangen, bohrte sich schmerzhaft etwas Spitzes. Außerdem war er sicher, sich die Knie aufgeschlagen zu haben. Das war ihm nicht mehr passiert, seit er zur Grundschule gegangen war!

»Verdammt!«, schimpfte er. »Was habe ich hier überhaupt zu suchen?«

Ausgerechnet in diesem Augenblick verschwand die ohnehin recht schmale Mondsichel hinter einer Wolke, und es wurde stockfinster.

»Was ist denn passiert?«, fragte eine Stimme über ihm.

Sehen konnte er nur einen Schatten, aber die Stimme erkannte er natürlich: Sie gehörte Albertina. Ausgerechnet, dachte er erbittert. »Ich bin gestürzt«, erklärte er. »Mein Fuß hat sich in einer Schlinge verfangen.«

Eine Taschenlampe blinkte auf, Albertina ging in die Hocke. Überrascht sah er, dass sie Jeans, T-Shirt und Turnschuhe trug. Im Schein der Taschenlampe gelang es ihm, seinen Fuß zu befreien. »Haben Sie sich verletzt?«, fragte sie.

»Nein, nur die Knie aufgeschrammt, wie damals als Junge. Und meine Handflächen …«

»Blutig«, stellte sie fest. »Wir sollten ins Schloss zurückkehren – Herr Hagedorn verfügt bestimmt über eine erstklassige Hausapotheke.«

»Weiß er, dass Sie noch im Park sind?«

Sie lachte leise. »Nein, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich bin aus einem der Fenster gestiegen.«

»Wie bitte?«

»Das war überhaupt kein Problem, wegen des Spaliers, an dem der Wein rankt. Es ist sehr stabil, und ich kann gut klettern. Es hat mich einfach gereizt.«

Er stand auf und stellte fest, dass ihm außer den Schrammen offenbar tatsächlich nichts passiert war. »Sie sind eine Frau voller Überraschungen«, stellte er fest, während sie langsam zum Schloss zurückgingen.

Da die Mondsichel sich wieder zeigte, steckte Albertina ihre Taschenlampe ein. »Wie meinen Sie das?«, fragte sie. »Sie kennen mich doch gar nicht – und bisher habe ich noch nichts Überraschendes getan, seit ich hier bin.«

Als er nichts erwiderte, weil er nicht wusste, was er sagen sollte, fragte sie vorsichtig: »Oder sind wir uns schon einmal begegnet?«

»Ich glaube nicht«, antwortete Carl. Seine Handflächen brannten höllisch, auch das Knie, auf das er gefallen war, schmerzte – dies war also nicht der richtige Moment, um Albertina von Braun Einblicke in sein Gefühlsleben zu geben. Das musste warten.

Eberhard Hagedorn sagte nur: »Da sind Sie ja wieder«, als er sie beide sah. »Das Spalier sieht stabiler aus, als es ist, Frau von Braun.«

Albertina wurde feuerrot. »Sie wussten …?«

»Aber natürlich wusste ich das«, erwiderte er. »Ich wollte Ihnen allerdings den Spaß nicht verderben.« Er wandte sich an Carl. »Was ist passiert, Graf Kallwitz?«

Schweigend hielt Carl ihm seine Handflächen hin – und es war genauso, wie von Albertina vorhergesehen: Der perfekte Butler Eberhard Hagedorn hatte selbstverständlich eine gut sortierte Haus-apotheke, in der sich alles fand, was zur Desinfizierung und zum Verbinden von Wunden benötigt wurde.

»Danke, Herr Hagedorn – für alles«, sagte Albertina, als sie sich verabschiedeten.

»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht«, erwiderte er.

»Die wünsche ich Ihnen auch – ich gehe sofort schlafen. Gute Nacht, Graf Kallwitz.« Mit diesen Worten eilte Albertina leichtfüßig die Treppe hinauf und war im

nächsten Moment bereits verschwunden.

Carl folgte ihr langsamer, er fühlte sich zutiefst enttäuscht. Jetzt, da er sich besser fühlte, hätte er gerne noch mit ihr geredet, aber sie hatte ja ein weiteres Mal deutlich genug zum Ausdruck gebracht, dass sie kein Interesse an ihm hatte.

Unzufrieden legte er sich ins Bett, wo er sich noch lange ruhelos herumwälzte, bis er endlich in einen flachen und wenig erholsamen Schlaf fiel.

*

Es war Montagabend, als Anna dem kleinen Fürsten ihren Plan darlegte. Alle Gäste hatten Schloss Sternberg wieder verlassen, Albertina war schon am Morgen nach dem Konzert gefahren – vor allen anderen und ohne ihre Eltern. Carl hatte seine Enttäuschung nur mit Mühe verbergen können, doch das war außer Anna und Christian niemandem aufgefallen.

»Wir können zu dieser Brücke fahren«, sagte Anna, »und Albertina auf ihrer Baustelle besuchen.«

»Da lassen die uns gar nicht hin«, entgegnete Christian. »Dachtest du, da kann jeder einfach he-rumspazieren, wie es ihm gefällt?«

Anna lächelte triumphierend und zeigte ihm das Thema für einen Aufsatz, den sie schreiben musste: »Bauen für die Zukunft – wie könnte unsere Welt in fünfzig Jahren aussehen?«

»Und du glaubst, wenn du behauptest, über die Brücke schreiben zu wollen, lassen sie dich da rumlaufen?«

»Uns«, verbesserte Anna. »Und ich glaube es nicht, ich weiß es, ich habe nämlich schon gefragt und eine Genehmigung bekommen.«

»Aber ich verstehe nicht, was du da eigentlich willst! Ich meine, wir wissen doch schon, dass Albertina offenbar eine Frau mit mehreren Gesichtern ist. Willst du sie unbedingt fluchen hören?«

»Natürlich nicht«, erklärte Anna geduldig. »Aber wir könnten ein bisschen mit ihr über Carl reden.«

»Du meinst, wir finden heraus, wie sie zu ihm steht?«

»Genau«, sagte Anna, zufrieden, dass er sie endlich zu verstehen schien. »Das ist für uns nicht mehr als ein Ausflug – Herr Wiedemann fährt uns.« Per Wiedemann war Chauffeur auf Schloss Sternberg.

»Ich weiß nicht, Anna.« Chris-tian zögerte noch immer. »Das bringt doch nichts!«

»Vielleicht doch.«

Anna konnte sehr hartnäckig sein, wenn sie etwas erreichen wollte, und Christian ahnte, dass sie nicht vorhatte, aufzugeben. Wenn er sich weigerte, sie zu begleiten, würde sie allein fahren. Und immerhin war es ja möglich, dass sie etwas Interessantes in Erfahrung brachten, wenn sie auf Albertinas Baustelle fuhren.

»Na gut«, sagte er endlich. »Ich wollte immer schon mal eine Baustelle besichtigen. Warum also nicht die, auf der Albertina arbeitet?«

Anna strahlte ihn an. »Wir machen es noch diese Woche, einverstanden? Welchen Tag wollen wir nehmen?«

»Zuerst müssten wir ja wohl warten, bis sie wieder arbeiten da, oder?«

»Stimmt – danach warten wir noch einen Tag und fahren hin. Abgemacht?«

Anna streckte ihre rechte Hand aus, der kleine Fürst schlug ein.

*

»Jetzt, wo ich endlich aus meiner Dauerdepression herauskomme, versinkst du doch wohl nicht in einer?«, fragte Robert, als er Carl abends einen Besuch abstattete.

»Ich habe mich in eine unmögliche Frau verliebt«, gestand Carl. »Das heißt, sie ist nicht immer unmöglich, aber sie kann es sein.«

»Erklär mir das bitte etwas genauer«, bat Robert.

Das tat Carl bereitwillig. Danach schüttelte Robert den Kopf. »Sie hat geflucht wie ein Fuhrknecht?«

»Schlimmer«, stöhnte Carl. »Und sie macht sich nichts aus mir. Einerseits denke ich, ich sollte froh darüber sein, weil sie bestimmt nicht die Richtige für mich ist – andererseits … Ach, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«

Robert legte gemütlich die Beine auf Carls Couchtisch. »Endlich bist du einmal derjenige, der so etwas Ähnliches wie Liebeskummer hat«, stellte er zufrieden fest. »Das ganze letzte Jahr über habe ich dir die Ohren vollgejammert mit meiner Sabinegeschichte – und jetzt bist du an der Reihe. Es ist natürlich nicht nett von mir, das zu sagen, aber ich finde es wunderbar. Entschuldige, Carl.«

Carl lächelte müde. »Ist schon in Ordnung. Und was mache ich jetzt?«

»Na, du umwirbst sie nach allen Regeln der Kunst, was denn sonst? Dann siehst du erstens, ob sie sich wirklich nichts aus dir macht – und zweitens, ob ihr Benehmen so zu wünschen übrig lässt, wie du denkst.«

»Wie umwirbt man eine Frau, für die man Luft ist?«, murmelte Carl.

Roberts Lächeln hätte nicht breiter sein können. »Ich habe das die ganze Zeit gemacht, wie du weißt.«

»Dich kann ich eigentlich nur als abschreckendes Beispiel nehmen – so wie Sabine mit dir umgegangen ist.«

»Das ist ihr persönliches Problem, ich glaube nicht, dass du etwas Ähnliches zu befürchten hast. Es haben ja nicht alle Frauen das Problem, nur unerreichbare Männer lieben zu können.«

Carl nickte, war aber mit seinen Gedanken weit weg. Robert blieb noch eine halbe Stunde, bevor er sich wieder verabschiedete. Er konnte seinem Freund offenbar nicht helfen.

*

»Was ist mit dir los, Albert?«, fragte Kurt in der Frühstückspause. Er hatte Albertina am Arm genommen und beiseitegezogen, damit er in Ruhe mit ihr reden konnte. Es war Mittwoch, sie hatten an diesem Vormittag wieder angefangen zu arbeiten. Der Stress war gewaltig, alle wussten schließlich, dass sie durch die Unterbrechung dem Zeitplan hoffnungslos hinterherhinkten.

»Nichts«, antwortete Albertina abweisend.

»Wir sind Freunde«, erinnerte er sie. »Also lüg mich nicht an. Von mir aus sag, dass mich das nichts angeht, aber behaupte bitte nicht, dass nichts ist. Ich weiß es nämlich besser.«

Sie schwieg noch eine ganze Weile, bevor sie widerstrebend sagte: »Da gibt es einen Mann …« Doch nach diesen Worten verstummte sie schon wieder.

»Und weiter?«, fragte Kurt geduldig, obwohl er zu ahnen begann, warum Albertina schon den ganzen Tag so verschlossen und in sich gekehrt war.

»Er gefällt mir, aber ich will mich nicht verlieben.«

»Wieso nicht?«

Sie blitzte ihn zornig an. »Nun frag doch nicht so blöd, Kurt! Ich bin endlich da, wo ich immer hinwollte: auf einer Riesenbaustelle. Ich mache die Arbeit, die mir gefällt, zusammen mit Leuten, die mich so sein lassen, wie ich bin. Ich will nicht darauf verzichten und plötzlich die elegante Frau eines Adeligen spielen. Das hat mich nie interessiert!«

»Aber bei deinen Eltern …«, begann er, doch sie ließ ihn nicht ausreden.

»Ihnen zuliebe verkleide ich mich gelegentlich und benehme mich, wie sich eine Dame der Gesellschaft eben benimmt – aber das bin ich nicht! Die wahre Albertina ist die, die hier auf der Baustelle arbeitet! Und so wird mich kein Mann mögen, der in unseren Kreisen aufgewachsen ist, glaub mir.«

»Vielleicht liegt ihm gar nicht so viel an feinem Benehmen, wie du jetzt denkst. Hast du mit ihm da-rüber gesprochen?«

»Natürlich nicht, ich habe ihn wie Luft behandelt, damit er bloß auf keine falschen Gedanken kommt. Versteh doch …«

»Ich verstehe dich schon. Wenn du mit einem Mann glücklich werden willst, dann muss er deinen Beruf akzeptieren, sonst wird das nie was. Sag ihm das – und dann sieh, wie er reagiert.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich ihm auch gefalle«, murmelte Albertina.

»Garantiert«, sagte Kurt mit Nachdruck. »Du bist ein scharfer Feger, wenn ich das mal so sagen darf.«

Sie sah ihn verblüfft an. »Ist das dein Ernst?«

»Natürlich ist das mein Ernst. Ich habe dich schließlich schon mal ohne diesen Helm und in anderen Klamotten gesehen, wenn ich dich daran erinnern darf.«

»Ach, Kurt«, murmelte sie. »Wenn ich bloß meine beiden Leben irgendwie unter einen Hut kriegen könnte – aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll.«

»Du schaffst das schon«, lächelte er. »Irgendwann wirst du auch begreifen, dass du gar nicht so betont ruppig auftreten musst, um dich durchzusetzen, weil du dich nämlich längst durchgesetzt hast.«

»Betont ruppig?«, fragte sie. »Was meinst du damit?«

»Na, du fluchst und schimpfst, als würdest du dafür bezahlt, damit dich bloß niemand für verweichlicht hält. Aber in Wirklichkeit

musst du dich immer anstrengen, wenn du aus der Rolle fällst. Meinst du, ich hätte das nicht gemerkt?«

Sie wurde rot. »Dann muss ich aber wirklich schlecht gewesen sein«, murmelte sie. »Und ich dachte, ich hätte euch alle überzeugen können.«

»Du hast es nicht nötig, dich wie ein ungehobelter Kerl zu benehmen, Albert«, sagte er. »Du bist gut in deinem Job – letzten Endes ist es das, was zählt. Und ein guter Kumpel bist du auch. Du kannst trotzdem eine Frau bleiben, auch auf der Baustelle. Das ist jedenfalls meine Meinung.«

Eine Weile schwiegen sie, die Pause näherte sich dem Ende. »Und du meinst, die anderen würden mich trotzdem akzeptieren?«

»Mit Sicherheit!«, antwortete Kurt mit Nachdruck und stand auf.

Für den Rest des Tages blieb Albertina in sich gekehrt.

*

»Nimm Urlaub, Biene, sonst feuern die dich hier«, sagte Barbara Gerold besorgt. »Eine Einkäuferin, die das Lächeln verlernt hat, kann sich kein Geschäft leisten. Du merkst es nicht, aber alle fragen sich, ob du dabei bist, den Verstand zu verlieren. So siehst du nämlich aus.«

»Ist mir egal«, murmelte Sabine. »Außerdem glaube ich, ich habe ihn schon längst verloren.«

»Rede keinen Unsinn!«, verlangte Barbara. »Hör einmal in deinem Leben auf mich und geh nach Hause. Schlaf drei Tage, lass dich massieren, geh zur Kosmetikerin, verwöhn dich – und komm erst wieder, wenn du dich besser fühlst.«

»Also nie«, murmelte Sabine. »Ich habe Robert verloren, Babs – weil ich nicht erkannt habe, was er mir bedeutet. Wie konnte ich so blind sein?«

»Das passiert auch anderen und ist kein Grund, deshalb in Verzweiflung zu versinken. Geh jetzt – und wenn du eine längere Pause brauchst, such einen Arzt auf. So, wie du aussiehst, schreibt er dich sofort krank.«

Sabine stand tatsächlich auf. »Ist gut«, murmelte sie, »ich glaube, ich muss vor allem mal wieder schlafen. Ich habe in den letzten drei Nächten kein Auge zugetan.«

Barbara sah ihr beunruhigt nach, als sie mit hängenden Schultern und schleppenden Schritten das gemeinsame Büro verließ.

Sabine ging tatsächlich zum Arzt, der so reagierte, wie ihre Freundin es vorhergesehen hatte: Er erschrak über ihr Aussehen und schrieb sie krank. Außerdem gab er ihr ein mildes Schlafmittel, das sie sofort einnahm, als sie nach Hause kam. Danach schlief sie bis zum späten Nachmittag und fühlte sich, als sie aufwachte, zum ersten Mal seit Tagen ein wenig besser.

Sie beschloss, noch einen Spaziergang zu machen und dabei ihre Lage möglichst ruhig zu überdenken. Als sie das Haus verließ, steuerte zu ihrer nicht geringen Verwirrung Robert direkt auf sie zu. »Ich wusste nicht, ob du schon zu Hause bist«, sagte er. »Können wir reden?«

Sie hatte Angst, kein Wort he-rauszubringen, und so begnügte sie sich mit einem Nicken.

Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her, bis Robert endlich das Wort ergriff und ganz ruhig sagte: »Ich liebe dich immer noch.«

Sie blieb stehen, plötzlich bekam sie keine Luft mehr. Unwillkürlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Und … deine Freundin?«, fragte sie atemlos.

Er überging diese Frage. »Ich liebe dich immer noch, Sabine, aber wir beide müssen ganz von vorn anfangen. Ich bin nicht sicher, ob du mich wirklich magst – oder ob ich dich jetzt nur reize, weil du denkst, du hast mich verloren.«

»So ist es nicht!«, beteuerte sie. »Wirklich nicht, Robert. Ich war nicht sofort in dich verliebt, das kam erst im Laufe der Zeit – und da hatte ich mich schon so daran gewöhnt, dass du dich immer um mich bemühst und ich dich immer zurückstoße, dass ich … dass ich einfach weitergemacht habe. Erst als du dich von mir abgewandt hast, ist mir aufgegangen, dass du längst ein wichtiger Teil meines Lebens bist.«

Robert war der Ansicht, dass nun genug geredet worden war. Er zog Sabine in seine Arme und tat das, wovon er fast ein ganzes Jahr lang geträumt hatte: Er küsste sie, zärtlich und behutsam zuerst, dann immer leidenschaftlicher. Sie beantwortete seinen Kuss auf die gleiche Weise, und je länger er dauerte,

desto nebelhafter wurde Roberts Erinnerung an seine Verzweiflung in diesem zurückliegenden Jahr. Jetzt endlich waren alle Missverständnisse ausgeräumt – er liebte Sabine, sie liebte ihn, und er war am Ziel all seiner Wünsche.

Später setzten sie ihren Spaziergang eng umschlungen fort. Sie strahlten, ohne das zu ahnen, pures Glück aus. Jeder, der ihnen begegnete, dachte voller Sehnsucht an die Zeit zurück, da er selbst frisch verliebt gewesen war.

»Wer mir das noch vor Kurzem gesagt hätte«, murmelte Robert, »den hätte ich für verrückt erklärt.«

»Ich auch«, gab Sabine zu. »Aber ist es nicht schön, verrückt zu sein?«

Robert blieb stehen, um sie erneut zu küssen. »Es ist einfach wunderbar, Biene!«

*

Anna und Christian bekamen jemanden zur Seite gestellt, der sie über die Baustelle führte. Das gefiel ihnen natürlich nicht, aber es schien keine Möglichkeit zu geben, den Mann wieder loszuwerden – bis er plötzlich in einer dringenden Angelegenheit ins Büro gerufen wurde. Sie versprachen ihm, sich nicht in Gefahr zu begeben und waren heilfroh, als er verschwunden war.

Albertina hatten sie noch nicht ausfindig machen können, deshalb fragten sie schließlich einen der Arbeiter nach ihr. »Albert sucht ihr?«, fragte der mit breitem Lächeln. »Gleich da vorn, das ist sie! Ist nicht leicht zu erkennen mit ihrem Helm auf dem Kopf, was?« Mit diesen Worten eilte er weiter.

»Albert«, murmelte Anna. »So nennen sie sie hier.«

Langsam näherten sie sich der jungen Frau. Sie war mit einem Kollegen zusammen in das Stu-dium eines großen Plans vertieft. Plötzlich ertönte ein gellender Schrei, der alle zusammenfahren und hektisch nach oben blicken ließ. Was sie sahen, ließ das Blut in ihren Adern gefrieren: Einer der Kräne hatte eine Ladung Stahlrohre verloren, direkt über der Stelle, an der Albertina und ihr Kollege standen.

Entsetzt versuchten sie, sich in Sicherheit zu bringen. Es gelang ihnen jedoch nicht mehr vollständig, obwohl Albertina ihrem Kollegen geistesgegenwärtig noch einen kräftigen Schubs gab, um ihn aus der Gefahrenzone zu bringen. Er erhielt dennoch einen Schlag gegen den Kopf, sie selbst wurde noch am Bein getroffen. Man hörte weitere Schreie, und das Getöse der Stahlrohre beim Aufprall auf den Boden war unbeschreiblich. Noch lange schepperten sie, bis sie endlich zur Ruhe gekommen waren. Danach schienen auch alle anderen Geräusche auf der Baustelle verstummt zu sein.

Nach einigen Sekunden in Schockstarre rannten Anna und Christian gemeinsam mit allen anderen Augenzeugen zur Unfallstelle. Der Kranführer kletterte bereits mit bleichem Gesicht aus seiner Kabine, mehrere Männer hatten Handys am Ohr, um die Notrufnummer zu alarmieren.

Albertinas Kollege war bewusstlos, sie selbst hatte ein blutendes Bein, versuchte aber dennoch, aufzustehen, woran sie jedoch gehindert wurde. »Bleib bloß liegen, Albert, dein Bein sieht nicht gut aus.«

»Was ist mit Kurt?«

»Du hast ihn zum Glück noch geschubst, sonst hätte ihn eins der Rohre voll getroffen.«

»Albertina!«, rief Christian.

Sie wandte sich ihm zu. Ihre Augen wurden groß, als sie Anna und ihn erkannte. »Was macht ihr denn hier?«

»Wir müssen einen Aufsatz über das Bauen der Zukunft schreiben«, erklärte Anna rasch, »und wir wollten dich überraschen.«

Albertina lächelte schwach. »Da habt ihr euch einen schlechten Tag ausgesucht.« Sie wandte sich wieder dem neben ihr liegenden Mann zu. »Kurt!«, sagte sie eindringlich. »Kurt, kannst du mich hören?«

»Er ist bewusstlos«, erklärte Anna.

Albertinas Augen füllten sich mit Tränen. »Hätte ich ihn bloß kräftiger geschubst, dann wäre das nicht passiert.«

»Jetzt hör aber auf, Albert!«, mischte sich einer der Bauarbeiter ein. »Ohne dich sähe es doch noch viel schlimmer für ihn aus!«

Sie erwiderte nichts, sondern schloss die Augen. In der Ferne war bereits das Martinshorn eines nahenden Rettungswagens zu hören.

Anna und Christian wechselten einen Blick. Sie wussten, was sie tun würden.

*

Carl hörte Christians atemlosem Bericht eine knappe Minute lang zu, dann sagte er: »Ich mache mich sofort auf den Weg, Chris. Seid ihr jetzt auch in dem Krankenhaus?«

»Ja, in der Notaufnahme. Es geht ihr ziemlich schlecht, weil der Kollege, der am Kopf verletzt wurde, ein guter Freund von ihr ist. Sie macht sich Vorwürfe, dabei hat sie ihm bestimmt das Leben gerettet. Der Kranführer hat einen schweren Schock – es war nicht seine Schuld.«

»Und Albertina geht es so weit gut – ich meine, körperlich?«

»Ihr Bein ist verletzt, aber das scheint ziemlich harmlos zu sein. Aber sie weint schon wieder, Carl. Der Arzt hier ist sehr nett, er heißt Dr. Bertram. Er meinte, sie hätte auch einen Schock, der müsste behandelt werden. Er kannte Albertina schon, sie hat sich neulich mal den Fuß verletzt und war damit auch bei ihm in der Notfallambulanz.«

»Danke, Chris«, murmelte Carl. »In spätestens einer halben Stunde bin ich da.« Er sagte seiner Sekretärin Bescheid und bat sie, sämtliche Termine für diesen Tag abzusagen. Dann machte er sich auf den Weg ins Krankenhaus.

Sein Herz klopfte wie wild. Als Christian gesagt hatte, auf der Baustelle habe es einen Unfall gegeben, Albertina sei auch verletzt, hatte er kaum noch Luft bekommen, so groß war seine Angst gewesen. Jetzt versuchte er, sich wieder zu beruhigen und sich zu überlegen, wie er sein überraschendes Auftauchen im Krankenhaus erklären sollte. Dann fiel ihm ein, dass er einfach die Wahrheit sagen konnte: Christian hatte ihn angerufen – mehr gab es eigentlich nicht zu sagen.

Um ein Haar wäre sie von he-rabstürzenden Stahlrohren erschlagen worden – allein diese Vorstellung sorgte dafür, dass sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten. Und die Erkenntnis, wie schnell ein dummer Zufall ein Leben beenden konnte, brachte ihn zu dem Entschluss, ihr zu sagen, dass er sich in sie verliebt hatte. Was danach passierte, würden sie ja sehen.

Diese Entscheidung erleichterte ihn. Kurz darauf hatte er das Krankenhaus erreicht.

*

Dr. Andreas Bertram betrachtete seine Patientin nachdenklich. »Ich gewöhne mich allmählich an Sie«, sagte er. »Dabei dachte ich eigentlich, ich sähe Sie nie wieder.«

»Wäre mir bedeutend lieber gewesen«, erwiderte Albertina. »Das geht nicht gegen Sie persönlich, aber ich habe was gegen Krankenhäuser. Wie geht es Kurt Wille?«

»Er schwebt jedenfalls nicht in Lebensgefahr – und das hat er ja wohl, wenn ich den Berichten Ihrer Kollegen Glauben schenken darf, Ihnen zu verdanken.«

»Wird er wieder ganz gesund? Oder kann es sein, dass er … dass er bleibende Schäden davonträgt? Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Nach jetzigem Kenntnisstand wird er wieder ganz gesund«, erklärte der junge Arzt. »Er wird eine Weile nicht arbeiten können und sicherlich eine Narbe am Kopf behalten, aber ich bin zuversichtlich, dass mehr nicht zurückbleiben wird.«

Eine Schwester erschien. »Da ist Besuch für Frau von Braun«, sagte sie.

»Die beiden Teenager?«, fragte Dr. Bertram.

»Nein, Graf Carl zu Kallwitz, Herr Doktor.«

»Dann lasse ich Sie mit Ihrem Besucher allein, Frau von Braun.«

Albertina war so überrascht, dass sie nicht einmal protestierte.

Es war aber tatsächlich Carl zu Kallwitz, der jetzt zögernd nähertrat, nachdem Dr. Bertram hinausgegangen war. »Chris hat mich angerufen«, erklärte er. »Anna und er sind ziemlich durcheinander, und ich war wohl derjenige, der dem Geschehen am nächsten war. Wie geht es Ihnen?«

Schon wieder traten ihr Tränen in die Augen, obwohl sie heftig dagegen ankämpfte. »Nicht so toll«, schniefte sie. »Ich … ich habe Angst um meinen Kollegen, obwohl der Arzt meinte, er würde wieder ganz gesund.« Mit einer fast zornigen Bewegung fuhr sie sich mit einer Hand über die Augen. »Entschuldigen Sie, ich bin sonst nicht so wei-nerlich.«

»Sie haben einen Schock«, erklärte Carl ruhig, »kein Wunder, dass Ihre Nerven flattern. Geben Sie mir Ihre Hand, bitte.«

Sie zögerte nur kurz, dann streckte sie die rechte Hand aus, die er ergriff. Sie war eiskalt und fühlte sich feucht an. Er umschloss sie mit seinen beiden Händen und rieb sie leicht, um sie zu wärmen. »Es ist natürlich nicht der glücklichste Moment für ein Geständnis«, sagte er nach einer Weile, »andererseits haben wir ja jetzt Zeit, und niemand stört uns. Also kann ich es Ihnen eigentlich auch gleich sagen.«

»Was denn?«, fragte sie.

»Ich habe mich auf Sternberg in Sie verliebt«, gestand er. »Leider schienen Sie an mir nicht das geringste Interesse zu haben.«

»Ich will mich nicht verlieben«, murmelte sie. »Ich liebe meine Arbeit.«

Diese Reaktion fand Carl durchaus ermutigend – immerhin hatte sie ihn nicht ausgelacht und die Möglichkeit einer Beziehung zwischen ihnen von vornherein völlig ausgeschlossen. »Tja, die Arbeit ist tatsächlich ein Problem«, gestand er. »Ich bin nämlich vor einiger Zeit mal auf der Baustelle gewe-sen …« Er berichtete ihr, wie er dazu gekommen war, sie heimlich in Augenschein zu nehmen und schloss mit dem aufrichtigen Geständnis: »Ich habe mich gefragt, wieso meine Eltern Sie so reizend fanden – denn was ich gesehen habe, hat mich, wenn Sie es genau wissen wollen, abgeschreckt.«

»Sie waren da?«, fragte sie. »Und haben mich gehört und gesehen und …« Sie verstummte. »Ich habe wahrscheinlich geflucht und ausgespuckt, oder?«

»Ja, das haben Sie«, bestätigte er.

»Ich dachte, die Jungs akzeptieren mich sonst nicht. Aber Kurt … das ist der Kollege, der verletzt worden ist, wir sind befreundet… also, Kurt hat mir gesagt, dass das nicht mehr nötig ist. Ich habe mich durchgesetzt und muss jetzt nicht mehr beweisen, dass ich so hart bin wie ein Mann, wenn es um die Arbeit geht.«

»Sie meinen also, die Zeit des Fluchens und Spuckens ist vorbei?«

Sie nickte. »Ja, und seltsamerweise fällt es niemandem auf, dass ich es nicht mehr mache. Und ich habe erst nach dem Gespräch mit Kurt gemerkt, dass ich mich beim Fluchen so ähnlich verbiegen muss-te wie zu Hause bei meinen Eltern, wenn ich so tue, als gäbe es nur Albertina, die höhere Tochter.«

»Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte, oder?«

Sie nickte nachdenklich. »Aber ich liebe meine Arbeit!«, wiederholte sie dann heftig.

»Ich liebe meine auch«, erklärte Carl gelassen.

»Und ich will nicht ständig elegant gekleidet sein und so tun, als interessierten mich Klatschgeschichten aus unserem Freundes- und Bekanntenkreis.«

»Ich auch nicht. Ich trage sehr gern sportliche Kleidung.«

»Und ich möchte Kurt und seine Frau auch mal privat treffen.«

»Ich würde die beiden gern kennenlernen.«

»Ich will mich am liebsten überhaupt nicht mehr verstellen«, murmelte Albertina.

»Genau das wäre mir auch am liebsten«, versicherte Carl. »Fühlst du dich besser?«

»Ja, aber …«

»Aber was?«

Sie lächelte plötzlich. »Ach, nichts. Ich habe mich auch in dich verliebt, Carl, aber ich wollte auf keinen Fall, dass du es merkst.«

»Das ist dir leider gelungen«, seufzte er. »Ich bin sehr unglücklich von Sternberg weggefahren – weil ich dachte, ich habe keine Chance.«

»Und außerdem dachtest du, ich sei sowieso eine unmögliche Person, die du dir am besten wieder aus dem Kopf schlägst.«

»Stimmt«, gab er zu. »Aber jetzt sehe ich die Sache vollkommen anders.«

»Wie denn?«

Er gab ihr die Antwort mit einem langen innigen Kuss, in dessen Verlauf die Nachwirkungen des Schocks bei Albertina unmerklich verschwanden. Sie zitterte nicht mehr, musste nicht mehr weinen, und die Hände, mit denen sie

Carls Gesicht streichelte, waren mit einem Mal ganz warm und trocken.

Dr. Bertram, der mehrmals ins Zimmer sah, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war, lächelte in sich hinein. Seine Patientin war lernfähig, in jeder Beziehung! Und um ihre Gesundheit musste er sich offenbar auch keine Sorgen mehr machen.

»Gut gemacht!«, sagte er zu Anna und Christian, als sie aus der Cafeteria zurückkehrten. Dorthin hatte er sie geschickt, weil er fand, dass sie reichlich blass und aufgeregt aussahen.

»Was denn?«, fragte Anna.

»Sehen Sie selbst, dann wissen Sie, was ich meine«, antwortete Dr. Bertram und wies auf die offene Tür zu Albertinas Zimmer.

Neugierig traten sie näher und blieben wie angewurzelt stehen, nachdem sie einen Blick hineingeworfen hatten. Als sie sich zu Dr. Bertram umdrehten, erwiderten sie sein Lächeln.

*

»Sie kommen bald«, berichtete Christian seinen Eltern drei Wochen später, als er ihnen seinen täglichen Besuch abstattete. Es war kühler geworden, der Herbst kündigte sich an, die Bäume verloren bereits die Blätter. »Albertina, Carl, ihre Eltern, seine Eltern – und dann noch Kurt Wille mit seiner Familie und Carls Freund Robert mit seiner Freundin. Kurt Wille geht es besser, von der nächsten Woche an arbeitet er wieder. Er ist ein sehr, sehr netter Mann, wir haben ihn im Krankenhaus besucht, Anna und ich, wenn wir bei Albertina waren.«

Er machte eine kurze Pause, bevor er in Gedanken weitersprach. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie glücklich Albertinas und Carls Eltern sind, weil die beiden sich ineinander verliebt haben. Anna und ich finden es auch toll. Sie haben gesagt, wenn wir schon volljährig wären, hätten sie uns als Trauzeugen haben wollen, aber das geht ja leider noch nicht. Ja, sie wollen heiraten, vielleicht sogar noch dieses Jahr.«

Ein besonders schönes buntes Blatt löste sich von einem alten

Ahorn und segelte wie in Zeitlupe auf Christian zu. Er fing es mit der Hand auf. »Danke, dass ihr mir zugehört habt«, sagte er laut.

Sobald seine Stimme erklang, sprang Togo, der bis dahin ruhig neben ihm gelegen hatte, auf und sah ihn fragend an. Christian nickte ihm zu. »Wir gehen, Togo.« Noch einmal wandte er sich der Gruft zu, sagte leise: »Bis morgen«, dann folgte er seinem Hund, der bereits wieder einer aufregenden Spur nachjagte.

Als sie sich dem Schloss näherten, sah Christian die Limousinen der Gäste vorfahren. Zuerst stiegen Albertina und Carl aus. Carl beugte sich zu der jungen Frau hinunter und küsste sie zärtlich.

Der kleine Fürst lächelte und beschleunigte seine Schritte.

Der kleine Fürst Staffel 6 – Adelsroman

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