Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 8 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 6

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»Baron von Wegeringsfeld ist da, er möchte dir seine Aufwartung machen, Franzi«, sagte Elsbeth Lüders.

Franziska zu Randershausen hob den Blick. Sie saß am Schreibtisch und korrigierte ein Diktat ihrer Schüler. »Er ist noch da?«, fragte sie erschrocken. »Du hast ihn nicht weggeschickt?«

Elsbeth war ihre Haushälterin – und im Laufe der Zeit ihre Freundin geworden. Franziska hatte ihre Mutter bereits verloren, als sie noch ein Kind gewesen war: Bereits zu dieser Zeit hatte Elsbeth als Haushälterin für die Familie gearbeitet.

»Doch, habe ich«, seufzte Elsbeth. »Ich wollte nur mal sehen, wie du reagierst. Ich kann nicht ständig alle Leute wegschicken, Franzi, das weißt du. Irgendwann müssen wir auch mal jemanden hereinlassen.«

»Nein, müssen wir nicht!«, erklärte Franziska eigensinnig.

Kein Wunder, dass all ihre Schülerinnen und Schüler für sie schwärmen, dachte Elsbeth nicht zum ersten Mal. Die junge Frau sah bezaubernd aus mit ihren funkelnden hellen Augen, der frechen Stupsnase und dem üppigen Mund. Eine dichte braune Lockenmähne umrahmte ihre feinen Gesichtszüge. Von ihrer Figur freilich war nichts zu sehen, denn sie trug mehrere dicke Pullover übereinander und hatte sich außerdem noch in eine Decke gewickelt: Obwohl draußen frühlingshafte Temperaturen herrschten, war es im Inneren des alten Gutshauses noch immer kalt. Zwar hatten sie die Fenster geöffnet, um die warme Luft hereinzulassen, aber es schien unendlich lange zu dauern, bis die dicken Mauern etwas von der Wärme annahmen. Sie hatten auch während des strengen, langen Winters nur einen Raum geheizt, alles andere wäre viel zu teuer gewesen.

Es war ihr erster Winter im Gutshaus gewesen – der erste seit mehreren Jahren. Franziskas Vater Johannes hatte nicht lange nach dem Tod ihrer Mutter ein zweites Mal geheiratet und mit Nora, seiner neuen Frau, noch einen Sohn bekommen. Obwohl sich Franziska sowohl mit Nora als auch mit ihrem Halbbruder Alexis recht gut verstand, war sie sich in der neuen Familie ihres Vaters wie eine Außenseiterin vorgekommen, und so war sie direkt nach dem Abitur ausgezogen.

Wenig später hatte Nora bei Johannes durchsetzen können, dass auch die Familie das alte Gutshaus verließ und in ein großzügiges Penthouse in der Stadt zog. Johannes hing an dem Haus, das von seinem Urgroßvater erbaut worden war, aber Nora hatte »den alten Kasten« von Anfang an nicht gemocht und so lange gedrängt, bis Franziskas Vater schließlich bereit gewesen war, mit ihr und Alexis umzuziehen. Er war dann nur noch gelegentlich hier gewesen, bis er vor einem Dreivierteljahr an einem Herzinfarkt gestorben war.

Das Haus hatte er seiner Tochter aus erster Ehe schon vor längerer Zeit überschrieben, und Franziska hatte immer gewusst, dass sie wieder hierherziehen würde. Aber ihr war nicht klar gewesen, wie viel Geld ihr Vater Jahr für Jahr für den Unterhalt des alten Gemäuers hatte aufwenden müssen, nur damit es nicht völlig in sich zusammenfiel. Er hatte nur noch das Nötigste machen lassen, doch selbst das musste ihn Unsummen gekostet haben.

Sein großes Vermögen indes war vollständig an seine Frau und seinen Sohn gegangen. Manchmal kam Franziska die Frage in den Sinn, warum er ihr nicht wenigstens einen Teil des Geldes vererbt hatte, denn er musste doch gewusst haben, dass sie von ihrem Gehalt als Lehrerin das Guthaus nicht würde erhalten können. Aber sie schob diese Gedanken immer schnell beiseite, weil sie sich undankbar vorkam. Er hatte sie geliebt und war davon ausgegangen, dass sie es auch ohne sein Geld schaffen würde, und so war sie fest entschlossen, das Haus gegen alle Widerstände zu halten.

Und dann war dieser unglaublich strenge Winter gekommen, in dem es so manchen Abend gegeben hatte, an dem sie dem Aufgeben näher gewesen war als dem Durchhalten. Das Haus war ein Fass ohne Boden. Hatte sie irgendwo eine Lücke gestopft, tat sich an einer anderen Stelle bereits die nächste auf. Ohne die treue Elsbeth an ihrer Seite, das stand fest, hätte sie jedenfalls schon längst aufgegeben.

»Du kannst nicht immer alle Leute wegschicken, Franzi!«, wiederholte die Haushälterin und riss Franziska damit aus ihren Gedanken. »Die wissen doch sowieso, wie es hier aussieht, mach dir da bloß keine Illusionen.«

Franziska stand auf und schälte sich aus der dicken Wolldecke. »Lass uns ein bisschen nach draußen in die Sonne gehen«, sagte sie. »Ich bin völlig steif vor Kälte.« Sie warf einen Blick auf die alte Puppe, die früher immer auf ihrem Schreibtisch gesessen hatte – ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem sechsten Geburtstag, seitdem war die Puppe so etwas wie ihr Talisman geworden. Aber seit seinem Tod saß sie im Regal, denn noch immer bekam Franziska einen Kloß im Hals, wenn ihr Blick auf sie fiel. »Hallo, Mia«, murmelte sie.

»Arme Puppe, der ist auch kalt«, stellte Elsbeth fest und fuhr fort: »Ich habe dir schon so oft gesagt, du sollst die Arbeiten deiner Schüler draußen korrigieren.« Elsbeth war eine hübsche Frau in den Vierzigern, mit einem offenen, gutmütigen Gesicht und starken Händen, die ordentlich zupacken konnten. Sie war bis zum Schluss Johannes zu Randershausens Haushälterin gewesen, gegen den Widerstand von Nora hatte er an ihr festgehalten. Aber vermacht hatte er ihr nichts – und das war etwas, was Franziska geradezu kränkte. Ihr Vater hatte Elsbeth sehr geschätzt, sie konnte nicht verstehen, dass er sie in seinem Testament nicht bedacht hatte. Aber nun war es zu spät, um ihn danach zu fragen – und Elsbeth hatte die Angelegenheit mit keinem Wort erwähnt.

»Wenn ich draußen sitze, können alle sehen, dass ich da bin, also kann ich Besuch nicht wegschicken – wie oft habe ich dir das schon erklärt, Elsbeth?«, seufzte Franziska.

Sie traten vor die Tür, und die Wärme traf sie wie ein Schlag. »Das ist ja beinahe wie Sommer, Elsbeth.«

»Ich weiß. Zieh deine Pullover aus und wärm dich mal richtig auf. Ich habe mir schon überlegt, ob wir nicht hinter dem Haus ein sonniges Plätzchen finden können, sodass du nicht sofort zu sehen wärst, wenn mal wieder Besuch käme«, erwiderte Elsbeth. »Du wirst dir nämlich auf Dauer ernsthafte Krankheiten holen in dem Eishaus da drin.«

»Du nicht?«

»Nein, ich nicht, weil ich praktisch immer in Bewegung bin. Aber eine Schreibtischtäterin wie du, das ist etwas anderes.«

Sie holten sich zwei Stühle und setzten sich direkt vor die Haustür, die Gesichter der Sonne zugewandt. »Das ist wundervoll«, murmelte Franziska. »Wenn ich eine Weile hier sitze, wird mir vielleicht doch noch einmal warm. Eben habe ich nämlich gedacht, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, wie das geht: schwitzen. Es kommt mir so vor, als hätte ich in den letzten Monaten nur gefroren, Elsbeth.«

»Kommt dir nicht nur so vor«, brummte die Haushälterin.

Sie wechselten einen kurzen Blick, dann lachten sie beide, doch Elsbeth wurde rasch wieder ernst.

»Einen zweiten Winter überstehen wir hier nicht, Franzi«, sagte sie ruhig. »Das ist dir hoffentlich klar?«

»Ich versuche, nicht daran zu denken«, gestand Franziska.

»Das wirst du aber müssen. Du hast nicht die Mittel deines Vaters, um ständig beliebig viel Geld in dieses Haus zu stecken, wie er es getan hat.«

»Das weiß ich.«

»Und es ist dem Haus natürlich auch nicht gut bekommen, dass es in den letzten Jahren praktisch nicht bewohnt war, weil deine Stiefmutter sich geweigert hat, auch nur ein paar Tage hier zu verbringen.«

»Ja, das ist mir auch klar. Das Dach, die Heizung, die Fenster …«

»Und noch einiges mehr. Du musst darüber nachdenken, das Haus mitsamt dem Grundstück zu verkaufen. Du würdest viel Geld dafür bekommen, weil das Grundstück wertvoll ist, und dann müsstest du dir um Geld nie wieder Sorgen machen.«

Franziska sah die Ältere nachdenklich an. »Glaubst du, dass mein Vater das gewollt hätte, Elsbeth?«

»Ehrlich gesagt, diese Frage habe ich mir seit seinem Tod schon oft gestellt. Er hat das Haus geliebt, das wissen wir beide. Aber wenn er gewollt hätte, dass du es behältst, hätte er dich mit den notwendigen Mitteln ausstatten müssen, nicht wahr?«

»Es ist ja nicht so, dass ich nichts von ihm bekommen hätte«, murmelte Franziska. »Er hat mir immer was gegeben, wenn wir uns gesehen haben, Elsbeth.«

»Ja, mir auch«, bemerkte die Haushälterin trocken.

Überrascht sah Franziska sie an. »Das hast du mir ja noch nie erzählt.«

»Ich habe nach einer passenden Gelegenheit gesucht. Weißt du, was ich glaube? Er musste das heimlich machen, weil es Nora nicht gefallen hätte. Die wollte alles für ihren Sohn.«

»Das glaubst du?«

»Ja, das glaube ich. Wir waren immer allein, wenn dein Vater mir Geld gegeben hat – und er hat immer leise gesprochen und mich gedrängt, es sofort einzustecken. Ganz so, als hätte er Angst, wir würden beide erwischt. Ich meine, das ist doch verrückt, oder? Schließlich war es sein Geld. Nora Müller war vollkommen mittellos, als er sie geheiratet hat.«

»Ich weiß nicht, Elsbeth – aber ich glaube, du irrst dich in ihr.«

»Oh, ich werfe ihr nichts vor, sie hat deinen Vater aufrichtig gern gehabt, die beiden sind gut miteinander ausgekommen. Aber sie weiß, wie es ist, wenn man nichts hat, und dieses Schicksal möchte sie ihrem Sohn ersparen, das kann ich durchaus nachvollziehen. Und dass sie mich gerne aus dem Haus haben wollte, verstehe ich auch. Ich kannte ja noch deine Mutter, und daran wollte sie nicht ständig erinnert werden. Das verstehe ich gut, wirklich.«

»Aber?«, fragte Franziska.

Elsbeth zögerte kurz, dann zuckte sie mit den Schultern. »Nichts aber«, erklärte sie. »Vielleicht hat dein Vater gemeint, er kann dir heimlich so viel Geld zustecken, dass es für den Erhalt des Hauses reicht, aber dann ist er von diesem Herzinfarkt überrascht worden. Er wollte vermutlich nicht, dass du das Haus verkaufst, aber du wirst es trotzdem tun müssen, wenn du dich nicht vollkommen ruinieren willst – und das ist, meiner Meinung nach, kein altes Gemäuer wert, auch wenn man mit ganzem Herzen daran hängt.«

»Du hängst doch auch daran.«

»Ja, tue ich«, gab Elsbeth zu. Sie knöpfte ihre Strickjacke auf und streckte die Beine von sich, dann wandte sie ihr Gesicht wieder der Sonne zu. »Aber ich bin auch Realistin, und als solche sage ich dir: Noch so ein Winter, und wir beide sind am Ende. Hast du überhaupt noch etwas Geld in Reserve?«

»Etwas, ja.«

»Ich auch«, stellte Elsbeth fest. »Etwas, nicht viel. Kann ja sein, dass wir während des Sommers nichts zusätzlich ausgeben müssen, aber eigentlich sollten die Fenster ausgetauscht und die Isolierung erneuert werden – vom Dach ganz zu schweigen.«

»Ich habe mir das alles auch schon tausend Mal gesagt, Elsbeth, aber alles in mir wehrt sich dagegen.«

»Ich weiß, deshalb sage ich es dir, weil es nämlich sonst niemand tut.«

Sie hörten, dass sich ein Auto näherte und sprangen hastig auf, nahmen die Stühle und verschwanden im Haus. Doch bevor sie die Tür schloss, erkannte Franziska das Auto und stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Es ist Alexis«, sagte sie. »Kein Grund zur Aufregung.«

»Ich gehe dann mal in die Küche und koche einen Tee. Ihr könnt ja vielleicht draußen sitzen bleiben.«

Franziska nickte und stellte die Stühle wieder vor die Tür.

Im nächsten Augenblick fuhr ihr jüngerer Halbbruder vor. Er brems­te scharf und sprang dann über die geschlossene Tür seines Sportwagen-Cabrios, das nagelneu war, wie Franziska feststellte. Sie spürte Ärger in sich aufwallen, drängte diesen aber beiseite. Alexis war gerade zwanzig Jahre alt geworden, da gehörte Angeben noch dazu. Sie selbst war sicherlich auch nicht besser gewesen in dem Alter, und sie wollte ihn auf keinen Fall darum beneiden, dass er im Gegensatz zu ihr keine Geldsorgen hatte.

»Na, große Schwester?«, lächelte er, als er sich zu ihr beugte und sie auf beide Wangen küsste. Dann ließ er sich auf den freien Stuhl fallen. »Bist du aus der Eiseskälte im Inneren geflohen?«

»Ja, bin ich«, gab Franziska zu, während sie ihn verstohlen musterte. Alexis ähnelte seiner Mutter Nora: Er war ein großer Blonder, schlank, mit ebenmäßigem Gesicht und schönen blauen Augen, die freilich nie verrieten, was er dachte. Er sah zufrieden mit sich und der Welt aus, und er hatte sich nicht nur den Wagen gekauft, sondern auch eine teure Uhr, stellte sie fest – und die Garderobe, die er trug, war auch nicht billig gewesen. Unauffällig elegant, aber exklusiv. Erneut muss­te sie sich gegen aufkommende Bitterkeit wehren.

»Dann verkauf mir den alten Kas­ten«, sagte er beinahe beiläufig.

»Wie bitte?«, fragte Franziska verblüfft. »Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, oder? Nora und du, ihr konntet ihn doch noch nie leiden.«

»Stimmt«, gab er freimütig zu, »aber das heißt ja nicht, dass ich blind bin. Der Grund und Boden hier ist gut, man könnte eine Menge daraus machen.«

»Aha. Und was zum Beispiel?«

»Weiß ich nicht, ich habe bisher nicht darüber nachgedacht, weil ich dachte, du gibst das Gut sowieso nicht her. Aber vielleicht änderst du ja deine Meinung. Sollte das so sein, bin ich jedenfalls interessiert.«

In Franziskas Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. »Wenn ich es an dich verkaufte, bliebe es immerhin in der Familie«, murmelte sie.

Er wandte sich ihr zu. »Ist das wichtig für dich?«

»Frag nicht so dumm, Alexis, natürlich ist das wichtig, das weißt du doch. Das Haus wurde …«

» … von unserem Urgroßvater erbaut, ja, ich weiß.« Seine Stimme klang ungeduldig. »Du hast also tatsächlich schon daran gedacht zu verkaufen?«

»Nicht richtig, aber ich schätze mal, ich kann es auf Dauer nicht halten«, gestand sie. »Es müsste von Grund auf renoviert werden, und dazu fehlen mir die Mittel.« Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Es sei denn, du würdest sie mir vorstrecken.«

Er sah sie erstaunt an. »Was ist das denn für eine Idee?«

»Gar keine – der Gedanke ist mir eben erst gekommen. Natürlich wird mir keine Bank der Welt das erforderliche Kapital für eine Renovierung leihen – so lange kann ich ja gar nicht leben, um die Schulden wieder abzutragen.«

Alexis fing an zu lachen. »Und ich soll das tun, was jede Bank ablehnen würde? Das kann nicht dein Ernst sein, Franzi.«

»Du bist mein Bruder, und dieses ist der Stammsitz unserer Familie.«

»Das stimmt, aber ich will mich dafür nicht ruinieren«, entgegnete er. »Außerdem ist mein Verhältnis zu diesem Haus ein ganz anderes als deins. Ich habe nur ein paar Jahre hier verbracht, und die meiste Zeit habe ich mir gewünscht, woanders zu sein. Ich war froh, als meine Mutter es geschafft hat, Papa zu einem Umzug zu überreden, das kannst du mir glauben.«

»Du würdest es also verkaufen«, stellte sie fest.

Er wollte spontan antworten, tat es aber nicht. »Keine Ahnung«, sagte er schließlich ausweichend. »Ist ja alles nur Gedankenspielerei. Aber interessiert bin ich, das meine ich ernst.«

Ihr Gespräch wurde von Elsbeth unterbrochen, die den Tee brachte. Alexis und sie siezten sich, er hatte irgendwann gesagt, er wolle von ihr nicht mehr geduzt werden, und er ließ auch nie einen Zweifel daran, wie unmöglich er es von seiner Halbschwester fand, dass sie sich »mit einer Angestellten« duzte. Franziska ging auf entsprechende Äußerungen gar nicht mehr ein.

Elsbeth verschwand gleich wieder im Haus, und kaum eine Viertelstunde später verabschiedete sich Alexis wieder. Er sprang erneut wieder über die geschlossene Tür des Cabrios, ließ den Motor an und fuhr mit Vollgas vom Hof.

»Er ist und bleibt ein Kindskopf, Elsbeth«, stellte Franziska fest, als Elsbeth wieder auftauchte und sich neben sie setzte.

»Was wollte er denn?«, fragte sie, ohne auf Franziskas Worte einzugehen.

»Er ist daran interessiert, das Gut zu kaufen, weil das Land wertvoll ist«, erklärte Franziska.

Elsbeth verschluckte sich und fing an zu husten. »Hat er das gesagt?«, krächzte sie.

»Ja, das hat er. Ich habe ihn gefragt, ob er mir nicht Geld für die Sanierung leihen will, aber den Gedanken schien er abwegig zu finden.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Ich habe ja nicht ernsthaft gefragt – die Idee schoss mir nur so durch den Kopf, und da habe ich sie einfach mal ausgesprochen.«

»Wirst du ihm das Gut verkaufen?«

»Im Augenblick will ich ans Verkaufen überhaupt noch nicht denken, Elsbeth. Aber wenn ich es wirklich tun muss, dann doch besser an Alexis als an einen Fremden, oder?«

Elsbeth blieb ihr die Antwort schuldig, doch das fiel Franziska nicht einmal auf. Die Sonne machte sie schläfrig, und sie wollte nicht mehr über schwierige Entscheidungen nachdenken. Ein bisschen Zeit, fand sie, konnte sie sich damit durchaus noch lassen.

*

»Ich kenne all meine neuen Nachbarn, nur Frau zu Randershausen noch nicht. Sie scheint ständig unterwegs zu sein«, erzählte Lucius Graf von Rethmann seinem Onkel Ulrich von Rethmann, der ihm an diesem sonnigen Frühlingstag einen Besuch abstattete. Lucius hatte ein charmantes altes Haus auf dem Land gekauft, mit einem weitläufigen Grundstück dazu. Er fühlte sich sehr wohl in der neuen Umgebung. Sein Onkel war an diesem Kauf nicht ganz unschuldig, denn er hatte das Haus ausfindig gemacht. Lucius, der mit Antiquitäten handelte, wollte das Haus gelegentlich auch benutzen, um besonders schöne alte Stücke einem ausgesuchten Publikum zu präsentieren, bevor er sie in seinem Geschäft zum Verkauf anbot.

Ulrich war der jüngste Bruder von Lucius’ Vater, einer, der »aus der Art geschlagen war«, wie die Familie das nannte. Aber Ulrich fühlte sich als schwarzes Schaf sehr wohl, er pfiff auf Konventionen und lebte sein Leben, wie es ihm gefiel. Schon früh hatte er die ganze Welt bereist und war schließlich, um viele Erfahrungen reicher, nach Deutschland zurückgekehrt. Er hatte sich selbst ein bescheidenes Haus gebaut auf einem Grundstück, das er geerbt hatte. Dort lebte er als Selbstversorger, veröffentlichte ab und zu einen Kriminalroman und war mit seinem Leben sehr zufrieden. Er hatte alles, was er brauchte – die Welt des Adels und der feinen Empfänge mied er. Nur selten tauchte er bei Familienfeiern auf, und bei diesen Gelegenheiten unterhielt er sich hauptsächlich mit Lucius. Die beiden Männer mochten einander, und Lucius sah nicht ein, warum er auf die Freundschaft zu diesem klugen und ungewöhnlichen Mann verzichten sollte.

»Das dürfte dir auch schwerfallen«, stellte Ulrich fest. »Sie lässt niemanden herein, seit sie wieder auf dem Gut wohnt.«

Es wunderte Lucius nicht, dass sein Onkel über solche Informationen verfügte: Er verkehrte zwar nicht mehr mit Leuten seines Standes, dafür aber mit zahlreichen Bauern und Handwerkern der Umgebung. Es gab niemanden, der besser informiert war als er. »Und warum nicht?«, fragte er.

»Weil ihr das Haus über dem Kopf zusammenfällt«, erklärte Ulrich gelassen. »Hast du die Geschichte etwa noch nicht gehört?«

»Nein«, erklärte Lucius. »Was für eine Geschichte denn?«

»Ihr Vater hat beinahe sein gesamtes Vermögen der zweiten Frau und dem Sohn aus zweiter Ehe vermacht – das Haus hatte er seiner Tochter schon vorher überschrieben. Jetzt sitzt sie da und weiß nicht, wie sie es halten soll. Sie wird über kurz oder lang verkaufen, darin sind sich alle einig.«

»Kennst du sie?«

»Nicht persönlich«, erklärte Ulrich. »Ich gestehe aber, dass ich mich für den Fall interessiere, obwohl sie eine Adelige ist – aber sie scheint zu den Ausnahmen zu gehören, so wie du und ich.«

»Du meinst, sie ist sympathisch, trotz ihres Standes?«

Ulrichs Augen blitzten, als er nickte. Er war schwarzhaarig wie Lucius, sie hatten auch die gleichen dunklen Augen. Aber anders als Lucius, der groß und schlank war, hatte sein Onkel eine breite, eher untersetzte Figur. Für einen Grafen hielt ihn niemand, der ihn zum ers­ten Mal sah – und er tat alles dafür, dass die Leute, mit denen er umging, möglichst spät oder sogar nie von seinem Titel erfuhren.

»Wie kommst du darauf, dass sie nett ist, Onkel Uli?«

»Ach, ich höre mich halt hier und da um«, erklärte der Ältere ausweichend. »Und ich muss sagen, die Geschichte beschäftigt mich. Man fragt sich doch, was der alte Randershausen sich dabei gedacht hat, seiner Tochter das Gut zu überschreiben, sie dann aber praktisch mittellos zu lassen.«

»Und wovon lebt sie?«

»Sie ist Grundschullehrerin – sehr beliebt bei den Kindern, sehr fleißig und gewissenhaft, wie man hört. Aber natürlich kann sie von ihrem Lehrerinnengehalt das Gutshaus nicht sanieren.«

»Lebt sie da ganz allein?«

»Mit ihrer Haushälterin, hörte ich.«

Lucius sah seinen Onkel neugierig an. »Bist du schon mal dort gewesen?«

»Als ich dich das letzte Mal besucht habe, habe ich mir das Haus mal aus der Ferne angesehen, mehr nicht.«

»Dann hilf mir, sie kennenzulernen!«, forderte Lucius. »Du hast mich richtig neugierig gemacht, Onkel Uli.«

»Sie werden vielleicht bald Hilfe brauchen, die beiden Damen«, erklärte Ulrich. »Hier bei euch gibt es doch diese Wildschweinrotte …«

»Allerdings!«, rief Lucius. »Wenn mein Grundstück nicht durch massive Mauern gesichert wäre, hätte ich auch schon Ärger gehabt, schätze ich.« Er brach ab. »Du meinst, die Wildschweine könnten sich auf den Gutshof verirren?«

»Möglich wäre es jedenfalls. Aber selbst die Bedrohung würde uns einen Grund liefern, dort vorzusprechen und zu fragen, ob wir ihnen helfen sollen, ihren defekten Zaun wieder dichtzumachen.«

»Du hast schon darüber nachgedacht, bevor ich das Gespräch darauf gebracht habe.«

Ulrich nickte. »Wie gesagt, ich interessiere mich für die Geschichte dieser seltsamen Erbschaft.«

»Was ist daran seltsam?«

Ulrich streifte seinen Neffen mit einem langen Blick. »Johannes zu Randershausen liebte das alte Gut. Er hat es deshalb seiner Tochter aus erster Ehe vermacht. Und dann gibt er ihr nicht die Mittel in die Hand, das Gut zu erhalten? Für mich

passt das nicht zusammen, Junge.«

»War er geschieden?«

»Nein, Witwer. Seine erste Frau ist schon vor langer Zeit gestorben, und wie man hört, war auch seine zweite Ehe glücklich.«

»Dann ist es doch verständlich, dass er seine zweite Frau und den Sohn absichern wollte – oder nicht?«

»Sicher. Aber er war ziemlich reich, Lucius. Er hätte ohne Probleme auch noch seine Tochter absichern können.«

»Und was willst du damit sagen, Onkel Uli?«

»Gar nichts. Ich habe dir nur erzählt, warum ich die Sache seltsam finde. Da ich nichts weiter weiß, kann ich noch keine Schlussfolgerungen ziehen.«

»Aber du hast doch einen Verdacht. Bitte, sag ihn mir!«

Doch Ulrich schüttelte den Kopf. »An Klatsch und Tratsch beteilige ich mich nicht. Aber wenn du deine Nachbarin kennenlernen willst, können wir beide ja in den nächs­ten Tagen mal unser Glück versuchen.«

Lucius willigte ein, und er machte keinen Versuch mehr, seinen Onkel zu weiteren Auskünften zu drängen. Das war aussichtslos und würde nur für Verstimmungen sorgen, die er ihnen beiden gern ersparen wollte.

So trennten sie sich eine Stunde später in bestem Einvernehmen und mit einer Verabredung für das kommende Wochenende.

*

»Herr zu Randerhausen ist da, Herr von Hoyningen.« Iris Aldekamp hatte die Stimme gesenkt, als sie ihrem Chef diese Ankündigung machte.

Der Notar Dr. Robert von Hoyningen zuckte kaum merklich zusammen, seiner Sekretärin entging diese Reaktion nicht. »Sagen Sie, ich bin in einer Besprechung, Frau Aldekamp.«

»Das habe ich schon, aber er …«

Die Tür wurde geöffnet und Alexis zu Randershausen erschien. »Besprechung, soso«, bemerkte er, während er seinen Blick im Zimmer umhergleiten ließ. »Lassen Sie uns allein, Frau Aldekamp, Ihr Chef hat jetzt nämlich eine Besprechung – mit mir!«

Iris Aldekamp warf dem Notar einen unsicheren Blick zu. Er nickte, und so zog sie sich zurück.

Alexis ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Was soll das?«, fragte er wütend. »Sie haben für mich jederzeit zu sprechen zu sein, und das wissen Sie auch.«

»Was wollen Sie noch, Herr zu Randershausen?«, fragte Robert von Hoyningen. Seine Stimme klang belegt, die Augen hinter der dicken Brille zuckten unruhig. Er war ein dicker kleiner Mann mit beginnender Glatze und weißer Haut. Ein Mann, den die meisten Frauen übersahen – bis sie erfuhren, wie erfolgreich im Beruf er war und wie viel er verdiente. Sobald sie im Besitz dieser Informationen waren, änderte sich ihr Verhalten ihm gegenüber schlagartig. Nur war bisher keine seiner »Beziehungen« von Dauer gewesen, obwohl ihn jede einzelne ein kleines Vermögen gekostet hatte.

»Sie wissen genau, was ich will – und Sie wissen auch, dass Sie es mir beschaffen werden«, erklärte Alexis unbekümmert. »Es hat schon einmal wunderbar geklappt, es wird auch beim zweiten Mal wunderbar klappen. Sie und ich werden noch viel reicher werden, und das ist es doch, was wir wollen, oder?«

Der Notar schluckte. »Mir reicht, was ich habe«, sagte er. »Und ich möchte es gern dabei belassen.«

Alexis’ Augen wurden schmal, als er sich vorbeugte und ihn fixierte. »Was soll das denn heißen?«, fragte er mit scharfer Stimme. »Los, sagen Sie es: Was soll das heißen?«

»Ich möchte mich an solchen … solchen Dingen nicht mehr beteiligen. Bitte, suchen Sie sich jemanden anders, Herr zu Randershausen.«

Alexis’ Hand schoss nach vorn und legte sich mit festem Griff auf den Arm des Notars. Seine schönen blauen Augen glitzerten gefährlich. »Ich denke gar nicht daran«, erklärte er. »Außerdem kann ich weitere Mitwisser nicht gebrauchen. Sie und ich, das reicht. Im Grunde genommen ist es schon einer zu viel, aber das lässt sich ja nun einmal nicht ändern. Also hören Sie auf, so einen Unsinn zu reden. Wir machen weiter – und zwar so lange, bis ICH genug habe. Was SIE wollen, spielt dabei leider keine Rolle. Haben wir uns verstanden?«

»Bitte, ich habe keine Nerven für …«

Alexis sprang auf und wischte dieses Argument weg, bevor es ganz ausgesprochen worden war. »Sie lernen das schon, mein Lieber. Das erste Mal ist immer am schwers­ten, aber wenn sich erst eine gewisse Routine einstellt …«

Im Nacken des Notars hatte sich Schweiß angesammelt, der ihm jetzt in den Kragen seines blütenweißen gestärkten Hemdes lief. »Mein Magen«, stammelte er, »ich habe einen nervösen Magen. Ich möchte das nicht mehr machen, es raubt mir die Ruhe. Schlafen kann ich auch nicht mehr.«

Alexis stellte sich direkt vor ihn, der Blick seiner schönen Augen war kalt, ebenso wie seine Stimme. »Tut mir leid«, sagte er, »aber aussteigen können Sie nicht. Ich lasse Sie sofort hochgehen, wenn Sie es versuchen, und das wissen Sie natürlich auch. Also hören Sie auf mit die­-sem Gezeter, ich finde es lächerlich. Reißen Sie sich zusammen. Ich bin ja kein Unmensch und verlange Unmögliches von Ihnen. Und Sie sind nun einmal ziemlich gut, ich vertraue Ihnen.«

Er betrachtete den kleinen dicken Mann, der zusammengesunken vor ihm saß und nicht aufblickte, mit kaum verhohlener Verachtung, bevor er sich abwandte und zum Fenster spazierte. »Also, können wir uns jetzt endlich über die Einzelheiten unserer nächsten Transaktion unterhalten? Ich habe nicht ewig Zeit.«

»In Ordnung«, erwiderte der Notar mit kaum vernehmbarer Stimme.

»Fein!« Alexis strahlte. »Also, dann hören Sie mir mal genau

zu …«

Als er eine halbe Stunde später die Kanzlei verließ, war er bester Laune, ließ aber einen am Boden zerstörten Robert von Hoyningen zurück.

Iris Aldekamp öffnete vorsichtig die Tür und stellte ihrem Chef einen Becher Kamillentee hin. Als er ihr dankte, sah sie, dass er Tränen

in den Augen hatte.

Erschrocken setzte sie sich zu ihm. »Was will er von Ihnen?«, fragte sie. »Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit, Herr von Hoyningen. Ich spüre doch, dass da etwas nicht stimmt.«

Er zitterte am ganzen Körper, während er ihrer Aufforderung nachkam. Zwischendurch trank er in kleinen Schlucken seinen Kamillentee und wischte sich immer wieder mit dem Taschentuch über die schweißnasse Stirn. Als er seinen Bericht beendet hatte, blieb es lange still.

Endlich sagte Iris Aldekamp mit klarer Stimme: »Das dürfen Sie auf gar keinen Fall tun, Herr von Hoyningen!«

*

»Frau zu Randershausen ist soeben eingetroffen, Frau Baronin«, kündigte Eberhard Hagedorn, der langjährige Butler auf Schloss Sternberg an.

»Franziska?«, fragte Baronin Sofia von Kant erfreut, doch der Butler schüttelte den Kopf.

»Nein, Frau Baronin«, erklärte er mit ruhiger Stimme, »Nora zu Randershausen bittet darum, von Ihnen empfangen zu werden.«

»Oh!« Sofias Blick begegnete demjenigen des Butlers, der auch jetzt keine Miene verzog. »Bitte, führen Sie sie herein, Herr Hagedorn«, sagte sie nach kurzem Überlegen.

Er nickte und zog sich zurück. Der Baronin blieben noch einige Augenblicke, sich auf die Besucherin vorzubereiten. Ihr Mann, Baron Friedrich, war mit dem Verwalter unterwegs, wie sie wusste, es waren einige wichtige Entscheidungen zu fällen. Die Kinder waren in der Schule, sie würde sich also allein mit Nora unterhalten müssen.

Es war nicht so, dass sie Nora nicht mochte – aber als Freundinnen konnte man sie auch nicht bezeichnen. Friedrich und sie waren früher gut mit Noras Mann Johannes befreundet gewesen. Diese Freundschaft hatte selbstverständlich auch Franziska eingeschlossen, Johannes’ Tochter aus erster Ehe. Nora hatte dann dafür gesorgt, dass die Beziehung zu Johannes abkühlte, aus welchen Gründen auch immer. Nur Franziska hatte es immer wieder durchgesetzt, dass sie nach Sternberg fahren durfte. Seit sie erwachsen war, konnte es ihr ja ohnehin niemand mehr verbieten.

In den vergangenen Jahren waren sie Nora und Johannes gelegentlich auf Empfängen und Bällen begegnet, wobei Johannes durchaus den Eindruck gemacht hatte, dass ihm daran lag, seine Freundschaft zu den Sternbergern wieder aufleben zu lassen. Doch dazu war es nicht mehr gekommen, sein Herzinfarkt hatte allen eventuellen Überlegungen in dieser Richtung ein Ende bereitet.

Und nun kam Nora also zu Besuch – unangemeldet. Das war eine große Überraschung.

»Frau zu Randershausen, Frau Baronin«, hörte sie Eberhard Hagedorn sagen. Eine sehr elegant gekleidete Blondine mit schönen blauen Augen kam auf sie zu. Nora war einige Jahre älter als Sofia, was man ihr aber nicht ansah. Sie muss­te sich den Fünfzig nähern, wirkte aber gut und gern zehn Jahre jünger.

»Willkommen auf Sternberg, Nora«, begrüßte Sofia ihre Besucherin. »Trinkst du einen Tee mit mir?«

»Lieber Kaffee«, erwiderte No­ra, »wenn das keine allzu unverschämte Bitte ist.«

»Aber natürlich nicht.«

Eberhard Hagedorn zog sich bereits zurück, bevor Sofia ihm auch nur einen Blick zuwerfen konnte, um das Gewünschte zu holen.

»Bitte, nimm Platz, Nora.«

Graziös ließ sich Nora zu Randershausen auf einen Stuhl sinken, schlug die schlanken langen Beine übereinander und lehnte sich zurück. »Ihr habt es wirklich schön hier!«, sagte sie.

»Ja, und wir wissen es zu schätzen.« Sofia ließ es bei diesem Satz bewenden. Nora war nicht gekommen, um ihr Komplimente zu machen, das wusste sie. Aber weshalb dann?

Doch Nora war offenbar nicht gewillt, sofort zum Kern ihres Anliegens zu kommen. »Wie geht es Christian?«, fragte sie. »Mit fünfzehn die Eltern zu verlieren, muss furchtbar sein. Er kann von Glück sagen, dass er euch hat.«

Sofia biss sich auf die Lippen. Sie verspürte wenig Lust, mit Nora über die Tragödie zu sprechen, die Sternberg vor mehreren Monaten heimgesucht hatte: Bei einem Hubschrauberunglück war das Fürstenpaar von Sternberg tödlich verunglückt. Prinz Christian von Sternberg, der einzige Sohn des Paares und zukünftige Fürst, war damit Vollwaise geworden. Fürstin Elisabeth war Sofias Schwester gewesen, Christian also ihr Neffe. Da sie mit ihrer Familie ebenfalls schon lange auf Sternberg lebte, zogen sie den Jungen nun gemeinsam mit ihren beiden eigenen Kindern Anna und Konrad auf.

»Er ist tapfer«, sagte sie mit erzwungener Ruhe, »und natürlich ist er reifer als viele andere seines Alters. Aber er geht gut mit seiner Trauer um – und er besucht seine Eltern jeden Tag auf dem Familienfriedhof.«

»Und für dich?«, fragte Nora. »Die Fürstin war deine Schwester, ihr habt euch sehr nahegestanden.«

Sofia konnte nicht verhindern, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Sie wollte nicht mit Nora zu Randershausen über Lisa sprechen, ihre Schwester, die zugleich ihre beste Freundin gewesen war – dazu kannte sie Nora nicht gut genug.

»Entschuldige«, bat Nora, »ich wollte keine Wunden aufreißen, Sofia. Aber natürlich hat mich dieses entsetzliche Unglück ebenso beschäftigt wie alle anderen.«

»Sie fehlt mir«, sagte Sofia. »Sie fehlt mir jeden Tag, Nora.« Sie schaffte es, die Tränen hinunterzuschlucken.

»Heißt Christian noch der kleine Fürst?«, fragte Nora.

»Oh ja, und dieser Name wird ihm sicherlich auch bleiben, bis er volljährig ist.«

Daraufhin verstummte Nora erneut, bis sie sich straffte und endlich zum Zweck ihres Besuchs kam. »Du fragst dich natürlich, warum ich so plötzlich hier aufkreuze, nachdem wir ja in den letzten Jahren nur wenig Kontakt zueinander hatten.«

Wenig Kontakt, dachte Sofia. Gar keinen hätte es besser heißen müssen, und das hat nicht an uns gelegen. Sie lächelte höflich und erwiderte nichts. Warum sollte sie es Nora leichtmachen?

Die elegante Blondine zeigte ers­te Anzeichen von Nervosität. Offenbar hatte sie angenommen, die Baronin werde ihr entgegenkommen, nun musste sie erkennen, dass das nicht der Fall war.

»Also …«, setzte Nora wieder an, doch sie erhielt noch einen kleinen Aufschub, denn Eberhard Hagedorn erschien mit dem Kaffee und einigen Stücken des exquisiten Gebäcks, das die junge Sternberger Köchin Marie-Luise Falkner erst an diesem Vormittag hergestellt hatte. »Haben Sie sonst noch Wünsche, Frau Baronin?«, fragte er.

»Nora?«, erkundigte sich die Baronin.

»Nein, nein, vielen Dank«, antwortete Nora. »Ich muss auf meine Figur achten, und dieses Gebäck sieht ohnehin schon viel zu verführerisch aus …«

Der Butler zog sich zurück, und danach blieb es erst einmal still, denn Nora ließ ein paar Körnchen Zucker in ihren Kaffee rieseln und rührte dann so andächtig um, als gäbe es nichts Wichtigeres zu tun.

Sofia nippte an ihrem Tee und wartete weiter.

Endlich sah Nora auf und sagte feierlich: »Es geht um Alexis, Sofia.«

Aha, dachte die Baronin, damit wären wir immerhin einen Schritt weiter. »Um Alexis?«, wiederholte sie. Sie hatte keine Ahnung, worauf Nora hinauswollte. Franziskas Halbbruder kannten sie praktisch nicht. Zwar war er ihnen bei einer Gelegenheit, an die sie sich nicht einmal mehr erinnerte, vorgestellt worden, aber mehr als ein paar höflich-nichtssagende Worte hatten sie noch nie mit ihm gewechselt. Sie wussten aber von Franziska, dass sie sich sowohl mit Alexis als auch mit Nora recht gut verstand. »Es ist nicht die ganz große Liebe«, hatte sie einmal freimütig gesagt, »aber ganz bestimmt ist Nora für mich nicht die böse Stiefmutter. Und Alexis kann eine Pest sein, aber das sind wahrscheinlich alle jüngeren Brüder. Dass er Nora nähersteht als ich, finde ich selbstverständlich, er ist immerhin ihr Sohn.«

»Ich habe einen Fehler gemacht, dass ich eure Freundschaft mit Jo … nun ja, dass ich sie nicht unterstützt habe«, fuhr Nora fort. »Aber weißt du, Sofia, ihr kanntet seine erste Frau, und ich wollte nicht ständig mit Leuten zu tun haben, die mich mit ihr vergleichen. Davor hatte ich damals Angst. Heute weiß ich, dass das dumm war. Aber wenn man jung ist …«

Du hättest diesen Fehler aber längst korrigieren können, dachte Sofia, sagte jedoch auch das nicht laut, denn noch immer fragte sie sich, warum Nora gekommen war.

»Du sagtest, es ginge um Alexis«, erinnerte sie ihre Besucherin.

»Ja. Er leidet unter meinem Fehler«, erklärte Nora. »Er hat mir neulich gesagt, wie schade er es findet, dass ich ihm die Bekanntschaft mit euch praktisch verbaut habe.«

»Das verstehe ich nicht, Nora.« Sofia schüttelte den Kopf. »Er wäre uns jederzeit willkommen gewesen – er hätte doch nur Franzi einmal begleiten müssen, sie besucht uns immerhin regelmäßig, wie du sicher weißt.«

Nora strahlte sie an. »Ich hatte so sehr gehofft, dass du das sagen würdest, Sofia, aber Alexis wollte sicher sein, dass ihr nichts gegen ihn habt, nur weil ich damals dafür gesorgt habe, dass eure Freundschaft zu Johannes … nun ja, einschläft.«

»Dafür kann Alexis ja nichts«, bemerkte die Baronin freundlich. Sie hatte das Gefühl, dass Nora noch immer nicht alles gesagt hatte, was ihr auf der Seele lag.

Sie irrte sich nicht, aber sie muss­te noch eine Viertelstunde warten, bis Nora es endlich zur Sprache brachte.

»Ich hörte, dass ihr gelegentlich Gäste zu einem festlichen Abendessen einladet, Sofia …«

»Das stimmt«, lächelte die Baronin. Sie kam sich ein wenig schäbig vor, dass sie Nora zappeln ließ, obwohl sie jetzt endlich wusste, wo­rauf diese hinaus wollte.

Das Lächeln ihrer Besucherin wurde ein wenig starr, es fiel ihr sichtlich schwer, die Bitte auszusprechen, wegen der sie hergekommen war. »Ich wäre euch sehr dankbar, wenn in nächster Zeit auch Alexis einmal unter den Gäs­ten sein dürfte«, sagte sie.

»Gern«, erwiderte Sofia vollkommen ruhig, »allerdings planen wir in nächster Zeit keine solche Einladung, aber sollten wir darüber nachdenken, ist uns Alexis herzlich willkommen, Nora. Wir haben ja nicht geahnt, dass er daran Interesse hat, sonst hätten wir ihn sicher schon einmal eingeladen.«

Nora entspannte sich wieder. Sie war sichtlich erleichtert, ihr Anliegen vorgebracht zu haben – und auch darüber, dass es freundlich aufgenommen worden war.

Sofia beobachtete sie unauffällig. Warum war Alexis mit einem Mal an Kontakten nach Sternberg interessiert?

Sie fand keine Antwort auf diese Frage. Als Nora sich wenig später wieder verabschiedete, machte sich Sofia auf die Suche nach ihrem Mann, um ihm von diesem Besuch zu berichten.

Baron Friedrich war nicht weniger verwundert als sie selbst. »Alexis von Randershausen?«, rief er aus. »Aber was will er denn hier? Er kennt uns kaum, und soviel ich weiß, verkehrt er sonst mit Leuten, die uns nicht unbedingt nahestehen.«

»Schade, ich dachte, du könntest mir das erklären«, seufzte Sofia. »Ich habe jedenfalls nicht die geringste Ahnung, was er von uns will, Fritz.«

»Es wird sich schon herausstellen«, meinte der Baron. »Komm mit, ich will dir unsere neue Stute zeigen.«

Sie folgte ihm gern, und der Anblick des herrlichen Tiers, das ihr Mann auf der letzten Auktion erworben hatte, verdrängte Nora und ihren Sohn vollständig aus ihren Gedanken.

Abends beim Essen erwähnte sie Noras Besuch dann aber den Kindern gegenüber und wurde besonders von Anna und Christian sofort mit Fragen überschüttet. »Wieso war sie denn hier, Mama?«, wollte Anna wissen.

»Na ja, es scheint, als wollte sie die Entfremdung rückgängig machen zwischen uns und ihrer Familie.«

»Mit Franziska sind wir gut befreundet«, warf Christian ein. »Da ist überhaupt keine Entfremdung.«

»Das stimmt, aber zu ihr und ihrem Sohn besteht ja praktisch überhaupt keine Beziehung mehr, und das wollte sie offenbar gern ändern.«

»Wir kennen Alexis überhaupt nicht«, stellte der sechzehnjährige Konrad fest, der dem Gespräch bis dahin schweigend gefolgt war.

»Dann lernt ihr ihn eben bei nächster Gelegenheit kennen«, erklärte die Baronin. »Er ist immerhin Johannes’ Sohn, und Johannes haben wir ja sehr geschätzt.«

»Aber wieso …«, begann Anna von Neuem, doch dieses Mal unterbrach der Baron seine Tochter.

»Anna, keine weiteren Fragen, die wir nicht beantworten können«, bat er. »Nora war hier, sie hat praktisch eine freundschaftliche Annäherung angeboten, wir werden darauf eingehen – Ende. Mehr gibt es nicht zu sagen.«

Die Baronin bemerkte den langen Blick, den Anna und Christian tauschten. Sie unterdrückte einen Seufzer. Die beiden witterten also wieder einmal ein Geheimnis, das es aufzuklären galt.

Und vielleicht hatten sie ja sogar Recht damit …

*

»Wildschweine, Franzi!«, rief Elsbeth und rüttelte Franziska heftig an der Schulter. »Wir müssen sie irgendwie abdrängen, sie sind schon hinten im Garten. Wenn die über die morsche alte Terrasse trampeln, ist sie völlig hinüber.«

Franziska war mit einem Schlag hellwach. Sie sprang aus dem Bett, fuhr in ihre alten Jeans und ein zerknautschtes T-Shirt und rannte hinter Elsbeth her. Die Wildschweine wüteten schon geraume Zeit in der Gegend, sie hatten befürchtet, dass sie auch auf ihrem Gelände auftauchen würden – nun war es also so weit. Jede von ihnen schnappte sich eine der Dachlatten, die sie zu diesem Zweck neben der Terrasse deponiert hatten. Mit lauten Schreien stürmten die beiden Frauen den Wildschweinen entgegen, wobei sie drohend die Dachlatten schwenkten, in der Hoffnung, dass die Eindringlinge diese Drohung verstanden.

Doch zunächst sah es nicht so aus. Der Keiler, der die Rotte anführte, blieb zwar erst einmal verdutzt stehen und schien zu überlegen, was er von diesen schreienden Gestalten halten sollte, doch dann fasste er offenbar den Entschluss, seinen Weg fortzusetzen, denn er senkte den Kopf und rannte weiter.

Franziska bekam es mit der Angst zu tun. Mit einem so mächtigen Tier konnte sie es niemals aufnehmen, und sie hatte nicht die Absicht, ihr Leben zu riskieren. »Zurück, Elsbeth!«, rief sie. »Lauf weg, die greifen uns an!«

Doch bevor sie ihre Absicht in die Tat umsetzen konnten, knallte ein Schuss, dann ein zweiter, ein dritter. Eins der Tiere brach zusammen, der Keiler wandte sich um, sah, was passiert war und trat mit der Rotte den Rückzug an. Das verletzte Tier blieb zurück, quiekte und grunzte und hauchte schließlich vor den Augen der beiden entsetzten Frauen sein Leben aus.

Im nächsten Augenblick näherten sich zwei schwarzhaarige, verwegen aussehende Männer mit Gewehren, einer war jung, der andere älter. Es war der Ältere, der ihnen zornig zurief: »Sind Sie verrückt geworden, diesen Tieren entgegenzulaufen? Die hätten Sie schwer verletzen können, wenn nicht Schlimmeres. War Ihnen das nicht klar?«

In Franziska erwachte der Zorn, obwohl ihr vollkommen klar war, dass der Mann nicht nur Recht hatte, sondern sie und Elsbeth zusammen mit seinem Gefährten auch aus einer höchst misslichen Lage befreit hatte. »Sehen wir lebensmüde aus?«, fragte sie kämpferisch. »Wir haben versucht, die Tiere zu vertreiben, das haben Sie doch gesehen.«

»Mit Dachlatten, ja«, stellte er mit leichtem Spott in der Stimme fest. »Gestatten Sie, dass wir uns vorstellen: Ich bin Ulrich Rethmann, das ist mein Neffe Lucius.«

»Graf Rethmann?«, fragte Franziska.

»Da müssen Sie meinen Neffen fragen, ich verzichte gern auf meinen Adelstitel.«

Der Jüngere der beiden Männer war dem Wortwechsel bisher stumm gefolgt, genau wie Elsbeth, die nun sagte: »Ich gehe Tee ko­-chen – oder Kaffee, falls Sie den lieber hätten. Auf den Schrecken

hin …«

Sie übersah Franziskas fassungslosen Blick demonstrativ.

Ulrich von Rethmann erwiderte mit breitem Lächeln: »Tee wäre großartig, vielen Dank«, woraufhin sich Elsbeth rasch umdrehte und im Haus verschwand.

Jetzt erst ergriff Graf Lucius von Rethmann das Wort. Er streckte die Hand aus und sagte: »Es ist mir eine Freude, dass wir uns endlich kennenlernen, Frau zu Randerhausen. Ich hatte schon mehrfach versucht, Ihnen meine Aufwartung zu machen, aber bisher hatte ich nie das Glück, Sie zu Hause anzutreffen.«

Es blieb Franziska nichts anderes übrig, als seine Hand zu ergreifen und ihrerseits ein paar höfliche Worte zu murmeln.

»Ein prächtiges Tier«, ließ sich nun der Onkel des jungen Grafen vernehmen, der neben der toten Wildsau am Boden kniete und sie einer genauen Untersuchung unterzog. »Am besten brechen wir sie gleich hier auf – das gibt Fleisch für viele gute Mahlzeiten. Haben Sie eine Tiefkühltruhe?«

»Ja«, antwortete Elsbeth, die gerade mit einem großen Tablett in den Garten zurückkehrte und die Frage gehört hatte.

Franziska atmete erleichtert auf. Offenbar hatte Elsbeth zumindest nicht vor, die beiden Männer ins Haus zu bitten. Sie musste jedoch feststellen, dass sie sich darüber gar keine Gedanken hätte machen müssen, denn Ulrich von Rethmann stellte in schöner Offenheit fest: »Das Haus braucht eine Totalsanierung, oder?«

»Ja«, antwortete Elsbeth, die auch jetzt wieder schneller war als Franziska. »So könnte man das ausdrücken. Ich bin übrigens Elsbeth Lüders, offiziell …«

»Elsbeth ist meine Freundin«, schnitt Franziska ihr das Wort ab.

»Früher war ich die Haushälterin der Familie«, fuhr Elsbeth unbeirrt fort. »Aber Franziska und ich haben uns angefreundet und sind nach dem Tod ihres Vaters gemeinsam in dieses Haus zurückgezogen, das wir vor vielen Jahren verlassen hatten.«

Franziska sah plötzlich keinen Sinn mehr darin, diesen beiden sympathischen Männern, die offenbar Augen im Kopf hatten und genau wussten, wie es um das Haus stand, noch weiter eine Komödie vorzuspielen. »Ich habe kein Geld für eine umfassende Sanierung«, sagte sie. »Dach, Heizung, Fenster, Isolierung – das ist ein Fass ohne Boden. Ich verdiene nicht schlecht als Lehrerin, aber für solche Extravaganzen reicht es einfach nicht.«

»Und was wollen Sie machen?«, fragte Lucius und dankte Elsbeth mit einem Lächeln für den Tee.

»Wenn ich das wüsste«, seufzte Franziska. »Wir haben im vergangenen Winter erbärmlich gefroren, und wir frieren immer noch, weil die Wände nach wie vor eiskalt sind. Das ganze Haus ist eine Eishöhle.«

Die beiden Männer hatten mittlerweile auf zwei großen Steinen Platz genommen, Franziska und Elsbeth taten es ihnen gleich. Die tote Wildsau lag einige Meter von ihnen entfernt.

»Ich könnte einiges machen«, ließ sich Ulrich vernehmen, nachdem er seine Blicke prüfend über die alten Mauern hatte gleiten lassen. »Aber natürlich nicht alles. Und Material kostet ja auch Geld.«

»Ich kann Sie nicht bezahlen, Herr von Rethmann«, stellte Franziska fest.

»Ich habe nicht gesagt, dass ich bezahlt werden will«, erwiderte er gelassen.

»Dann kann ich Ihre Hilfe erst recht nicht annehmen«, sagte sie.

Lucius schaltete sich ein. »Doch«, erklärte er, »das können Sie. Mein Onkel hat sein Haus ganz allein gebaut, er lebt als Selbstversorger und kennt die Probleme, die Sie hier zurzeit haben, ziemlich genau, glauben Sie mir.«

Elsbeth beugte sich vor. »Sie haben ganz allein ein Haus gebaut?«, fragte sie ungläubig.

Er lächelte. »Ja, habe ich. Ich habe mir alles, was ich dafür wissen musste, selbst angeeignet. Natürlich habe ich es ständig von Fachleuten überprüfen lassen, damit auch alles seine Ordnung hatte, und manchmal habe ich mir Hilfe geholt, aber das meiste habe ich allein gemacht. Ich hatte ja viel Zeit. Ich brauchte zunächst nur ein Zimmer und ein Bad, den Rest habe ich nach und nach fertiggestellt. Ist schön geworden – jedenfalls passend für meine Bedürfnisse.«

»Es ist schön!«, bekräftigte Lucius.

»Für meine Familie ist es allerdings nicht mehr als eine Hütte«, berichtete Ulrich amüsiert. »Aber die haben für meine Art zu leben ohnehin kein Verständnis.« Er stand auf. »Wir sollten uns an die Arbeit machen«, sagte er. »Hilfst du mir, Lucius?«

Der junge Graf nickte und sprang auf. »Wo?«, fragte er. »Haben Sie irgendwo einen großen Tisch?«

»Wir könnten die alte Tischtennisplatte nehmen«, schlug Elsbeth vor. »Die steht auf der Terrasse, kein Mensch braucht sie.«

»Gute Idee«, bemerkte Ulrich beifällig.

»Aber mehr als das halbe Tier brauchen wir nicht«, stellte Franziska fest. »Außerdem haben Sie es erlegt.«

»Gut, dann teilen wir.« Ulrich lächelte erfreut. »Ich esse für mein Leben gern Wildgulasch«, gestand er.

Voller Bewunderung sahen die beiden Frauen zu, wie geschickt er mit Lucius’ Hilfe zu Werke ging, um die Wildsau zu zerlegen. Das ge­schah so schnell, dass sie nur staunen konnten. Was sie mitnehmen wollten, wurde in Plastik gewickelt in Ulrichs Auto geladen, das in der Nähe geparkt war.

»So«, sagte er, nachdem er sich in der alten Gutsküche gesäubert hatte, »nun kommen wir zurück zum Haus. Soll ich ein paar Sachen machen hier?«

Franziska warf Elsbeth und danach dem jungen Grafen ratlose Blicke zu. »Ich weiß nicht«, erwiderte sie zögernd. »Das kann ich doch nicht annehmen, Herr von Rethmann …«

»Natürlich sollen Sie hier einiges machen«, widersprach Elsbeth. »Wieso zierst du dich, Franzi? Wir brauchen Hilfe, und Herr von Rethmann bietet sie dir an. Wo ist denn das Problem?«

»Bravo!«, rief Ulrich erfreut. »Genauso sehe ich das auch, Frau Lüders.«

»Wir kennen uns nicht, und ich kann doch nicht einfach ein solches Angebot annehmen – noch dazu, wenn Sie nicht einmal bezahlt werden wollen«, sagte Franziska ratlos. Außerdem …« Sie brach ab. Natürlich brauchten sie Hilfe, aber so sympathisch sie die beiden Männer fand – sie blieben dennoch Fremde.

»Ich will nicht bezahlt werden – aber die Männer, die mir helfen, brauchen schon eine Bezahlung«, erklärte Ulrich. »Die muss nicht so hoch sein wie sonst üblich, aber das sind gute Leute, die ohne eigene Schuld ihre Arbeit verloren haben. Können Sie die bezahlen?«

»Das kommt darauf an«, erklärte Franziska. »Ich habe noch etwas Geld, aber die Frage ist, wie weit das reicht …«

»Was würdest du denn hier machen wollen, Onkel Uli?«, erkundigte sich Lucius, um dem Gespräch eine klare Richtung zu geben.

»Zunächst mal einen Rundgang«, brummte Ulrich. »Dann eine Mängelliste – und dann eine Liste dessen, was am dringendsten gemacht werden muss. Und eine Lis­te der Kosten, die unvermeidbar sind.« Er wandte sich an Franziska. »Wäre Ihnen damit gedient?«

»Auf jeden Fall!«, erklärte sie lebhaft. »Ich muss ja wissen, was auf mich zukommt.«

Ulrich nickte. »Du könntest mir ab und zu helfen, Lucius. Du müsstest auch nicht bezahlt werden.« Er zwinkerte den beiden Frauen zu, Elsbeth fing an zu lachen.

»Ich habe noch einen Beruf, wie du weißt«, lächelte der junge Graf. Sein Blick ruhte dabei auf Franziska, die prompt errötete. »Aber an den Wochenenden …«

»Also, dann machen wir jetzt einen Rundgang!«, erklärte Elsbeth resolut, um das ständige Hin und Her zu beenden. Sie war eine Frau der Tat, allzu langes Diskutieren machte sie nervös.

Franziska gab ihren Widerstand auf. Wenn Elsbeth etwas beschlossen hatte, gab es sowieso kein Zurück mehr. Und letzten Endes hatte sie ja Recht – sie hatten alle Recht …

*

»Hast du Stress, Robert?«, fragte Dr. Walter Hornung seinen Patienten Robert von Hoyningen, der zugleich sein Freund war. Er hatte Robert gründlich untersucht und war hörbar beunruhigt aufgrund der Ergebnisse.

»Ja«, gab Robert widerwillig zu. Er war noch bleicher als sonst und schwitzte noch mehr, obwohl es zwar warm und sonnig war, aber keinesfalls heiß.

»Dann sage ich dir als Arzt und Freund, dass du umgehend weniger arbeiten musst. Wenn du nämlich so weitermachst, hast du sonst bald deinen ersten Herzinfarkt. Hör mal, du hast doch in den vergangenen Jahren so viel Geld verdient, dass du jetzt ohne Weiteres kürzer treten kannst.«

»Es ist nicht die Menge der Arbeit, Walter.«

»Sondern?«

Robert wich dem Blick seines Freundes aus. »Es ist anderer Stress.«

»Mit einer deiner Frauen? Herrje, dann hör endlich auf, dich von ihnen ausnehmen zu lassen! Irgendwo gibt es sicher eine, die nett und hübsch ist und der es um dich geht und nicht um dein vieles Geld. Aber du suchst dir ja immer solche aus, die …«

Robert unterbrach ihn. »Es hat auch nichts mit einer Frau zu tun.«

Walter ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Dann sag mir, was los ist. Ich bin dein Freund, Robert, ich will dir helfen.«

»Ich kann es dir nicht sagen.«

»Dann kann ich dir nicht helfen. Willst du mit noch nicht ein­-

mal vierzig Jahren sterben? Du hast Herzrhythmusstörungen, dein Blut­druck ist viel zu hoch, dein ganzer Körper spielt verrückt – ich muss dich ja nur ansehen, um das zu wissen. Du schwitzt, dir ist garantiert schwindelig, du hast Kopfschmerzen, dir ist morgens übel, du bist kurzatmig – was habe ich vergessen?«

»Und ich habe Angst«, sagte Robert leise. »Am liebsten würde ich hier alles stehen- und liegenlassen und irgendwohin reisen, wo mich niemand finden kann.«

Walter stieß hörbar die Luft aus. »Du hast dich auf krumme Sachen eingelassen, und die wachsen dir jetzt über den Kopf.«

Robert nickte stumm.

»Dann hör damit auf, Robert! Geh zur Polizei, mach dem ein Ende.«

»Dann kann ich nie mehr als Notar arbeiten, Walter. Ich bin erledigt, verstehst du? Wenn du wüsstest, wie oft ich mir schon gewünscht habe, ich hätte mich auf diese Geschichte nicht eingelassen – aber jetzt ist es zu spät. Er hat mich in der Hand, und er erpresst mich. Ich hatte kurzfristig die Illusion, es ginge ihm nur um diese eine Sache, aber er will mehr, immer mehr. Und jetzt hat er sich etwas Neues ausgedacht …«

»Wer?«, fragte Walter Hornung. »Wer ist der Mann, der dich so unter Druck setzt? Bitte, sag mir das.«

»Ich kann nicht, Walter.« Robert erhob sich schwerfällig. Seine Stirn war nass, auch auf seiner Oberlippe hatten sich Schweißperlen gesammelt.

»Ich lasse dich nicht gehen«, erklärte der Arzt energisch. »Wenn du keinen Ausweg siehst, ich schon: Du legst dich eine Weile in meine Klinik – wer krank ist, kann nicht arbeiten.«

»Er würde mich finden, Walter. Und er würde wissen, dass ich nur versuche, mich zu verstecken.«

»Und wenn schon! Du könntest ihn doch auch ruinieren – oder etwa nicht? Er mag etwas über dich wissen, aber du weißt auch etwas über ihn. Du bist nicht so wehrlos, wie du denkst!«

»Ich … ich gehe jetzt, Walter. Danke, dass du mir helfen willst, aber ich glaube, das kannst du nicht.«

»Doch, das kann ich. Du musst nur wollen. Überleg dir das mit meiner Klinik. Wenn ich dich da isoliere, dann schafft es keiner in dein Zimmer dort, glaub mir.«

»Aber ich kann mich nicht ewig verstecken, oder? Irgendwann muss ich zurück an die Arbeit, und dann ginge alles von vorn los.«

»Aber du hättest dich erholt. Du hättest Zeit gehabt, nachzudenken und vielleicht eine Entscheidung zu fällen.«

Robert von Hoyningens Blick war so traurig wie sein Lächeln. »Die Entscheidungen über mein Leben fällt jetzt ein anderer«, erwiderte er leise. »Nochmals danke, Walter.«

Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ mit hängenden Schultern das Sprechzimmer und gleich darauf die Praxis seines Freundes.

Walter Hornung wäre ihm am liebsten gefolgt, aber das hätte zu nichts geführt. Es musste Robert wohl erst noch schlechter gehen, bis er bereit war, Hilfe anzunehmen.

*

»Es war sehr nett auf Sternberg«, berichtete Nora ihrem Sohn, als er ihr abends einen Besuch abstattete. »Und natürlich laden sie dich bei nächster Gelegenheit ein, das hat Sofia mir versprochen. Ich glaube, sie war richtig froh, mich zu sehen.«

»Gut«, sagte Alexis zufrieden. Er war an einer offiziellen Einladung nicht interessiert, er wollte nur auf Sternberg auftauchen können, ohne Verwunderung hervorzurufen – aber das brauchte seine Mutter nicht zu wissen. »Ich werde wahrscheinlich schon vorher vorbeifahren und mich dort mal umsehen. Ich will ein Pferd kaufen, und die Sternberger sollen ja die besten sein.«

»Du reitest doch gar nicht so oft«, wunderte sich Nora.

»Es gehört dazu«, stellte Alexis fest. Nora hielt ihn noch immer für einen unschuldigen Jungen, und das sollte auch so bleiben. Dass er längst ein raffinierter Geschäftemacher geworden war, ahnte sie nicht einmal. Dabei hatte er bereits sehr weitreichende Pläne. Sein Erbe war erst der Anfang gewesen …

Sie tätschelte ihm liebevoll die Wange. »Wozu denn?«, fragte sie.

»Zum Leben von Leuten mit Geld«, antwortete er. »Und das sind wir ja schließlich, Mama.«

Sie seufzte. »Ich habe manchmal ein schlechtes Gewissen wegen Franzi«, sagte sie. »Die sitzt jetzt da mit dem alten Haus und hat überhaupt keine Mittel. Ehrlich gesagt, ich war davon überzeugt, dass dein Vater sein Vermögen unter uns aufteilen würde. Ich begreife immer noch nicht, warum er ihr nur eine so bescheidene Summe hinterlassen hat.«

»Weil das ungerecht gewesen wäre«, erklärte Alexis nicht zum ersten Mal. Es ging ihm auf die Nerven, dass seine Mutter immer wieder auf diesen Punkt zurückkam. »Das Haus ist vielleicht nicht mehr so viel wert, aber der Grund und Boden macht sie reich, wenn sie ihn verkauft.«

»Aber sie wird ihn nicht verkaufen – sie hängt doch genauso an dem Haus, wie dein Vater daran gehangen hat!«, rief Nora. »Ich habe das nie verstanden, aber das Haus war ja beinahe ein Heiligtum für ihn, weil sein Urgroßvater es sei­nerzeit erbaut hat.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe heute übrigens mit Franzi telefoniert, sie hat wenigstens Hilfe bei der Renovierung bekommen. Ich muss sagen, dass mich das ein wenig beruhigt.«

»Hilfe?«, fragte Alexis. Er musste sich sehr anstrengen, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese Neuigkeit elektrisierte.

»Ja«, fuhr Nora unbefangen fort, »von den Grafen Rethmann. Graf Lucius ist ja in ihre Nähe gezogen, und er war offenbar mit seinem Onkel bei ihr und hat sie und ihre Haushälterin von einer Rotte Wildschweine befreit …«

»Sein Onkel? Dieser Sonderling, der in so einer Waldhütte lebt?«, fragte Alexis.

»Waldhütte ist gut – es ist ein solide gebautes, sehr schönes Haus. Natürlich nichts für unsere Ansprüche, aber es ist eindeutig mehr als eine Waldhütte. Das sagen die anderen aus der Familie nur immer, weil sie sich über Graf Ulrichs Lebensstil aufregen«, erklärte Nora. »Nun ja, der ist ja auch wirklich sonderbar. Aber jedenfalls ist er

ein ausgezeichneter Handwerker, und wenn er Franzi wirklich hilft, kommt sie ja vielleicht über die Runden. Ich würde es ihr gönnen.«

Alexis hatte sich abgewandt, damit seine Mutter nicht sehen konnte, wie es in ihm arbeitete. Dass seine Halbschwester plötzlich Hilfe bekam und es auf diese Weise vielleicht länger in dem alten Gutshaus aushielt als vorgesehen, passte ihm gar nicht. Seinen Berechnungen nach hätte sie spätestens im nächs­ten Winter aufgeben müssen, sodass er dann als vermeintlicher Retter in der Not hätte einspringen können. Und jetzt kam dieser Graf Rethmann und durchkreuzte seine Pläne …

Aber seine Aufregung dauerte nicht lange. Er musste ja nur dafür sorgen, dass der Graf sich um andere Dinge zu kümmern hatte, sodass ihm keine Zeit mehr für das Gutshaus blieb. Als er in Gedanken so weit gekommen war, beruhigte er sich schlagartig. Hindernisse waren dazu da, um überwunden zu werden. Er hatte jedenfalls nicht die Absicht, sich von einem Sonderling aufhalten zu lassen.

»Ich muss gehen, Mama«, sagte er und küsste Nora auf beide Wangen. »Danke, dass du bei den Sternbergern vorgefühlt hast, das war mir wirklich sehr wichtig.«

Nora sah ihm lächelnd nach. Er war ein guter Junge!

*

»Sie gefällt dir«, stellte Ulrich fest, als Lucius und er abends auf seiner Terrasse saßen, von der aus man in den Wald blickte. Diese Terrasse lief ums ganze Haus, Ulrich war sehr stolz darauf.

Lucius machte keinerlei Anstalten, seinem Onkel zu widersprechen. »Und dir gefällt Frau Lüders«, erwiderte er.

»Ja«, bestätigte Ulrich bedächtig. »Sehr sogar. Die hat das Herz auf dem rechten Fleck, und sie steht mit beiden Beinen fest auf der Erde. Die junge Frau kann froh sein, dass sie nicht allein in dem alten Gemäuer sitzt. Aber Mut haben sie beide, das muss ich schon sagen. Der letzte Winter kann kein Zuckerschlecken gewesen sein, und sie sind immer noch da.«

»Du hattest jedenfalls Recht mit deiner Annahme, dass Franziska sympathisch ist.«

Ulrich nickte. »Ja, das hatte ich. Sie weiß, was sie will, und sie gibt nicht schnell auf. Außerdem gefällt es mir, dass sie Frau Lüders als ihre Freundin vorgestellt hat. Sie verdienen es jedenfalls beide, dass sie Hilfe bekommen. Ich habe da noch einige Leute an der Hand, die mir bei dem Dach helfen werden. Das muss ja zum Glück nur zum Teil neu gedeckt werden, der Dachstuhl ist vollkommen in Ordnung.«

»Du willst ihr wirklich helfen – sodass sie eventuell in dem Gutshaus bleiben kann«, stellte Lucius fest. »Willst du auch herausfinden, warum ihr Vater ihr kein Geld hinterlassen hat?«

»Wenig Geld«, verbesserte Ulrich. »Ja, das will ich. Ich finde das immer seltsamer, je länger ich darüber nachdenke. Ich könnte wetten, dass da etwas nicht stimmt, Lucius.«

»Aber was sollte das denn sein? Er wird ja sicher ein Testament gemacht haben – und das ist bei einem Notar hinterlegt in der Regel.«

»Ja, ich weiß, das ist der Knackpunkt, an dem ich bisher auch immer gescheitert bin. Wenn da jemand gemauschelt hat, dann weiß ich nicht, wie er es angestellt hat.«

»Verdächtigst du die zweite Frau zu Randershausen?«

»Wenn jemand manipuliert hat, war es der Sohn oder die Frau, denn die beiden haben alles geerbt«, stellte Ulrich fest. »Das scheint mir festzustehen, aber es hilft bei meinen Überlegungen nicht weiter.«

»Sei vorsichtig mit solchen Äußerungen«, warnte Lucius. »Wenn die den falschen Leuten zu Ohren kommen, dann könntest du wegen Verleumdung verklagt werden.«

»Ich rede nur mit dir darüber«, erklärte Ulrich.

»Gut so«, stellte Lucius fest. Nach einer Weile setzte er hinzu: »Ich werde dir selbstverständlich helfen bei deinem guten Werk, Onkel Uli – jedenfalls an den Wochenenden.«

Ulrich lachte schallend. »Aber nicht wegen des guten Werks, sondern wegen der schönen Franziska, das ist mir schon klar.«

»Und du? Hat deine Hilfsbereitschaft nicht auch etwas mit Frau Lüders zu tun?«

»Ich hätte meine Hilfe in jedem Fall angeboten, das hatte ich mir ja vorher schon vorgenommen«, erklärte Ulrich und fuhr mit vergnügtem Schmunzeln fort: »Aber ich gestehe gern, dass die Begegnung mit dieser wunderbaren Frau mich in meinem Vorhaben noch einmal bestärkt hat.«

Lucius betrachtete seinen Onkel neugierig. »Hast du dich in sie verliebt, Onkel Uli?«

»Das geht bei mir nicht so schnell, mein Junge. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es passiert. Lassen wir das in Ruhe auf uns zukommen.«

»Ich habe mich schon immer gefragt, warum du bis jetzt allein geblieben bist. Du bist schließlich ein attraktiver Mann, und niemand ist auf Dauer gern allein.«

»Ich war nicht allein«, erwiderte Ulrich offen. »Aber keine Frau war die Richtige für mich – und ich war für keine der Richtige. Also haben wir uns jedes Mal in Freundschaft wieder getrennt, und glaub mir: Das war für beide Seiten das Bes­te.«

Lucius lehnte sich zurück und schloss die Augen. Mit einem Mal freute er sich unbändig auf den vor ihm liegenden Sommer, in dem er Franziska zu Randershausen, so hoffte er, näher kennenlernen würde. Er sah sie deutlich vor sich mit ihren schönen Augen, den braunen Locken und dem zarten, eigensinnigen Gesicht. Ein paar Mal waren sich heute ihre Blicke begegnet, jedes Mal war es wie ein kurzer, elektrischer Schlag gewesen, den er im ganzen Körper gespürt hatte.

Er ahnte nicht, dass sein Onkel ihn verstohlen lächelnd beobachtete. Ulrich hätte die Gedanken seines Neffen aufschreiben können, so genau wusste er, was in Lucius vorging – und er war glücklich darüber. Nach allem, was er heute gesehen und gehört hatte, war nicht nur Elsbeth Lüders eine großartige Person, sondern Franziska zu Randershausen war es auch. Sie und Lucius passten zusammen – auch wenn ihnen das noch nicht bewusst war. Allerhöchstens ahnten sie es.

Aber wenn alles so lief, wie er es sich vorstellte, dann hatten sie in den kommenden Monaten ja ständig auf dem Gutshof zu tun, und diese Zeit sollte eigentlich reichen, damit sich eine junge Frau und ein junger Mann, die einander auf Anhieb sympathisch gewesen waren, näherkommen konnten.

Und vielleicht auch, setzte er in Gedanken versonnen hinzu, eine Frau und ein Mann in den besten Jahren, wie es so schön hieß.

*

»Kein Problem«, sagte der Mann in der schwarzen Lederjacke. Er trug, genau wie Alexis, eine dunkle Sonnenbrille, die seine Augen verbarg. »Sie sagen uns, wann es losgehen kann, und wir sind da.« Zufrieden blickte er auf das Bündel Geldscheine in seiner Hand. Als er grinste, kam ein ausgesprochen schadhaftes Gebiss zum Vorschein, die meisten Vorderzähne fehlten ihm. »Für so viel Kohle können Sie ordentliche Arbeit erwarten.«

»Sie sollen nicht mehr machen, als ich Ihnen gesagt habe«, erinnerte Alexis ihn. »Die Bude soll nicht zerstört werden, verstanden? Ich will, dass ihm die Reparaturen viel Arbeit machen, sodass er keine Zeit mehr für andere Dinge hat – das ist das Ziel. Keine sinnlosen Aktionen bitte.«

»Wofür halten Sie mich, Chef?« Der Mann versuchte, einen gekränkten Gesichtsausdruck herzustellen, was ihm nicht gelang. »Wir sind Profis, durch und durch.«

Alexis sehnte sich danach, ihm den Rücken zukehren zu können. Es waren keine Namen gefallen bei ihrer Verabredung, alles war anonym abgelaufen, und so sollte es sein. Allein die Vorstellung, er könnte diesem Menschen in seinem normalen Leben begegnen, und der würde ihn ansprechen, verursachte ihm Übelkeit.

»In Ordnung. Ich rufe Sie an, sobald das Haus leer ist.«

»Sie werden mit uns zufrieden sein.« Mit diesen Worten schwang sich der Mann auf sein schweres Motorrad, ließ es an, fuhr eine elegante Kurve und schoss davon.

Alexis atmete auf, dann schlug er die entgegengesetzte Richtung ein. Er hatte den letzten Kilometer zu Fuß zurückgelegt, von einem Taxistand aus. So dumm war er nicht, dass er im Wagen vorfuhr und so riskierte, dass diese Kriminellen seinen Namen herausfanden.

Er fühlte sich erst wieder frei, als er das öde Industriegebiet, in dem sie einander getroffen hatten, hinter sich ließ und sich die Straßen allmählich wieder belebten. Hoffentlich musste er in Zukunft nie wieder mit solchen Menschen in Kontakt treten!

*

»Er gefällt mir!«, sagte Elsbeth mit Nachdruck.

Franziska fuhr auf. »Wer?«, fragte sie verwirrt. Sie hatte gerade über Graf Lucius nachgedacht – und war unversehens ins Träumen geraten. Ihr war nicht aufgefallen, wie lange sie schon kein Wort mehr gesagt hatte.

Elsbeth warf ihr einen liebevoll-spöttischen Blick zu.

»Sie gefallen mir beide«, erklärte sie, »aber eben meinte ich vor allem Graf Ulrich. Ein sehr beeindruckender Mann.«

»Elsbeth!«, rief Franziska verwundert. »Es ist das erste Mal, dass ich dich so reden höre.«

»Irgendwann ist immer das erste Mal. Er steht mit beiden Beinen fest auf der Erde, er lebt sein Leben so, wie es ihm gefällt, und er kann zupacken. Außerdem ist er nicht hochmütig, er sieht nicht auf Leute herab, die keinen Adelstitel haben. Im Gegenteil – der scheint ihm sogar ein bisschen peinlich zu sein.«

»Sie sind beide nicht hoch­mütig«, murmelte Franziska, »aber irgendwie sind sie zu schön, um wahr zu sein, Elsbeth. Das gibt es doch gar nicht, dass da zwei gestandene Männer auftauchen und uns ihre Hilfe anbieten. Könnte es nicht sein, dass sie etwas im Schilde führen? Vielleicht sind sie scharf auf das Haus und das Grundstück und versuchen deshalb, sich unser Vertrauen zu erschleichen. Ich meine, das soll es ja schon gegeben haben.«

Elsbeth dachte gar nicht daran, diesen Gedanken empört von sich zu weisen – im Gegenteil, sie überdachte Franziskas Überlegung gründlich. »Möglich wäre es«, gab sie schließlich zu. »Und nichts hindert uns daran, auf der Hut zu bleiben. Das wäre sowieso vernünftig, finde ich. Aber ich glaube nicht daran. Mein Bauch sagt mir, dass die beiden in Ordnung sind.«

Nichts hörte Franziska lieber, entsprach doch diese Einschätzung ihrem eigenen Gefühl. »Gut«, erwiderte sie, »dann behalten wir sie weiterhin aufmerksam im Auge – aber zugleich hoffen wir, dass wir ihnen vertrauen können.«

Elsbeth lachte. »Schön gesagt«, fand sie. »Wildschwein können wir noch nicht essen, das ist ja noch zu frisch, wie wir heute gelernt haben. Wie wäre es mit Rührei und Pilzen?«

»Ist mir recht«, erwiderte Franziska. »Soll ich dir was helfen, Elsbeth?«

»Bloß nicht!«, wehrte die Ältere mit gespieltem Schrecken ab. »Wir beide wissen, dass du in der Küche zwei linke Hände hast, also bleib schön, wo du bist, es dauert nicht lange. Wir können hier draußen essen, selbst im Schatten ist es wärmer als im Haus.«

Franziska nickte träge und gab sich, sobald Elsbeth in der Küche verschwunden war, wieder ihren angenehmen Tagträumen hin.

*

»Er gefällt mir nicht«, stellte Anna von Kant fest.

»Mir auch nicht«, stimmte Chris­tian ihr zu. Sie waren mit seinem Boxer Togo im Schlosspark unterwegs, wie immer im Anschluss an die Schule. Auf diesen Moment wartete Togo jeden Tag sehnsüchtig – und dann konnte er gar nicht genug bekommen vom Stöckchenwerfen und Herumjagen.

Anna und Christian sprachen über Alexis zu Randershausen, der überraschend auf Sternberg aufgetaucht war und bekundet hatte, ein Pferd kaufen zu wollen. Diese Information hatten sie nach ihrer Rückkehr aus der Schule von der Baronin erhalten, woraufhin sie sich sofort auf den Weg zu den Ställen gemacht hatten, weil sie neugierig auf Alexis waren. Doch der junge Mann hatte gerade mit Baron Friedrich über eine Stute verhandelt, deshalb hatte Friedrich sie mit dem Hinweis weggeschickt, sie könnten sich später noch mit Alexis unterhalten.

»Er hat kalte Augen«, fuhr Anna fort.

Diese Beobachtung hatte auch Christian gemacht, doch bevor er seiner Cousine beipflichten konnte, rief sie: »Da kommt noch ein Besucher, sieh mal!«

Tatsächlich fuhr in gemächlichem Tempo ein Auto den Waldweg hinauf, der schließlich in der langen Auffahrt zum Schloss mündete. Es war ein großer alter Wagen, den Christian als Erster erkannte: »Das ist Lucius!«, sagte er verwundert. »War er angekündigt?«

»Ich wusste jedenfalls nichts davon«, erklärte Anna. Sie liefen dem Wagen entgegen, der gleich darauf anhielt. Lucius stellte den Motor ab und stieg aus. »Hallo, ihr beiden«, sagte er und wurde im nächsten Augenblick bereits von Togo, der ihn ansprang, beinahe umgeworfen. »He, lass das, Togo«, rief er lachend. »Du bist stärker als ich.«

Anna und Christian begrüßten ihn stürmisch. Sie mochten den jungen Grafen sehr und freuten sich daher immer, ihn zu sehen. »Wieso hast du nicht gesagt, dass du kommen würdest?«, wollte Christian wissen.

»Weil ich diesen Besuch nicht geplant hatte«, erklärte Lucius. »Ich habe mir hier in der Nähe einige antike Möbel angesehen, die ich eventuell kaufen möchte. Sie müssten restauriert werden, und ich wollte die Schäden abschätzen. Das hat nicht so lange gedauert wie geplant, und da kam mir der Gedanke, dass es nett wäre, euch wenigs-tens kurz ›hallo‹ zu sagen. Und da bin ich.«

»Wir haben noch einen Besucher, der überraschend gekommen ist«, berichtete Anna, wobei ihre Mimik keinen Zweifel daran ließ, dass ihnen dieser andere Besucher bedeutend weniger lieb war als Lucius.

»Tatsächlich? Und um wen handelt es sich?«, fragte Lucius, ohne ernsthaft interessiert an der Antwort zu sein. Er fragte nur der Höflichkeit halber, weil Anna das zu erwarten schien. Umso überraschter war er jedoch, als er die Antwort hörte.

»Alexis zu Randershausen«, erklärte Anna. »Kennst du ihn?«

»Nein, nicht persönlich«, antwortete Lucius wahrheitsgemäß, »aber er hat eine Schwester, die zu meinen neuen Nachbarn gehört.«

»Franzi?«, rief Anna.

»Ja, sie heißt Franziska. Mein Onkel und ich haben sie gestern besucht – mein Onkel wird ihr vielleicht helfen bei einigen Reparaturen am Haus.« Lucius drückte sich absichtlich so vorsichtig aus. Noch wusste man ja nicht, wie die Hilfsaktion wirklich aussehen würde, und außerdem war Ulrich ein sehr diskreter Mensch, der sicherlich nicht wollte, dass man über sein Vorhaben viel redete.

»Ist es wirklich so schlimm mit dem alten Gutshaus?«, fragte Chris­tian besorgt. »Das haben wir nämlich von mehreren Leuten gehört, aber Franzi hat immer behauptet, das wäre übertrieben. Tante Sofia meinte, sie wollte nur nicht, dass wir uns verpflichtet fühlen, ihr zu helfen.«

»Leider muss man sagen, dass es wirklich nicht allzu gut aussieht«, erklärte Lucius. »Hört mal, ihr beiden, wollt ihr mit mir zum Schloss fahren? Togo könnte ja neben dem Wagen herlaufen, das wäre endlich einmal eine echte Herausforderung für ihn.«

Togo zeigte sich tatsächlich begeistert, als er gleich darauf versuchte, den Wagen zu überholen. Lucius spielte gutmütig mit und ließ den jungen Boxer gewinnen, sodass er sie hechelnd und mit weit heraushängender Zunge vor dem Hauptportal erwartete.

Als sie ausstiegen, kam Baron Friedrich mit seinem anderen Gast gerade aus den Ställen. Er machte die beiden jungen Männer miteinander bekannt.

Lucius lächelte freundlich, als er Alexis die Hand reichte. »Was für ein netter Zufall«, sagte er, »gerade erst habe ich Ihre Schwester kennengelernt, und jetzt begegnen wir uns.«

Auch Alexis lächelte, aber seine Augen blickten Lucius so kühl und distanziert an, dass er sich sofort unbehaglich zu fühlen begann.

»Ich muss leider sofort zurück«, sagte Alexis, »aber vielleicht sehen wir uns ja schon bald wieder.« Es blieb unklar, ob er Lucius oder die Sternberger damit meinte. Gleich darauf stieg er in seinen Sportwagen und fuhr davon.

Anna wiederholte die Worte, die sie zuvor schon zu Christian gesagt hatte. »Ich mag ihn nicht!«

»Anna!« Der Baron sah seine Tochter strafend an. Es war in Ordnung, wenn sie solche Bemerkungen innerhalb der Familie machte, aber vor einem weiteren Gast fand er sie ausgesprochen ungehörig. »Du hast ihn kaum zwei Minuten gesehen, da kann man sich noch kein Urteil über einen Menschen erlauben. Entschuldige, Lucius, normalerweise benehmen sich unsere Kinder besser, wie du weißt.«

Anna errötete bei dieser Rüge. Lucius jedoch betrachtete sie nachdenklich, hatte sie ihm doch aus der Seele gesprochen – und das hatte nichts mit den Überlegungen seines Onkels zu tun, ob Alexis oder seine Mutter Franziska beim Tode von Johannes zu Randershausen in irgendeiner Weise betrogen hatten. Nein, es war der merkwürdig kalte Ausdruck in den Augen des jungen Mannes gewesen, die ihn unangenehm berührt hatte.

Als sie zum Schloss gingen, raunte er Anna, die noch immer ein rotes Gesicht hatte, zu: »Ich mochte ihn auch nicht, Anna.«

Sie strahlte ihn dankbar an.

Gleich darauf begrüßten ihn Baronin Sofia und Konrad, und da sie einander lange nicht gesehen hatten, gab es viel zu erzählen. Alexis zu Randershausen wurde nur noch einmal erwähnt – er hatte eine sehr teure Stute gekauft, obwohl der Baron der Ansicht war, dass er sich für Pferde nicht sonderlich interessierte. »Wahrscheinlich denkt er, das gehört dazu«, beendete Friedrich seinen kurzen Bericht über den Besuch von Franziskas Halbbruder.

Lucius nahm die Einladung zum Abendessen dankend an und schaffte es ohne Probleme, das Gespräch auf Franziska zu lenken. Die Sternberger, das merkte er schnell, waren ihr von ganzem Herzen zugetan, und ihm selbst tat es gut, über sie zu reden.

Er wusste ja noch so wenig von ihr.

»Warum kommt ihr nicht mal zu Besuch?«, fragte er die Teenager. »Ihr könntet bei mir wohnen und eurer Freundin bei der Gelegenheit einen Besuch abstatten. Wie wäre das? Zum Beispiel am nächsten Wochenende?«

Anna und Christian waren hell­auf begeistert von diesem Vorschlag, Konrad freilich hatte bereits andere Pläne. Da weder Sofia noch Friedrich Einspruch erhoben, galt der Besuch von Anna und Christian damit als ausgemacht. »Aber erzähl Franzi nichts davon, Lucius«, bat der kleine Fürst. »Wir wollen sie überraschen, nicht, Anna?«

Seine Cousine nickte heftig, und so versprach Lucius hoch und heilig, er werde kein Wort über ihr Kommen verlieren.

Auf der Heimfahrt, einige Stunden später, dachte er intensiv an Franziska, die er am nächsten Tag wiederzusehen hoffte. Sein Onkel wollte mit der Dachreparatur beginnen, und er würde im Laufe des Nachmittags dazustoßen.

Er konnte es kaum erwarten.

*

»Mittagspause!«, rief Elsbeth am nächsten Tag den vier Männern auf dem Dach zu. »Das Essen ist fertig.«

»Wir kommen!«, rief Ulrich zurück.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis sie gemeinsam um den großen alten Tisch in der Küche saßen. Franziska war noch in der Schule, Elsbeth erwartete sie frühestens in zwei Stunden, dann würde sie ihr das Essen aufwärmen. Sie hatte eine kräftige Rindfleischsuppe mit Einlage gekocht.

»Schmeckt großartig«, stellte Ulrich anerkennend fest.

Seine drei Freunde nickten schweigend, das Reden überließen sie ihm. Sie waren älter als Ulrich, von ihrem Betrieb im Zuge von Sparmaßnahmen entlassen worden: Bodo Bauer, Kurt Wiesel und Armin Bock hießen sie. Ihren Händen sah man an, dass sie ihr Leben lang zugepackt hatten, ihre Gesichter waren zerfurcht, sie lächelten selten. Elsbeth ahnte, dass das Schicksal es nicht immer gut mit ihnen gemeint hatte, aber Einzelheiten wusste sie nicht. Auf jeden Fall war die Arbeit hier auf dem Gut ein Glücksfall für die drei.

Ulrich hatte für Franziska einen Finanzplan aufgestellt, mit dem sie sich einverstanden erklärt hatte. »Wenn das so geht, kann ich zumindest die Dachreparatur bezahlen«, hatte sie gesagt. »Das Teuerste scheint ja das Material zu sein. Alles Weitere muss ich dann sehen.«

»Kalt hier«, stellte Ulrich fest. »In den Räumen, in denen Sie sich oft aufhalten, brauchen Sie neue Fenster, unbedingt, sonst nützt das dichte Dach auch nichts, Frau Lüders.«

»Wem sagen Sie das«, seufzte Elsbeth. »Es ist ein Fass ohne Boden.«

»Ach was!«, ließ sich plötzlich einer der bis dahin schweigsamen Männer vernehmen. Es war Armin Bock, der Jüngste von ihnen. Elsbeth schätzte ihn auf Ende Vierzig. »Wenn das Haus erst einmal in Schuss ist, haben Sie für lange Zeit Ruhe, das schwöre ich Ihnen. Das ist großartig gebaut, im Sommer hält es kühl, im Winter warm – und sehen Sie sich die Fußböden an! Das ist noch richtig gute Arbeit. Aber viele Jahre ist eben nur das Nötigste gemacht worden, das rächt sich. Und Sie brauchen eine gute Heizung, die alte taugt nichts mehr, ich habe sie mir angesehen.«

»Verstehen Sie auch etwas von Heizungen?«, fragte Elsbeth überrascht.

»Das war mein erster Beruf«, brummte der Mann.

Elsbeth warf Ulrich einen fragenden Blick zu, den er mit einem vergnügten Lächeln beantwortete, bevor er erklärte: »Ich habe doch gesagt, wir kriegen das irgendwie hin mit dem Haus. Man muss nur gut planen und eins nach dem anderen machen.«

»Und man muss genug Geld haben«, warf Elsbeth ein.

»Eins nach dem anderen«, wiederholte Ulrich.

Nach der Mahlzeit wollten sich die Männer sofort wieder an die Arbeit machen, doch Elsbeth hielt sie zurück. »Es gibt noch Kaffee«, sagte sie. »Oder möchten Sie den lieber später trinken? Ich habe auch einen Kuchen gebacken.«

Bodo Bauer, der Älteste, strahlte. »Kuchen? Mann, wir sollten uns mit dem Dach nicht so beeilen, damit es länger dauert. Wenn Sie uns weiterhin so gut verpflegen, Frau Lüders, setzen wir noch Fett an.«

Sie lachten alle, es war das erste Mal, dass Elsbeth die Männer anders sah als still und in sich gekehrt.

»Wie wäre es später mit dem Kaffee?«, schlug Ulrich vor. »In etwa zwei Stunden freuen wir uns bestimmt wieder auf eine Pause.«

»Ich richte mich nach Ihnen«, erwiderte Elsbeth und lächelte ihn an.

Er erwiderte dieses Lächeln auf eine Art und Weise, die sie dazu brachte, sich eilig abzuwenden. Sie war doch kein Teenager mehr, dass sie beim Anblick eines Mannes, der ihr gefiel, sofort Herzklopfen bekam!

»Bis nachher dann«, sagte er leise. »Ich freue mich schon jetzt darauf.« Mit diesen Worten drehte er sich um und folgte den drei anderen Männern, die bereits wieder auf dem Weg zum Dach waren.

Leise summend begann Elsbeth den Tisch abzuräumen.

*

Es war eine Sache von nicht einmal einer halben Stunde, dann sah Ulrichs Haus aus, als hätte ein Orkan gewütet. Das Dach war zum Teil abgedeckt, der Zaun eingerissen, die Terrasse verwüstet, mehrere Fenster eingeschlagen, Fensterläden abgerissen, eine Wand mit Farbe verschmiert, die Haustür mit einer Axt zerkleinert. Auch das Innere des Hauses blieb nicht unange­tas­tet, aber hier hielten sich die Männer weisungsgemäß zurück, obwohl sie sich in einen regelrechten Rausch steigerten und am liebs-ten das gesamte Mobiliar zertrümmert hätten.

Doch das war nicht gewollt, und so zogen sie ab, nachdem ihr Anführer gesagt hatte: »Schluss jetzt, Männer, das reicht. Außerdem sollten wir sehen, dass wir wegkommen, man kann nie wissen, ob sich nicht doch gelegentlich jemand hierher verirrt.«

Ulrich von Rethmanns Haus lag ganz am Ende einer schmalen Straße, direkt am Waldrand. Sein nächster Nachbar war mehr als hundert Meter entfernt, sein Haus war von Ulrichs Grundstück aus nicht zu sehen. Ideale Bedingungen also für das Zerstörungswerk, für das die vier Männer so üppig im Voraus bezahlt worden waren.

»Hat Spaß gemacht«, sagte einer.

Ein anderer lachte. »Hätte noch mehr Spaß gemacht, wenn wir nicht mittendrin hätten aufhören müssen. Das war doch nichts Halbes und nichts Ganzes.«

»So lautete der Auftrag«, sagte der Anführer. »Auftrag ausgeführt, Abmarsch!«

Die anderen widersprachen nicht. Sie hatten sich dem Haus über den Wald genähert, und auf diesem Weg zogen sie sich nun auch wieder zurück. Ihre Motorräder hatten sie jenseits des Waldes unauffällig auf einem Supermarktparkplatz abgestellt, den sie innerhalb von zwanzig Minuten erreichten. Hier trennten sich ihre Wege. Sie wollten nicht auffallen, und fünf schwere Maschinen, die gemeinsam über eine Straße donnerten, fielen immer auf.

Zuerst fuhr der Anführer ab, dann folgten die anderen in Minutenabständen. Niemand würde sie mit dem, was in Ulrich von Rethmanns Haus geschehen war, in Verbindung bringen können.

*

»Robert!«, rief Dr. Walter Hornung erschrocken, als sein Freund ihm auf der Straße entgegenkam. Er hatte seine Sprechstunde soeben beendet und wollte nach Hause fahren. »Willst du noch zu mir?«

Robert von Hoyningens Blick war glasig, er war nass geschwitzt. »Ja«, stieß er hervor. »Ich … ich dachte, ich schaffe es nicht mehr bis hierher. Hilf mir, Walter. Bitte, hilf mir, ich weiß nicht mehr weiter.«

Walter nahm den Arm seines Freundes und führte ihn in die Praxis, wo er ihm half, sich auf der Untersuchungsliege auszustrecken. Man brauchte kein Arzt zu sein, um zu sehen, dass sich Roberts Zustand seit dem letzten Besuch in der Praxis, der ja erst vor Kurzem gewesen war, noch einmal deutlich verschlechtert hatte.

Er untersuchte seinen Freund, die Ergebnisse bestätigten, was er bereits erwartet hatte, aber er sagte dazu nichts. Jetzt war es zunächst wichtig, Robert zu beruhigen, denn dass dieser Angst hatte, war un­übersehbar. Er gab ihm eine Spritze, lagerte seine Beine hoch, half ihm, das durchgeschwitzte Hemd auszuziehen und ließ ihn ein Glas Wasser trinken. Dann deckte er ihn mit einer leichten Decke zu und nahm auf einem Stuhl neben der Liege Platz.

»Erzähl mir, was passiert ist«, bat er.

Zuerst glaubte er, Robert werde sich auch dieses Mal weigern, denn er schloss die Augen und schüttelte den Kopf, immer wieder. Doch nach einer Weile fing er an zu reden.

Walters Entsetzen wuchs, je länger er ihm zuhörte. »Robert!«, rief er endlich erschrocken. »Wieso hast du das getan?«

»Das habe ich dir doch schon gesagt: Ohne mein Geld bin ich nichts, eine Null, Walter. Guck mich doch an! Sieht so ein Mann aus, in den sich Frauen verlieben? Nein! Ich möchte aber, dass sich wenigs­tens eine Frau in mich verliebt, und deshalb …«

Walter Hornung hatte Mühe, die Fassung zu wahren und seinen Freund nicht anzuschreien. Es nützte ja nichts mehr, denn was geschehen war, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Jetzt galt es, ohne weiteren Schaden aus dieser Angelegenheit herauszukommen. »Und was hat er jetzt vor?«, fragte er. »Du hast gesagt, er lässt dich nicht in Ruhe, sondern will, dass du ihm weiter beim Betrügen hilfst.«

»Er hat sich ein teures Pferd auf Sternberg gekauft«, berichtete Robert müde. »Um zu sehen, wie das funktioniert, welche Papiere man da bekommt, welche Nachweise über den Stammbaum und so. Er will billige Pferde kaufen und sie mit gefälschten Papieren teuer wieder verkaufen. Er hat wohl jemanden an der Hand, der ihm die Pferde verschafft – die sehen gut aus, haben aber die berühmten Eltern nicht, die in ihren Papieren stehen werden.«

»Und du sollst ihm bei den Papieren helfen?«

Robert nickte. Er hielt die Augen noch immer geschlossen – vielleicht vor Erschöpfung, vielleicht aber auch, weil er seinem Freund nicht in die Augen sehen konnte. »Er wird mich hochgehen lassen, Walter, das hat er schon angedroht.«

»Aber dann geht er doch auch hoch, das wird er nicht riskieren.«

»Doch, wird er, weil er nämlich ohnehin nicht hierbleiben will, denke ich. Er wird sich absetzen, auf irgendeine Insel mit weißem Sand und Palmen. Geld hat er schon jetzt genug, um sein ganzes Leben lang nicht mehr arbeiten zu müssen. Wenn er die zehn Pferde, die er an der Hand hat, verkauft und sich dann noch das Gutshaus mit den Ländereien unter den Nagel reißen und es verkaufen kann, ist er superreich.«

»Woher weißt du, dass er sich absetzen will?«

»Ich habe einmal zufällig ein Telefongespräch belauscht. Er plant das wohl schon lange, und er fühlt sich sicher, weil er denkt, dass er mich vollkommen in der Hand hat. Stimmt ja auch.«

»Stimmt nicht«, widersprach Walter.

»Wenn du jetzt sofort zur Polizei gehst, wird er sich nicht mehr absetzen können.«

»Er weiß aber, dass ich das nicht tue. Ich bin ein unattraktiver Mann, Walter, aber ich bin wenigstens wohlhabend und habe einen angesehenen Beruf. Wenn mir auch der noch genommen wird, bleibt mir nichts mehr.«

»Weiß deine Sekretärin Bescheid?«

»Jetzt ja, ich habe ihr neulich die Wahrheit gesagt. Aber sie ist nicht beteiligt, in keiner Weise.«

»Und was sagt sie? Hat sie dir einen Rat gegeben?«

»Ja, sie hat in etwa das Gleiche gesagt wie du.«

»Kluge Frau«, stellte Walter fest. »Und loyal.«

»Sie ist die Beste, Walter.« Roberts Stimme erwärmte sich, er schlug sogar die Augen auf und sah seinen Freund an. »Sie ist im Grunde genommen das einzig Erfreuliche in meinem Leben – und das schon seit Jahren. Von dir einmal abgesehen.«

»Sie liebt dich eben«, stellte Walter trocken fest.

Robert fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. »Frau Aldekamp? Spinnst du?«

»Ich spinne nicht, ich bin nur nicht so blind wie du. Sie erträgt deine wechselnden dummen Freundinnen, die dich nur ausnehmen, sie macht ständig Überstunden, sie hört dir zu, wenn es dir schlecht geht, und sie leidet still, weil du sie als Frau noch nicht einmal wahrnimmst.«

Robert richtete sich halb auf und starrte seinen Freund an. »Ist das dein Ernst? Du glaubst, sie liebt mich?«

»Ich könnte es beschwören«, erklärte Walter. »Sie liebt dich, wie du bist. Oder hat sie dir gekündigt, als sie gehört hat, was du getan hast.«

»Nein, hat sie nicht«, murmelte Robert und ließ sich zurück auf die Liege sinken. »Ich wäre nicht einmal auf die Idee gekommen, mich um sie zu bemühen, Walter, dabei finde ich sie wirklich sehr, sehr anziehend.«

»Vielleicht denkst du mal darüber nach, warum du auf diese Idee nicht gekommen bist«, schlug Walter vor. »Ich lasse dich jetzt in meine Klinik bringen – und dort verfahren wir so, wie ich es dir bei deinem letzten Besuch schon vorgeschlagen habe. Von der Klinik aus kannst du dann Frau Aldekamp anrufen, damit sie deine Termine verlegt. Und vielleicht überlegst du mit ihr zusammen, wie du weiter vorgehen willst.« Walter schwieg einen Moment, dann setzte er hinzu: »Eins noch, das hätte ich beinahe vergessen: Ich bleibe dein Freund, auch wenn du dich falsch verhalten hast – nur, damit das klar ist.«

Roberts Augen füllten sich mit Tränen, als er leise: »Danke«, sagte.

*

»Ich kann es gar nicht fassen, wie weit Sie gekommen sind«, sagte Franziska, als sie nachmittags aus der Schule kam. Sie strahlte Ulrich und seine Helfer an, die sich durch ihre offensichtliche Freude nur noch mehr angespornt fühlten.

»Wir sind bestens verpflegt worden, das Wetter hat mitgespielt – und alles war gut vorbereitet«, erklärte Ulrich. »Außerdem ist das ein so schönes Haus, dass es Freu­-de bereitet, es wiederherzustellen. Solche massiven Mauern und ein so grundsolides Dach habe ich lange nicht mehr gesehen. Es wird uns alle überdauern.«

»Glauben Sie wirklich?«

»Ich bin fest davon überzeugt.«

Sie ließ den Blick über die Fassade gleiten, ihr Gesicht wurde weich. »Ich habe so viele schöne Erinnerungen an dieses Haus«, sagte sie leise. »Es war immer mein Freund. Das klingt vielleicht albern, aber so habe ich es empfunden.«

»Es klingt nicht albern«, widersprach Ulrich. »Ganz und gar nicht. Ich habe meinem Haus gegenüber ähnliche Gefühle.«

»Wirklich? Es freut mich, dass Sie das sagen.«

»Ich möchte noch etwas mit Ihnen besprechen«, sagte er. »Haben Sie einen Moment Zeit?«

»Ich bin nur schrecklich hungrig«, gestand sie. »Aber wenn es nicht allzu lange dauert …«

»Meine drei Freunde würden die Arbeit hier gern fortsetzen – auch wenn das Dach fertig ist. Armin ist zum Beispiel auch Heizungsbauer, ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, was das bedeutet. Und was das Einsetzen der neuen Fenster angeht, da brauche ich natürlich auch

Hilfe …«

»Moment, Moment!«, rief Franziska. »Mein Geld reicht für das Dach – erst einmal. Ich weiß, dass die Heizung erneuert werden muss, dass ich neue Fenster brauche, aber das kann ich nicht bezahlen, Graf von Rethmann!«

Ulrich zuckte zusammen. »Lassen Sie diesen Titel weg«, knurrte er, »der hat mit mir überhaupt nichts zu tun. Nennen Sie mich doch einfach Ulrich.«

Sie hielt ihm die Hand hin. »Franziska«, sagte sie. »Dann können wir uns auch gleich duzen, oder?«

Er lächelte.

»Gern. Für meine Freunde bin ich Uli.«

»Franzi.«

Sie lachten beide, wurden jedoch schnell wieder ernst. »Ich kann mir das nicht leisten, Uli«, wiederholte Franziska.

»Doch, kannst du«, widersprach er hartnäckig. »Also, meine Freunde sind alleinstehend. Bodo ist geschieden, Kurt ist Witwer, Armin war nie verheiratet. Sie haben keine Arbeit und wenn sich nicht bald etwas tut, dann rutschen sie ab, wenn du verstehst, was ich meine. Sie haben keine Aufgabe, die Kinder, sofern sie welche haben, kommen nur ab und zu vorbei, die Freunde, die noch arbeiten, haben keine Zeit oder wenden sich ab. Bodo trinkt schon jetzt ab und zu einen über den Durst, weil er einsam ist und nichts zu tun hat.«

Er wollte noch weiterreden, aber sie hatte bereits verstanden, worauf er hinauswollte. »Du meinst, das Haus ist groß genug für mindestens zehn Leute – also könnten sie hierherziehen und statt Miete zu zahlen, arbeiten sie?«

»Ist bisher nur so eine Idee, die mir tatsächlich auch erst heute gekommen ist, als ich sah, mit wie viel Begeisterung sie bei der Sache sind und wie gut es ihnen getan hat, mittags von Frau Lüders so liebevoll verpflegt zu werden. Ich dachte, ich erzähle dir das, damit wir vielleicht zusammen darüber nachdenken können. Ist ja auch möglich, dass du keine drei Männer im Haus haben willst. Dann vergiss einfach, was ich gesagt habe.«

Sie sah ihn versonnen an. »Das ist die beste Idee, die ich seit Langem gehört habe, Uli«, stellte sie fest.

»Tatsächlich?« Er freute sich. »Du denkst also darüber nach?«

»Ich muss mit Elsbeth darüber reden«, erklärte Franziska. »Ohne Elsbeth kann ich eine solche Entscheidung nicht fällen. Und natürlich müssen wir das auch noch einmal durchrechnen. Ich kann ja nicht mit meinem Lehrerinnengehalt uns alle ernähren.«

»Nein, das kannst du sicher nicht, aber ich denke, da wird sich eine Lösung finden lassen. Die drei bekommen ja noch Geld, weil sie lange gearbeitet haben, bevor man sie rausgeworfen hat.«

Ein Wagen fuhr auf den Hof, es war Lucius. Ulrich musste lächeln, als er sah, wie Franziskas Augen aufleuchteten.

Mit langen Schritten kam Lucius auf sie zu.

»Weiß er von deiner Idee?«, fragte Franziska.

»Nein, wie denn? Ich hatte sie doch erst vor ein paar Stunden.«

»Sieht ja toll aus, das Dach!«, sagte Lucius zur Begrüßung.

»Ja, wir sind gut vorangekommen«, erklärte Ulrich. »Franzi hat das auch schon festgestellt.«

»Franzi?«, wunderte sich Lucius. »Ihr duzt euch?«

»Das sollten wir vielleicht allgemein einführen«, schlug Franziska vor, »auch mit den anderen, es vereinfacht die Sache. Elsbeth hat sicher nichts dagegen, und wie ist es mit deinen Freunden, Uli?«

»Auch nicht«, erklärte er. »Sag mal, hattest du nicht so schrecklichen Hunger?«

»Und wie!« Sie lachte. »Aber ich freue mich einfach so, dass das Haus jetzt in guten Händen ist, dass ich meinen Hunger vergessen habe. Bleibt ihr noch?«

Beide Männer nickten.

»Dann esse ich jetzt erst einmal.« Mit schnellen Schritten verschwand sie im Haus.

Lucius seufzte. »Sie ist hinreißend, Onkel Uli.«

»Ja, das ist sie«, bestätigte Ulrich. »Komm mit nach oben, dann zeige ich dir das Dach aus der Nähe.«

Sie stiegen also nach oben, während Franziska in der Küche mit gutem Appetit die Rindfleischsuppe aß und Elsbeth dabei von Ulrichs Idee erzählte.

»Interessant«, sagte Elsbeth. »Aber das will natürlich gut überlegt sein. Wir kennen die Männer kaum.«

»Aber Uli kennt sie«, stellte Franziska fest. »Und ich vertraue ihm.«

»Uli?«, fragte Elsbeth mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Wir sollten uns alle duzen, Elsbeth. Also, was meinst du?«

»Eine alte Regel meiner Großmutter besagt, dass man wichtige Entscheidungen nicht übers Knie brechen soll – zumindest muss man sie überschlafen. In diesem Fall schlage ich vor, dass wir uns mindestens zwei Wochen Zeit lassen, Franzi. Das ist eine Entscheidung, die weitreichende Folgen haben wird. Ich finde die Männer bis jetzt sympathisch, aber das ist auch nicht schwer: Sie arbeiten hart und reden wenig. Vielleicht haben sie aber Eigenschaften, die uns nicht gefallen.«

»Einverstanden, wir lassen uns Zeit«, sagte Franziska, »das kommt mir auch vernünftig vor. Aber du bist nicht grundsätzlich dagegen?«

»Ganz bestimmt nicht. Es könnte sehr angenehm sein, mit mehreren hier zu wohnen. Und Arbeit für alle gibt es mehr als genug – wenn ich allein an den Garten denke …«

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht.« Franziska schob ihren Teller von sich. »Das war sehr lecker, Elsbeth – und jetzt steige ich mal nach oben und sehe mir genauer an, was die Männer geleistet haben.«

»Tu das.« Elsbeth dachte beim Abräumen über Ulrich von Rethmanns Vorschlag nach. Nicht schlecht, wahrhaftig nicht schlecht!

*

»Scheich Omar möchte Sie sprechen, Herr Baron«, sagte Eberhard Hagedorn. »Es scheint sehr dringend zu sein, er klingt ziemlich aufgebracht.«

Scheich Omar war ein regelmäßiger Besucher auf Schloss Sternberg, er kaufte fast all seine Pferde hier.

»Stellen Sie durch, Herr Hagedorn«, bat Friedrich.

»Baron Friedrich«, grollte gleich darauf der Scheich, »seit wann achten Sie nicht mehr auf Qualität?«

»Wie bitte, Scheich Omar?«, fragte der Baron überrascht. »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht folgen.«

»Uns wurde gestern ein Angebot für einen einjährigen Hengst unterbreitet, in Ihrem Namen, das mein Assistent meinte, nicht ablehnen zu können. Es klang fantastisch, und es schien so, als wäre es genau das Tier, nach dem wir gerade suchen.«

»Ich habe Ihnen kein Angebot unterbreitet«, unterbrach der Baron die aufgebrachte Rede des Scheichs. »Sie wissen doch, dass bei uns ganz altmodisch immer noch alles über persönliche Kontakte läuft. Wie ist Ihnen dieses angebliche Angebot von uns denn zugegangen?«

»Oh, es war, wie Sie sagen, ganz ›altmodisch‹!«, rief der Scheich. »Ich bin zurzeit in Berlin, und dort im Hotel bekam ich die Unterlagen über das Pferd zugestellt. Wie gesagt, ich hatte keine Zeit, mich selbst darum zu kümmern, aber mein Assistent fand, wir sollten zugreifen. Dabei hat er sich natürlich auf Ihren Sachverstand verlassen. Die Papiere waren in Ordnung, mit Brief und Siegel …«

»Aber?«, fragte Friedrich.

»Das Pferd ist eine Niete. Es sieht zwar gut aus, aber es taugt nichts. Ich habe es, weil ich irgendwie misstrauisch geworden bin, umgehend überprüfen lassen … Es war bereits in Berlin, auch das hat mich verwundert, muss ich gestehen. Es entspricht nicht dem üblichen Vorgehen.«

»Allerdings nicht. Von uns ist, wie gesagt, kein Angebot an Sie geschickt worden, Scheich Omar«, wiederholte der Baron. »Sie verstehen sicher, dass ich der Sache unbedingt nachgehen möchte. Könnten Sie mir die Papiere zukommen lassen? Es muss sich um Fälschungen handeln. Wer ist denn als Person in Erscheinung getreten bei diesem Handel?«

»Niemand«, erklärte der Scheich. Seine Stimmlage hatte sich mittlerweile verändert. »Es tut mir leid«, sagte er jetzt, »ich hätte gleich wissen müssen, dass jemand einen Betrugsversuch unternimmt, aber die Papiere sahen wirklich täuschend echt aus, und ich habe gedacht, dass Ihnen vielleicht die Zeit fehlt, mich direkt zu kontaktieren …«

»Scheich Omar, ich bitte Sie!«, rief der Baron. »Wie lange kennen wir uns jetzt? Hat mir bisher auch nur ein einziges Mal die Zeit gefehlt? Unser Geschäft ist Vertrauenssache, da zählen persönliche Beziehungen. Darf ich fragen, wie viel diese Unbekannten für das Pferd verlangt haben?«

»Beinahe eine Million – wegen des Stammbaums.« Scheich Omar nannte die angeblichen Eltern des Pferdes und setzte hinzu: »Das Geld ist bezahlt, das Pferd ist ein nettes Reitpferd für Kinder. Es sieht großartig aus, aber mittlerweile haben wir das untersuchen lassen. Man hat keine Mühe gescheut, um es wie ein edles Rennpferd aussehen zu lassen. Leider versteht mein Assistent nicht allzu viel von Pferden – ich hätte mich nicht so leicht täuschen lassen. Aber als er sagte, das Angebot sei von Ihnen gekommen, habe ich ohne zu zögern mein Okay gegeben.«

»Ich brauche die Papiere, Scheich Omar. Und dann werde ich übers Internet umgehend all unsere Kunden warnen, damit so etwas nicht noch einmal geschieht. Au­ßerdem müssen wir sofort die Polizei einschalten.«

»Ja, allerdings«, stimmte der Scheich zu. »Ich entschuldige mich noch einmal, Baron Friedrich, dass ich auch nur eine Sekunde glauben konnte, Sie hätten mir ein minderwertiges Pferd verkauft.«

»Wenn die Papiere so täuschend echt aussahen, ist das verständlich«, erwiderte der Baron.

Nach dem Gespräch informierte er zunächst seinen Stallmeister und den Verwalter, dann setzten sie gemeinsam eine E-Mail an die Kunden auf, die umgehend verschickt wurde. Als das erledigt war, griff der Baron zum Telefon und erstattete Anzeige gegen Unbekannt.

*

Alexis machte sich nicht die Mühe, Ulrichs Haus nach dem Besuch der Männer, die er angeheuert hatte, aus der Nähe zu begutachten. Die Spuren der Zerstörung waren auch aus der Entfernung gut sichtbar. Die Männer hatten ganze Arbeit geleistet – fast sogar zu viel des Guten getan, aber das störte ihn nicht weiter. Auf jeden Fall würde er sein Ziel erreichen: Wenn Ulrich von Rethmann diese Schäden beheben wollte, war er mehrere Wochen, wenn nicht Monate, beschäftigt, und ihm würde keine Zeit für Franziskas Gut bleiben.

Alexis hatte klar umrissene Pläne. Wenn er die Pferde, die er billig erworben hatte, teuer verkauft und sich außerdem noch das Gut mit dem umliegenden Land angeeignet hatte, um es ebenfalls teuer zu verkaufen, konnte er sich am anderen Ende der Welt ein neues Leben aufbauen. Geld in Hülle und Fülle, keine Verpflichtungen mehr, keine Zwänge. Er würde nur noch tun, was ihm gefiel, und niemand konnte ihn mehr daran hindern. Wenn seine Mutter ihn sehen wollte, würde sie ihn besuchen müssen, denn ihm war schon klar, dass seine krummen Geschäfte vielleicht irgendwann ans Licht kamen, also konnte er nicht nach Deutschland zurückkehren. Doch das kümmerte ihn nicht. Im Augenblick jedenfalls machte er sich keinerlei Sorgen – ihm kam niemand so leicht auf die Schliche.

Der einzige Unsicherheitsfaktor war Robert von Hoyningen, doch den hatte er in der Hand. Außerdem war er ein schwacher Charakter, der es niemals wagen würde, seine eigene Existenz aufs Spiel zu setzen, um ihn, Alexis, auffliegen

zu lassen.

Er warf noch einen letzten zufriedenen Blick auf das jammervoll zugerichtete Haus, bevor er sich abwandte. Ein weiteres Problem war gelöst, er kam seinem Ziel jeden Tag ein Stück näher. Und der erste Pferdeverkauf war auch bereits völlig reibungslos über die Bühne gegangen. So leicht also konnte man heutzutage eine knappe Million verdienen.

Er lachte in sich hinein. »Ich bin ein Genie!«, murmelte er.

*

»Bis morgen«, sagte Lucius, als er sich von Franziska verabschiedete.

»Du musst doch arbeiten«, erwiderte sie.

»Aber hinterher komme ich, um zu begutachten, was mein Onkel und seine Freunde geleistet haben.«

»Du Angeber!«, rief Ulrich. »Habt ihr das gehört, Männer?«

Bodo, Kurt und Armin grinsten. »Wenn er uns am Wochenende helfen will«, meinte Kurt, »dann kann er uns ja zeigen, was er kann.«

»Und was soll ich morgen kochen?«, fragte Elsbeth. »Hat jemand einen Wunsch?«

»Schnitzel mit Pommes und Salat«, antwortete Armin sehnsüchtig. »Das habe ich schon so lange nicht mehr gegessen. Früher …« Er verstummte, bevor er verlegen hinzusetzte: »Früher gab es das bei uns öfter, das war immer mein Lieblingsessen.«

»Alle einverstanden?«, fragte Elsbeth.

Einstimmiges Nicken antwortete ihr, daraufhin fuhren die Männer ab. Lucius brachte Bodo und Kurt nach Hause, Ulrich nahm Armin mit.

Als Lucius die Männer abgesetzt hatte, beschloss er, noch einmal bei Ulrich vorbeizufahren. Sein Onkel war der einzige Mensch, mit dem er offen über seine Gefühle für Franziska reden konnte – und danach sehnte er sich jetzt.

Als er die Straße hinauffuhr, an dessen Ende Ulrichs Haus stand, beschlich ihn plötzlich ein seltsames Gefühl. Später kam er zu der Erkenntnis, dass er wohl eine Art Vorahnung gehabt hatte. Ulrich war noch nicht da – Armin wohnte ein ganzes Stück entfernt.

Lucius’ Blick fiel auf das Haus, und vor Schreck trat er so heftig auf die Bremse, dass der Motor stotternd erstarb. Das Haus sah aus, als hätte ein Sturm gewütet – doch das Wetter war ja vollkommen ruhig gewesen, diese Erklärung für die Verwüstungen fiel also aus.

Das Herz schlug ihm bis zum Hals, seine Hände krampften sich um das Lenkrad seines Wagens. Was war da passiert? Er stellte fest, dass er davor zurückschreckte, weiterzufahren. Langsam stieg er aus und spähte zum Haus hinüber. Nur zögernd nahm sein Gehirn die Einzelheiten wahr: das teilweise abgedeckte Dach, die zerhackte Eingangstür, die niedergerissenen Zäune, die eingeschlagenen Fenster.

Er hörte, wie sich ein Wagen näherte und zuckte vor Schreck zusammen. Kamen diejenigen, die für die Verwüstung verantwortlich waren, noch einmal zurück? Würden sie jetzt auch ihn angreifen, weil er die Schandtat entdeckt hatte? Aber als er sich umdrehte, erkannte er den Wagen seines Onkels. Er erschrak erneut. Wenn der Anblick des Hauses schon auf ihn eine solche Wirkung ausübte – um wie vieles schlimmer musste er dann für Ulrich sein!

Ulrich hupte, doch Lucius war unfähig, sich zu rühren. Er sah seinen Onkel nur an, daraufhin stieg dieser ebenfalls aus. Er setzte schon zu einer Frage an, als sich seine Augen plötzlich weiteten: Nun hatte auch er entdeckt, was geschehen war.

»Nein!«, stieß er hervor. Gleich darauf stürzte er vorwärts, Lucius folgte ihm. Die Autos ließen sie mitten auf der Straße stehen.

Was nun folgte, beschrieben beide Männer später als Albtraum. Zögernd und mit angehaltenem Atem betraten sie das Haus, liefen durch die Zimmer, registrierten die Schäden, ohne wirklich zu begreifen, wie das alles hatte geschehen können. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis Ulrich imstande war, zum Telefon zu greifen und die Polizei anzurufen.

Danach setzte sich der Albtraum fort, denn nun mussten Spuren gesichert, das Grundstück abgesperrt werden. Da die Haustür nicht mehr existierte und mehrere Fenster eingeschlagen worden waren, hätte sonst jeder, der vorbeikam, das Haus ungehindert betreten können.

Noch während die Beamten ihrer Arbeit nachgingen, rief Lucius auf Gut Randershausen an, um Franziska und Elsbeth zu benachrichtigen. Nun waren alle schönen Pläne hinfällig, die sie gemacht hatten, denn Ulrich würde für lange Zeit damit beschäftigt sein, das eigene Haus wieder herzurichten.

*

Franziska war leichenblass, als sie zu Elsbeth zurückkehrte. Die beiden Frauen hatten noch draußen gesessen, der Abend war schön und mild, und nach wie vor war die Temperatur zumindest tagsüber draußen angenehmer als im Haus.

»Ist etwas passiert?«, fragte Elsbeth beunruhigt. Das Telefon hatte Franziska zuvor ins Haus gerufen.

»Ulis Haus ist vollkommen demoliert worden«, antwortete Franziska tonlos. »Das war Lucius, er war den Tränen nahe. Er sagte, so etwas hätte er in seinem ganzen Leben noch nicht gesehen.« Sie beschrieb Elsbeth, was sie soeben gehört hatte.

Elsbeth war nicht weniger entsetzt, sie hatte sich jedoch besser unter Kontrolle. »Aber wer tut denn so etwas – und warum?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn. »Ich verstehe das nicht, Franzi.«

»Wer versteht so etwas schon? Er tut mir so leid, Elsbeth – er ist so ein feiner Mann. Warum machen Menschen so etwas?«

»Hatte er Geld und Wertsachen im Haus?«

»Das weiß ich nicht. Lucius hat nur erwähnt, dass offenbar nichts gestohlen worden ist. Er meinte, da wäre jemand aus purer Lust an der Zerstörung am Werk gewesen. Jedenfalls ist das das Ende unserer Pläne für das Gutshaus.«

Elsbeths Blick glitt in die Ferne. »Vielleicht«, murmelte sie nach einer Weile nachdenklich, »ist das der wahre Grund für die Zerstörung.«

»Was meinst du denn damit?«

»Dass es nicht um Ulis Haus ging, sondern um deins. Dass es jemandem nicht gefällt, wenn hier plötzlich gearbeitet wird und es so aussieht, als bliebst du hier.«

»Ich verstehe dich immer noch nicht«, erklärte Franziska unsicher.

»Bist du noch nie auf die Idee gekommen, dass es mit dem Testament deines Vaters vielleicht nicht ganz seine Richtigkeit hatte?«

»Ich … aber was willst du denn damit sagen?«

»Das weißt du genau. Also? Hast du darüber noch nie nachgedacht?«

Franziska schluckte, bevor sie zögernd gestand: »Ich fand es seltsam, dass Papa mir nicht mehr Geld hinterlassen hat, obwohl er wusste, dass das Haus saniert werden muss, aber dann habe ich mir gesagt, dass ich kein Recht habe, seine Entscheidungen anzuzweifeln, Elsbeth.«

»Aber trotzdem ist und bleibt es merkwürdig«, murmelte Elsbeth. Sie hatte noch mehr sagen wollen, verfolgte ihren Gedankengang jedoch nicht weiter, als sie sah, dass Franziska ihr ohnehin nicht mehr zuhörte, weil sie sich bereits wieder mit Ulrich von Rethmanns zerstörtem Haus beschäftigte. Stattdessen sagte sie: »Vielleicht können wir ihm jetzt helfen.«

»Das werden wir ihm auf jeden Fall anbieten«, erwiderte Franziska. Sie war noch immer blass, ihre Stimme zitterte.

»Zum Glück ist Uli nichts passiert.« Jetzt erst war auch Elsbeth anzumerken, wie tief die schlimme Nachricht sie getroffen hatte. »Wenn die Einbrecher da so gewütet haben … Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn Uli sie überrascht hätte.« Sie griff nach Franziskas Hand. »Morgen Nachmittag, wenn du aus der Schule zurück bist, fahren wir zu ihnen und fragen, ob wir etwas für sie tun können.«

Franziska nickte, wenig später gingen sie ins Haus. Ein schöner

Tag war überaus hässlich zu Ende gegangen.

*

»Frau Aldekamp, Sie sind wirklich gekommen?«, rief Robert von Hoyningen, als seine Sekretärin das Zimmer betrat, in dem Walter Hornung ihn untergebracht hatte.

»Das war doch selbstverständlich«, erwiderte sie. »Geht es Ihnen besser, Herr von Hoyningen? Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht.«

»Ja, danke, es geht mir besser, aber nicht gut. Ich muss ein paar Entscheidungen fällen, die auch Sie betreffen. Wenn ich mich nämlich der Polizei stelle, dann kann ich meine Arbeit nicht fortsetzen, und damit verlieren Sie Ihre Stelle. Das ist Ihnen doch klar?«

»Ja, das ist mir klar«, antwortete sie.

»Trotzdem wollen Sie, dass ich das tue?«

»Sie werden sonst Ihres Lebens nicht mehr froh, Herr von Hoyningen, und deshalb müssen Sie es tun.«

»Frau Aldekamp …« Robert brach ab, setzte erneut an. »Ich glaube, ich habe Sie in all den Jahren, seit Sie für mich arbeiten, nicht richtig zu schätzen gewusst.«

Sie errötete, während sie abwehrend sagte: »Sie waren ein sehr guter Chef, Herr von Hoyningen, Sie haben sich nichts vorzuwerfen.«

»Das meinte ich nicht«, entgegnete er leise. »Sie haben immer zu mir gehalten, mir den Rücken frei gehalten, viel mehr gearbeitet, als Sie gemusst hätten – und ich …«

»Aber ich bitte Sie, Herr von Hoyningen! Sie haben mich sehr gut bezahlt, und ich habe nur meine Arbeit getan.«

»Eben nicht! Sie haben viel mehr für mich getan, und ich habe es nicht einmal bemerkt. Für mich waren Sie die perfekte Sekretärin, aber ich hätte sehen sollen, dass Sie auch ein guter Mensch und eine anziehende Frau sind. Stattdessen war ich damit beschäftigt …«

Sie unterbrach ihn sanft, aber nachdrücklich. »Sie waren unglücklich, Herr von Hoyningen, und wenn man unglücklich ist, macht man Fehler. Einer war es, dass Sie sich immer die falschen Frauen ausgesucht haben, die sich nichts aus Ihnen gemacht haben, sondern nur Ihr Geld wollten. Der andere Fehler war es, sich auf Alexis zu Randershausen einzulassen. Aber Sie können mit beidem aufhören und ein neues Leben anfangen.«

»Das wird dann aber sehr viel bescheidener ausfallen als das bisherige«, gab er zu bedenken. »Und ich weiß nicht einmal, welche Art Arbeit ich in Zukunft noch ausführen kann und ob ich dazu eine Sekretärin brauche.«

»Es findet sich immer ein Weg, wenn man will«, erwiderte sie ruhig. »Mir ist vor der Zukunft nicht bange – aber Leute wie Alexis zu Randershausen sollten darin keine Rolle mehr spielen.«

»Das kann ich versprechen.« Roberts Stimme klang feierlich.

Ihre Blicke begegneten sich, er tastete nach ihrer Hand, die sie ihm bereitwillig überließ. Ihr Lächeln machte ihn glücklich.

Wenn sie an seiner Seite war, das wusste er jetzt, musste auch er sich vor der Zukunft nicht fürchten, nicht einmal, wenn man ihn für das, was er getan hatte, zur Verantwortung ziehen würde.

*

»Hallo, Lucius«, sagte der kleine Fürst, nachdem Eberhard Hagedorn das Gespräch zu ihm durchgestellt hatte. »Übermorgen kommen wir zu dir – es bleibt doch dabei?«

»Eigentlich wollte ich euch ausladen, Chris«, gestand Lucius. »Deshalb rufe ich auch an, es ist nämlich etwas passiert.« Er beschrieb in wenigen Worten, dass unbekannte Täter Ulrichs Haus verwüstet hatten und setzte hinzu: »Das war gestern, und hier ist natürlich ziemlich viel los, die Polizei geht ein und aus, verhört die Anwohner, sucht nach Spuren. Und ich möchte mich jetzt vor allem um meinen Onkel kümmern, das verstehst du sicher. Also …«

»Bitte, Lucius, lass uns trotzdem kommen!«, drängte Christian. »Wir haben schon viele Geheimnisse aufgedeckt, vielleicht finden wir etwas heraus und können euch helfen. Wir fallen dir ganz bestimmt nicht zur Last, das schwöre ich, wir sind ja keine Kleinkinder mehr, um die man sich ständig kümmern muss. Bitte, Lucius.«

Lucius war eigentlich fest entschlossen gewesen, den Besuch der beiden Teenager auf einen anderen Termin zu verlegen, nun wurde er wieder schwankend. »Ich weiß nicht recht, Chris …«

»Bitte! Du musst dich ehrlich überhaupt nicht um uns kümmern – und wir könnten Franzi trösten, weil doch jetzt dein Onkel keine Zeit mehr für das Gutshaus hat. Das ist bestimmt schlimm für sie.«

Der kleine Fürst hatte Recht mit diesem Argument, erkannte Lucius, und das gab den Ausschlag. »Gut«, sagte er, »du hast mich überzeugt. Außerdem könnt ihr vielleicht nicht nur Franzi und Elsbeth aufheitern, sondern auch meinen Onkel und mich, wir haben es wahrhaftig nötig.«

»Wir sind gut im Aufheitern«, versicherte Christian. »Herr Wiedemann wollte uns direkt zu dir bringen – oder ist das jetzt unpraktisch?« Per Wiedemann war der Chauffeur auf Schloss Sternberg.

»Nein, nein, wenn ich weiß, um welche Zeit ihr ankommen werdet, erwarte ich euch zu Hause.«

Sie verabredeten eine Uhrzeit und verabschiedeten sich voneinander. Danach stellte Lucius fest, dass er beinahe erleichtert darüber war, die beiden Jugendlichen nicht ausgeladen zu haben.

Sie würden ihn zumindest auf andere Gedanken bringen!

*

Bodo, Kurt und Armin hatten sich auch ohne Ulrich eingefunden. »Wir haben mit ihm gesprochen«, erklärten sie der überraschten Elsbeth, die fest davon ausgegangen war, dass die drei Männer nun zuerst Ulrich helfen würden, sein Haus wieder bewohnbar zu machen. »Er will das Haus jetzt nicht machen lassen.«

»Nicht?«, fragte Elsbeth verwirrt. »Aber … Er kann es doch nicht so stehen lassen, wie es ist. Da kann ja dann jeder rein – und Wind und Wetter können weitere Schäden anrichten.«

»Er wird das Dach notdürftig reparieren«, erklärte Bodo Bauer, »Haustür und Fenster nagelt er zu, damit niemand eindringen kann, und dann lässt er es erst einmal so stehen, wie es jetzt ist.«

Elsbeth traute ihren Ohren nicht. »Und wo will er hin?«, rief sie.

»Er will euch fragen, ob ihr ihn eine Weile aufnehmt«, antwortete Kurt. »Er glaubt nämlich, dass es gar nicht um sein Haus ging, sondern um dieses Haus hier.«

»Ach«, murmelte Elsbeth. »Sieh mal einer an, diese Idee ist mir auch schon gekommen.«

»Wir machen dann mal weiter«, kündigte Armin an und verschwand mit den beiden anderen auf dem Dach.

Elsbeth sank auf einen Küchenstuhl und dachte nach. Franziska war bereits in der Schule, sie würde nicht weniger überrascht sein als sie selbst, wenn sie zurückkehrte und die Männer bei der Arbeit vorfand.

Als es an der Küchentür klopfte, fuhr sie auf. Entgeistert sah sie Ulrich an, der gleich darauf hereinkam. »Du?«, fragte sie. »Ich dachte, dass du damit beschäftigt bist, dein Haus zu vernageln.«

»Das hat Zeit«, erklärte er. »Die Polizei geht nach wie vor ein und aus, ich stehe denen nur im Weg, und da ich keine Wertgegenstände besitze, die man mir stehlen könnte, bin ich lieber hierhergekommen, damit wir wenigstens hier Fortschritte machen.«

»Du wirkst sehr gelassen«, wunderte sie sich.

»Du hättest mich gestern sehen sollen – da war ich vollkommen fassungslos. Aber seitdem hatte ich Zeit zum Nachdenken, und ich habe ein paar Ideen, was hinter diesem Anschlag stecken könnte.« Er lächelte auf sie hinunter. »Dass man dich mal sitzen und nachdenken sieht, ist eine Seltenheit, Elsbeth.«

»Setz dich auch und trink einen Kaffee mit mir«, bat sie. »Du denkst also auch, es könnte um dieses Haus gegangen sein und nicht um deins? Die anderen haben so etwas angedeutet.«

»Auch?«, fragte er. »Wer denkt das noch?«

»Ich«, antwortete sie ruhig. »Franzi will davon natürlich nichts hören – noch nicht. Aber wenn sie Zeit hat, darüber nachzudenken, fällt ihr vielleicht auch auf, dass diese ganze Geschichte mit dem Tes­tament hinten und vorne nicht stimmen kann. Ich habe den Gedanken bisher immer verdrängt, dass ein ziemlich dreister Betrug dahinterstecken muss – aber eigentlich ist es völlig klar, dass Johannes zu Randershausen seine Tochter niemals so … so unversorgt zurückgelassen hätte.«

»Also hat die zweite Frau gemeinsam mit ihrem Sohn ein falsches Testament vorgelegt?«

»Frau zu Randershausen? Das glaube ich eher nicht, ihrem Sohn dagegen traue ich einiges zu. Allerdings war das Testament notariell beglaubigt, das kann er nicht allein gemacht haben.«

»Ein Notar, der ein Testament fälscht?«, fragte Ulrich mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Er riskiert sehr viel, wenn er so etwas macht.«

»Das ist der Punkt, an dem ich immer aufgehört habe, zu grübeln«, gestand Elsbeth. »Es klingt einfach zu unwahrscheinlich. Zumal Franzis Vater schon seit Jahren mit Herrn von Hoyningen zusammengearbeitet hat.«

»Was ist er für ein Mann, dieser Notar?«, erkundigte sich Ulrich.

»Ein armer Kerl!«, erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen. »Klein, dick und nicht sehr attraktiv, muss man sagen. Aber ausgesprochen klug, und so hat er sich schnell einen Namen gemacht – und ein ansehnliches Vermögen. Aber als Mann fehlt es ihm an Selbstvertrauen. Er hatte immer eine schöne Frau an seiner Seite, die er, wenn ich das mal so deutlich sagen darf, natürlich ausgehalten hat. Wenn sie genug Schmuck und Kleider von ihm bekommen hatten, war die Sache immer sehr schnell beendet.«

»Ach so«, murmelte Ulrich. »Ich verstehe. Für ihn ist Geld das Mittel, um die Rolle zu spielen, die er gern spielen will. Das könnte bedeuten, dass er tatsächlich bereit wäre, einen Betrug zu begehen, wenn es sich für ihn lohnt.«

»Möglich wäre es«, gab Elsbeth zu, »nur beweisen lässt sich das nicht. Es ist kein anderes Testament aufgetaucht, nichts wies darauf hin, dass es eins gegeben haben könnte. Und es gab auch keinen Hinweis darauf, dass Herr zu Randershausen seinem Notar misstraute.«

Ulrich trank seinen Kaffee aus. »Ich muss darüber nachdenken«, sagte er. »Und jetzt gehe ich aufs Dach, um den anderen zu helfen. Danke, Elsbeth.«

»Wir haben zu danken«, erwiderte sie. »Dass du in einer solchen Situation hierherkommst, um uns zu helfen – damit haben wir nicht gerechnet.«

Er hielt ihren Blick fest. »Ich bin kein Heiliger«, erwiderte er mit leisem Lächeln, »ich bin auch deshalb hier, weil ich gern herkomme, Elsbeth, und ich denke, dass du das auch weißt.«

Sie erwiderte sein Lächeln, als sie nickte.

Er stand auf, beugte sich zu ihr hinunter, um sie auf die Wange zu küssen, dann ging er.

Elsbeth schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein und blieb noch eine Weile sitzen. Äußerlich wirkte sie ganz ruhig, aber ihr Inneres war in Aufruhr. Sie hatte sich immer für eine Frau gehalten, die so schnell durch nichts aus der Fassung zu bringen war, doch dieser Mann schaffte es, dass sie sich wie fünfzehn fühlte: Ihre Kehle war trocken, das Herz raste, und sie hatte die berühmten Schmetterlinge im Bauch.

Sie schüttelte den Kopf über sich, aber sie lächelte dabei. Und dann stand sie auf, um sich endlich wieder an die Arbeit zu machen.

*

Franziska war sehr erstaunt, als sie nach Unterrichtsschluss Lucius vor der Schule stehen und auf sie warten sah. »Den ganzen Morgen musste ich an euch denken«, gestand sie. »Und letzte Nacht konnte ich nicht schlafen. Es tut mir so leid, dass das passiert ist, Lucius.«

»Niemand hat geschlafen«, erklärte er. »Ich muss mit dir reden, Franzi. Lass uns da vorn eine Kleinigkeit essen, ja? Ich lade dich ein, Elsbeth weiß Bescheid.«

Sie folgte ihm verwundert in das Lokal, das er ansteuerte. Nachdem sie bestellt hatten, sagte er: »Mein Onkel ist fest davon überzeugt, dass jemand ihn durch diese Tat ges­tern daran hindern will, dein Haus zu sanieren.«

»Wie bitte?«, fragte Franziska. »Was habt ihr denn bloß alle für Ideen auf einmal? Elsbeth hat das gestern auch schon gesagt!«

»Er ist außerdem überzeugt davon, dass mit dem Testament, das dein Vater angeblich gemacht hat, etwas nicht stimmt.«

»Das würde bedeuten, dass jemand es gefälscht hat. Auch diese Idee ist Elsbeth schon gekommen, aber ich kann das nicht glauben, Lucius.«

»Du solltest das nicht vorschnell von dir weisen«, entgegnete er. »Deine Stiefmutter und dein Halbbruder haben alles geerbt, nur das Haus nicht, von dem dein Vater wusste, dass es saniert werden muss. Ist dir wirklich noch nie in den Sinn gekommen, dass das merkwürdig ist?«

Sie wiederholte, was sie am Abend zuvor auch schon zu Elsbeth gesagt hatte und setzte hinzu: »Selbst wenn jemand mich betrogen hätte, Lucius: Ich könnte es niemals beweisen. Ein anderes Tes­tament gab es nicht, also, was soll’s? Außerdem traue ich weder Alexis noch Nora eine solche Tat zu. Lass uns nicht mehr darüber reden.«

Er griff nach ihrer Hand. »Ich bekomme am Wochenende Besuch aus Sternberg«, sagte er.

»Aus Sternberg?«, fragte sie verwundert.

»Anna und Chris besuchen mich am Wochenende. Ich sollte es dir eigentlich nicht erzählen, aber …« Er brach ab und setzte neu an: »Du weißt, dass sie immer ganz begeis­tert sind, wenn sie einem Geheimnis hinterherjagen können – hättest du etwas dagegen, wenn ich mit ihnen über die Theorie spräche, dass bei dem Testament deines Vaters etwas nicht stimmen kann?«

Sie sah erschrocken aus. »Aber wenn Alexis oder Nora das erfahren, Lucius …«

Er drückte ihre Hand, die er noch immer hielt. »Das werden sie nicht«, versicherte er. »Mir ist doch klar, dass es nur Vermutungen sind, nicht mehr. Aber ich wüsste gern, was ihnen dazu einfällt, sie sind ja beide sehr aufgeweckt. Außerdem kommen sie natürlich auch deinetwegen.«

Sie nickte, biss sich unschlüssig auf die Lippen.

Er ließ sie in Ruhe nachdenken. Als sie schließlich sagte: »Von mir aus sprich mit ihnen. Sie gehören eindeutig zu den Leuten, denen ich vertraue.«

Langsam hob er ihre Hand und küsste sie, wobei er ihren Blick festhielt. »Schon als ich dich das erste Mal sah, Franzi, war ich wie verzaubert«, sagte er leise.

Sie befreite ihre Hand aus seiner und legte sie an seine Wange. »Ich auch, Lucius«, erwiderte sie. »Aber ich kann es noch immer nicht glauben.«

»Das solltest du aber!«, lächelte er.

»Was für eine merkwürdige Zeit«, murmelte sie. »Es passiert so vieles auf einmal.«

»Schönes und Schreckliches«, bestätigte er. »Aber wenn du mich fragst: Das Schöne überwiegt.«

Sie errötete unter seinem Blick und war beinahe froh, als der Kellner ihr Gespräch unterbrach: Er servierte das Essen.

*

Alexis schäumte vor Wut, als er erfuhr, dass sein Plan nicht aufgegangen war: Ulrich von Rethmann hatte sein Haus mit Brettern vernagelt und war auf das Gut gezogen. Diese Möglichkeit war ihm nicht einmal in den Sinn gekommen, zu abwegig war sie ihm erschienen. So hatte er nun im Grunde das Gegenteil dessen erreicht, was er hatte erreichen wollen, denn wenn Ulrich auf dem Gut wohnte, würde er die Arbeiten sicher noch schneller vorantreiben. Er hatte Franziska eigentlich mal wieder einen Besuch abstatten und hören wollen, ob sie sich das mit dem Verkauf des Guts in der Zwischenzeit überlegt hatte, aber natürlich wollte er dem Mann nicht begegnen, dessen Haus er hatte zerstören lassen.

Trotz dieses Rückschlags dachte er nicht daran, jetzt aufzugeben. Er wollte das Gut haben, und er würde es bekommen. Das Land war viel wertvoller, als seine Halbschwester vermutlich ahnte, und dieses Geschäft gedachte er ebenso zu machen wie jenes mit den preisgünstigen Pferden, die er teuer verkaufen wollte.

Er machte sich also auf den Weg zu Robert von Hoyningen, der ihm helfen sollte, Ulrich von Rethmann vom Gut seiner Schwester zu verscheuchen – doch er erlebte eine weitere unliebsame Überraschung: Die Kanzlei war »wegen Krankheit« bis auf Weiteres geschlossen. Es wurde auf eine andere Kanzlei verwiesen, die Herrn Dr. von Hoyningen in der Zwischenzeit vertrat.

Fluchend wählte Alexis die Privatnummer des Notars, erreichte jedoch lediglich einen Anrufbeantworter. Er machte sich nicht die Mühe, eine Nachricht zu hinterlassen, denn mittlerweile war ihm klar, dass Robert von Hoyningen abgetaucht war. Das war noch bedeutend schlimmer als die Tatsache, dass Graf Rethmann jetzt auf Franziskas Gut wohnte. Wenn der No­tar den Mund nicht hielt …

Er rief sich selbst zur Ordnung. Wenn er redete, stand Aussage gegen Aussage. Das gültige Testament hatten sie gemeinschaftlich vernichtet, es gab keine Abschrift davon und somit keine Spur. Außerdem musste Robert von Hoyningen sich selbst schwer belasten, wenn er ihn, Alexis, anklagen wollte – und ob er das tun würde, bezweifelte Alexis.

Er zwang sich, ruhig zu atmen. Jetzt nur keine Panik, noch war ja nichts passiert. Und wenn alles schiefging, dann musste er das Land eben früher verlassen als geplant. Diese Vorstellung passte ihm zwar ganz und gar nicht, denn für seine Ansprüche reichte das Geld, das er bisher an sich gebracht hatte, noch längst nicht, aber bevor er ins Gefängnis ging …

Dumm war nur, dass er den No­tar auch für den Verkauf der Pferde brauchte – er hatte die ersten Papiere wirklich astrein gefälscht. Allein würde ihm das nie im Leben so gelingen …

Missmutig fuhr er nach Hause. Er brauchte einen neuen Plan, und zwar dringend.

*

»Alexis zu Randershausen?«, fragte die Baronin entgeistert. Sie saß mit ihrem Mann beim Tee – alle Kinder waren ausgeflogen. Konrad war mit einem Freund unterwegs, Anna und Christian wurden vom Chauffeur zu Lucius gebracht.

»Ich finde keine andere Erklärung, Sofia«, erwiderte der Baron. »Ich hatte dir doch erzählt, dass er so viele Fragen gestellt hat, die Papiere der Pferde betreffend, und wie man sich absichert, dass alles seine Richtigkeit hat mit den Stammbäumen und so.«

»Ja, aber das kann aufrichtiges Interesse gewesen sein, Fritz«, gab die Baronin zu bedenken. »Du kannst daraus doch nicht schließen, dass er ein Betrüger ist.«

»Ich habe keine Beweise, das stimmt. Aber ich traue ihm nicht.«

»Das gibt dir aber nicht das Recht, ihn zu verdächtigen«, fand die Baronin. Nach einer Weile setzte sie jedoch hinzu: »Andererseits: Dieses seltsame Testament, das Johannes angeblich gemacht hatte, und über das sich alle gewundert haben …«

»Ja, daran habe ich auch schon gedacht. Wenn du meine Meinung hören willst: Ich traue Alexis zu, dass er betrügt, um an ein großes Vermögen zu kommen.«

»Wir kennen ihn kaum, Fritz.«

»Du hast mit allem Recht, was du sagst. Trotzdem erkläre ich dir: Ich traue ihm nicht. Seine Augen blicken kalt, er gehört zu den Menschen, die nur ihr eigenes Wohl im Auge haben.« Der Baron lächelte. »Eigentlich bist du die bessere Menschenkennerin von uns beiden – und auch die bessere Beobachterin.«

»Du hast mehr Zeit mit ihm verbracht als ich, als er hier war. Ich habe ihn ja kaum gesehen. Sympathisch war er mir nicht, das muss ich zugeben. Aber für einen Betrüger halte ich ihn deshalb noch nicht.«

»Anna mochte ihn auch nicht.«

»Das stimmt, genau wie Chris. Er hat es nur nicht laut gesagt.«

»Ich werde dem Verdacht auf jeden Fall nachgehen, Sofia.«

»Und wie willst du das anstellen?«

»Mit Hilfe der Polizei. Der Weg des Pferdes, das mit gefälschten Papieren von uns verkauft worden ist, lässt sich vielleicht zurückverfolgen.«

»Wir alle wünschen uns, dass die Sache aufgeklärt werden kann – genauso wie diese schreckliche Geschichte mit Ulrichs Haus.«

Der Baron nickte, küsste seine Frau und verabschiedete sich, da er in seinem Büro noch einiges zu tun hatte.

Sofia dachte noch lange über den Verdacht ihres Mannes nach. Ganz abwegig war er wohl nicht …

*

»Ich möchte etwas sagen«, kündigte Franziska an.

Elsbeth und sie saßen mit Ulrich, Bodo, Kurt und Armin beim Abendessen – die Männer hatten hart und lange gearbeitet, um schneller fertig zu werden. Lucius wurde für später erwartet, gemeinsam mit seinen beiden Gästen, die mittlerweile vermutlich eingetroffen waren.

»Klingt ja so feierlich, Franzi«, brummte Kurt.

»Das sollte es nicht, entschuldigt bitte. Elsbeth und ich wollten euch drei fragen, ob ihr nicht auch zu uns aufs Gut ziehen wollt. Wir haben hier Platz genug, und es käme für euch natürlich günstiger, wenn ihr eure Wohnungen nicht mehr bezahlen müsstet. Allerdings müssen wir ehrlich sagen, dass es im Winter unangenehm ist hier – und da ich nicht weiß, ob mein Geld für die neue Heizung reicht …«

»Ist das euer Ernst?«, fragte Armin.

»Ja, ist es«, bestätigte Elsbeth. »Es ist nicht schön, zu zweit in diesem großen Haus zu wohnen – das war uns von Anfang an klar. Wir hatten ja auch Pläne mit einem Teil des Hauses, die haben sich nur zerschlagen, als klar wurde, dass dafür das Geld fehlt.«

Bodos Augen glänzten. »Wir könnten den anderen Flügel des Hauses bewohnen?«

»Wenn ihr wollt?«

»Du meinst also: Wir arbeiten hier, bringen das Haus in Schuss, und dafür …«

»… wohnt ihr hier und werdet verpflegt. Dafür müssten wir allerdings einen Garten anlegen, Obstbäume gibt es ja noch – und vielleicht ein paar Hühner halten«, sagte Franziska. »Sonst schaffe ich das mit dem Geld nicht.«

»Wir wollen auf jeden Fall was bezahlen«, sagte Armin. »Nicht, Männer?«

Seine Freunde nickten. »Mensch, wenn das ginge«, schwärmte Kurt, »das wäre ja ein Traum …«

Elsbeth und Franziska wechselten einen langen, verständnisinnigen Blick. Sie hatten schneller entschieden als geplant – aber sie wuss­ten schon jetzt, dass es die richtige Entscheidung gewesen war.

*

»Aber du kommst sofort wieder zurück, sobald du das Gespräch hinter dir hast, Robert!«, sagte Walter Hornung. »Versprich mir das.«

»Ich verspreche es«, erklärte Iris Aldekamp. »Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Dr. Hornung. Wir fahren mit meinem Auto, und ich werde Robert nicht aus den Augen lassen.« Als sie ihren bisherigen Chef beim Vornamen nannte, errötete sie.

Walter schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Diese Frau war genau die Richtige für Robert – wenn er es mit ihr nicht schaffte, sich von den Schatten der Vergangenheit zu befreien, dann würde er es überhaupt nicht schaffen. Er hoffte von ganzem Herzen, dass die beiden miteinander glücklich wurden – trotz der schweren Hypothek, die Roberts Betrug ihnen aufbürdete.

»Mit der Polizei kannst du dann hier in der Klinik reden«, sagte Walter.

»Ja, das haben wir doch schon besprochen. Bis nachher, Walter.« Robert von Hoyningen war noch blasser als sonst, und sein Freund sah mit Besorgnis, dass er bereits wieder schwitzte. Diese Art von Stress war natürlich Gift für Robert, aber es gab keinen anderen Weg, als sich durch das anstehende Gespräch ein für alle Mal davon zu befreien.

»Bis nachher, Robert. Alles Gu­-te, Frau Aldekamp.«

Iris nickte ihm zu. Sie lächelte zwar, doch Walter erkannte deutlich, dass auch sie aufgeregt war – und natürlich hatte sie ebenfalls Angst. Schließlich konnte niemand den Verlauf der nächsten zwei Stunden vorhersehen. Angenehm würde es sicherlich nicht werden.

Er sah den beiden nach, als sie die Klinik verließen: Iris hängte sich bei Robert ein, beide hielten die Köpfe gesenkt. Sie traten einen schweren Weg an, aber wenn sie zurückkehrten, hatten sie hoffentlich das Schlimmste hinter sich.

Er drehte sich um und ging in sein Büro. In den nächsten beiden Stunden, das wusste er schon jetzt, würde er sich auf nichts konzentrieren können.

*

»Das ist ja ein tolles Haus, Lu­cius«, staunte der kleine Fürst, nachdem Anna und er von einem ersten Rundgang zurückkehrten. »Und so viel Platz!«

»Ja, es gefällt mir auch«, gestand Lucius. »Wie ihr seht, stehen immer noch Umzugskisten herum, ich bin noch längst nicht fertig damit, das Haus einzurichten, aber ich habe es ja nicht eilig. Wenn ihr ausgepackt habt, können wir zu Franzi gehen. Die warten bestimmt schon auf uns.«

»Sie wissen, dass wir kommen? Es sollte doch eine Überraschung sein.«

»Hat nicht geklappt«, erklärte Lucius.

»Wir sind schon längst fertig mit Auspacken«, erklärte Anna, und so machten sie sich umgehend auf den Weg.

»Wie verkraftet Togo es eigentlich, wenn du mal für ein paar Tage wegfährst, Chris?«, erkundigte sich Lucius.

»Och, das kommt ja nicht so oft vor. Herr Hagedorn kümmert sich dann um ihn, manchmal geht auch Tante Sofia mit ihm raus – aber er freut sich natürlich trotzdem, wenn ich wiederkomme.«

»Kann ich mir vorstellen. Da vorne ist übrigens das Gutshaus schon.«

»So nah wohnt ihr jetzt beieinander!«, staunte Christian.

»Ja, so nah!«, bestätigte Lucius. »Lasst uns hinten herumgehen, bestimmt sitzen alle noch auf der Terrasse.«

Er hatte Recht mit seiner Annahme: Elsbeth und Franziska saßen mit den vier Männern auf der Terrasse, lebhaftes Reden und Lachen empfing Lucius und die beiden Teenager. Anna und Christian fühlten sich in der fröhlichen Runde sofort wohl, und sie bestanden darauf, dass auch sie geduzt wurden.

»Wir wollen keine Außenseiter sein«, erklärte Anna, und damit war der Fall geklärt.

»Wir ziehen jetzt auch hierher«, berichtete Kurt, als die Neuan-kömmlinge ebenfalls etwas zu trinken vor sich stehen hatten.

»Tatsächlich?«, fragte Lucius. »Wann habt ihr das denn beschlossen?«

Armin setzte zu einer längeren Antwort an, die jedoch von einem lang gezogenen Klingeln unterbrochen wurde. Alle sahen sich verwundert an.

»Erwartest du noch jemanden, Franzi?«, erkundigte sich Kurt.

»Nicht, dass ich wüsste. Lasst euch nicht stören, ich sehe mal nach, wer da ist.«

»Ich komme mit«, erklärte Lucius. Auch Ulrich hatte sich erhoben, er sah angespannt aus.

Franziska versuchte, die plötzliche Spannung zu zerstreuen. »Was ist denn mit euch los? Es hat nur jemand geklingelt!« Sie verließ die Terrasse und eilte zur Haustür.

Als sie geöffnet hatte, blieb ihr vor Erstaunen die Sprache weg: Vor ihr stand Dr. Hoyningen, der Notar ihres Vaters, mit seiner Sekretärin, Frau Aldekamp.

»Ich hätte Sie gern gesprochen, Frau zu Randershausen«, sagte der Notar sichtlich nervös. »Entschuldigen Sie diesen Überfall, aber es ist außerordentlich wichtig.«

»Ich … ich bin nicht allein«, erklärte Franziska. »Freunde von mir sind da …«

Es war Iris Aldekamp, die jetzt das Wort ergriff. »Wenn es Freunde sind, dann dürfen sie hören, was Dr. von Hoyningen zu sagen hat«, erklärte sie. »Vielleicht ist es sogar ganz gut, wenn es mehrere Zeugen für dieses Gespräch gibt.«

»Dann kommen Sie bitte herein«, sagte Franziska. »Wir sitzen draußen auf der Terrasse …«

»Es wäre besser, das Gespräch würde im Inneren des Hauses geführt«, erklärte Robert mit stockender Stimme. »Wenn Freunde von Ihnen dabei sind, ist das in Ordnung – aber Fremde sollten es nicht hören.«

Franziska rief also alle ins Haus. Der Notar schluckte, als er sah, vor wie vielen Menschen er sein Geständnis würde ablegen müssen, doch ein Zurück gab es jetzt nicht mehr.

»Sollen wir wirklich auch bleiben?«, fragte Bodo in die Stille hinein, die entstanden war, als alle in der Küche um den großen Tisch herum versammelt waren. »Ich meine, wir gehören ja eigentlich nicht richtig dazu.«

»Doch!«, widersprach Franziska mit fester Stimme. »Ihr gehört dazu, und ich möchte, dass ihr bleibt. Also, Herr von Hoyningen – was haben Sie uns zu sagen?«

Robert stand wieder einmal der Schweiß auf der Stirn, aber er hatte sich auf diesen Augenblick gut vorbereitet. Zu Beginn seiner Erklärung geriet er immer wieder ins Stocken, aber nach einer Weile fing er sich und sprach immer flüssiger.

Alle Anwesenden lauschten ihm wie gebannt. Als er endlich schwieg, herrschte Stille. Bodo war der Erste, der diese nicht mehr ertrug. »Und jetzt?«, fragte er, an Franziska und Elsbeth gewandt. »Was macht ihr jetzt?«

»Ich kann nichts beweisen«, erklärte Robert unglücklich. »Das richtige Testament ist vernichtet, mitsamt allen Kopien, ein anderes gab es nicht. Ihr Halbbruder, Herr zu Randershausen, wird natürlich alles bestreiten, dann steht Aussage gegen Aussage. Trotzdem werde ich mich selbst anzeigen, ich will nicht mein Leben lang erpressbar sein. Ich kann Sie nur um Verzeihung bitten. Mir tut es unendlich leid, dass ich nicht die Kraft hatte, mich gegen diese Versuchung zu wehren. Aber glauben Sie mir bitte: Ich habe bereits gebüßt dafür.«

Franziska war weiß wie die Wand geworden während des Berichts, jetzt nickte sie nur, sprechen konnte sie noch nicht. Zu ungeheuerlich war das, was sie soeben über Alexis erfahren hatte.

»Eine Hoffnung allerdings habe ich«, fuhr der Notar fort.

»Und welche?«, fragte Ulrich, als er nicht weitersprach.

»Mir schien, dass Herr zu Randershausen mir gegen Ende seines Lebens nicht mehr vollständig vertraute. Dass er seinem Sohn gegenüber misstrauisch geworden war, hatte ich schon vorher gemerkt – es kam mir so vor, als ahnte er, was passieren könnte. Er kannte mich natürlich ganz gut, und so wusste er um meine … meine Schwächen.« Robert schluckte. »Es könnte sein, dass sich irgendwo hier im Haus noch ein Testament befindet, das er mir nicht mehr anvertraut hat. Gefunden haben Sie es bisher wohl nicht?«

»Nein«, antwortete Franziska mit belegter Stimme, »aber natürlich haben wir auch nicht danach gesucht – dazu sahen wir ja keine Veranlassung.«

»Ich bin nicht sicher, dass es exis­tiert«, erklärte der Notar. »Es ist nur eine Vermutung. Oder eher noch: eine Hoffnung.«

»Wir können es suchen«, schlug der kleine Fürst vor.

»Wenn es ein Testament gibt, finden wir es bestimmt!«, rief Anna.

Niemand erwiderte etwas – zu schwer belastete das Geständnis des Notars die Atmosphäre. Schließlich fragte Iris Aldekamp, die bis dahin geschwiegen hatte: »Haben Sie noch weitere Fragen? Ich würde Herrn von Hoyningen sonst gerne zurück in die Klinik von Dr. Hornung fahren. Sie können ihn dort jederzeit erreichen. Ihr Halbbruder, Herr zu Randershausen, weiß natürlich nichts von diesem Aufenthaltsort.«

»Ich habe im Augenblick keine Fragen mehr«, erklärte Franziska. »Trotz allem danke ich Ihnen, dass Sie heute gekommen sind.«

»Ich hoffe, Sie können mir eines Tages verzeihen«, sagte der Notar leise.

Als die Besucher abgefahren waren, blieb Franziska an der Haustür stehen. Mit einem Mal verließ sie die Kraft, sie fing an zu weinen.

Lucius schloss sie in die Arme und hielt sie fest. Er konnte sich vorstellen, wie erschüttert ein Mensch sein musste, der soeben erfahren hatte, dass er von einem Verwandten aufs Schlimmste betrogen und hintergangen worden war.

Als sie sich beruhigte, murmelte sie: »Entschuldige, ich weine sonst nicht so schnell.«

»Du darfst ruhig weinen, Franzi«, erwiderte er. »Wenn es dieses verdammte Testament gibt, werden wir es finden, das garantiere ich dir.«

»Glaubst du?«

»Ich weiß es! Du, Franzi?«

»Ja?«

»Ich liebe dich. Ich liebe dich, wie ich noch nie einen Menschen geliebt habe. Ich möchte immer mit dir zusammen sein, mich nie mehr von dir trennen – ganz gleichgültig, ob du nun arm bist oder reich.«

Er hatte noch mehr sagen wollen, doch sie hinderte ihn durch einen Kuss daran, einen sanften Kuss, der ein wenig salzig schmeckte, nach ihren Tränen, die ihr bis eben über die Wangen gelaufen waren. Für immer würde er diesen Geschmack mit dem ersten Kuss verbinden, den Franziska und er einander gegeben hatten.

*

Niemand dachte daran, nach Hause zu fahren oder sich schlafen zu legen: Im Haus setzte unmittelbar, nachdem Robert von Hoyningen und seine Sekretärin abgefahren waren, die fieberhafte Suche nach dem eventuell vorhandenen Testament ein. Nicht einmal Elsbeth, die sich nicht so leicht anstecken ließ, blieb ruhig und abgeklärt. Die Möglichkeit, der Not der vergangenen Monate vielleicht durch einen glasklaren Beweis ein Ende zu machen – und nicht durch einen mühsamen Prozess, dessen Ausgang unsicher war – feuerte sie ebenso an wie Ulrich und seine Freunde und die beiden Sternberger Teenager. Einzig Franziska und Lucius beteiligten sich nicht an der nächtlichen Suche – sie saßen eng umschlungen auf der Terrasse, küss­ten sich, versicherten sich gegenseitig ihre Liebe und schienen die Bewegung auf allen Stockwerken des Hauses nicht einmal zu bemerken.

Zwei Stunden später erlahmte die Begeisterung, alle wurden müde, und Ulrich blies die Suche schließlich ab. »Das wird jetzt sowieso nichts mehr«, sagte er. »Ich schlage vor, wir gehen schlafen und denken erst einmal in aller Ruhe nach, bevor wir die Suche fortsetzen. So hat das keinen Zweck. Wenn Franzis Vater wirklich ein Tes­tament versteckt hat, dann hat er dafür sicherlich einen Ort gewählt, den er mit Bedacht ausgewählt hat. Den finden wir eher, wenn wir nachdenken, als wenn wir kopflos suchen.«

Die anderen mussten ihm zustimmen, und so machte sich Lucius, der sich nur ungern von Franziska trennte, mit zwei enttäuschten Jugendlichen ebenso auf den Heimweg wie Bodo, Kurt und Armin.

Auch Franziska zog sich zurück, während Elsbeth und Ulrich noch in der Küche blieben. »Willst du nicht schlafen gehen?«, fragte sie.

»Nicht ohne dir zu sagen, dass ich mich in dich verliebt habe, Elsbeth – und dass es mir ernst ist damit.«

Sie sah ihn an, ohne etwas zu erwidern.

»Was ist?«, fragte er nervös. »Sag etwas, Elsbeth!«

»Mir ist es auch ernst mit dir«, erwiderte sie. »Aber trotzdem möchte ich, dass wir uns Zeit lassen. Wir sind beide nicht mehr

jung, Uli – ich möchte keine Katas­trophe erleben. Wenn man jung ist, steckt man das vielleicht weg, aber ich …«

Er legte beide Hände um ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund. »Ich möchte auch keine Katastrophe erleben, Elsbeth, und deshalb bin ich einverstanden: Wir lassen uns Zeit.«

Sie lächelte ihn an. »Gute Nacht, Uli.«

»Gute Nacht, Elsbeth.« Noch einmal küsste er sie, ebenso zart wie zuvor, dann drehte er sich um und ging.

*

Anna und Christian wachten am nächsten Morgen sehr früh wieder auf. »Wo würdest du das Testament verstecken, wenn du nicht wolltest, dass es jemand findet, den es nichts angeht?«, fragte Anna.

»Und wenn du wolltest, dass Franzi es findet«, murmelte Christian. »Es muss einer ihrer Lieblingsplätze im Haus sein oder ein Lieblingsgegenstand.«

»Könnte sein«, gab Anna zu. »Lass uns gehen.«

»Jetzt?«

»Natürlich jetzt. Lucius schläft doch noch. Wir hinterlassen ihm eine Nachricht.«

Auf dem kurzen Weg hinüber zum Gutshaus gingen sie in Gedanken jeden Winkel des Hauses noch einmal durch, vom Keller bis zum Dachboden. »Ein Ort, an dem Franzi das Testament eigentlich finden müsste – aber niemand sonst«, murmelte Christian. »Wo könnte das bloß sein?« Er hatte die Frage kaum ausgesprochen, als er auch schon wie angewurzelt stehenblieb, seine Augen leuchteten. »Die alte Puppe!«, rief er. »Anna, Franzis alte Puppe, die ihr Vater ihr geschenkt hat und von der sie sich nie trennen wollte! Er hat wohl nicht damit gerechnet, dass sie sie seit seinem Tod nicht mehr angerührt hat, weil sie immer sofort weinen muss!«

»Los!«, stieß Anna hervor.

Sie kamen vollkommen außer Atem im Gutshaus an, rannten an der verdutzten Elsbeth vorbei in Franziskas Arbeitszimmer, wo sie die Puppe von ihrem Platz im Regal nahmen.

Elsbeth war ihnen gefolgt. »Was wollt ihr denn mit Mia?«, protes­tierte sie.

Christian schraubte der Puppe mit gekonntem Griff den Kopf ab und zog ein eng beschriebenes Blatt Papier hervor.

»Das Testament«, sagte er. »Hier ist es.«

*

Alexis wich erschrocken zurück, nachdem er die Tür geöffnet hatte: Vor ihm standen mehrere bewaffnete Polizisten. Zwei von ihnen packten ihn an beiden Armen, im nächsten Augenblick klickten Handschellen.

»Was soll das?«, rief er. »Wie können Sie es wagen …«

Ein älterer Beamter in Zivil trat vor. »Jemand, der bekannte Kriminelle anheuert, damit sie ein Haus zerstören, gilt als gefährlich, Herr zu Randershausen. Und wenn sich dann noch herausstellt, dass dieser Mann auch vor groß angelegtem Betrug nicht zurückschreckt …«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden!«, schrie Alexis.

»Stichworte: Das Haus von Graf Rethmann, das gefälschte Testament Ihres Vaters, gefälschte Papiere für angebliche edle Rennpfer­-

de …«

»Sie sind ja verrückt geworden!«

»Durchsuchen!«, kommandierte der Beamte. »Die ganze Wohnung, vor allem den Computer. Mal sehen, was wir finden.«

Alexis versuchte, um sich zu schlagen, aber im Grunde genommen war ihm klar, dass er verloren hatte. Das Spiel war zu Ende.

Innerhalb kürzester Zeit fanden die Beamten Beweise für seine Betrügereien, er wusste, dass Leugnen zwecklos war. Am schlimmsten freilich war es für ihn, als seine Mutter eintraf, die von den Beamten angerufen worden war.

Noras Gesicht hatte eine kalkweiße Farbe, als sie auf ihn zutrat. »Hast du das wirklich alles getan?«, fragte sie. Ihr Blick war hart, nie zuvor hatte sie ihn so angesehen.

»Ich wollte uns doch nur absichern«, murmelte Alexis. »Ich habe es für dich getan, Mama.«

Ihre Ohrfeige tat weh, seine Wange brannte. Sie würdigte ihn keines Blickes mehr, sondern ging hoch erhobenen Hauptes davon.

»Du kannst doch jetzt nicht einfach weggehen!«, schrie er ihr nach. »Mama!«

Sie schien ihn nicht gehört zu haben, denn sie drehte sich nicht einmal um.

*

»Papa«, flüsterte Franziska, »wie konnte ich nur glauben, du hättest mich ohne Geld mit dem alten Haus sitzen lassen! Wieso habe ich die Wahrheit nicht schon früher gesehen?« Mit Tränen in den Augen las sie das Testament ihres Vaters zum wiederholten Mal. Sie würde sich keine Sorgen mehr ums Geld machen müssen, gleichgültig, wie aufwändig die Sanierung des Hauses ausfiel. Auch Nora und Alexis waren großzügig bedacht worden, ebenso Elsbeth. Im Grunde genommen war für alle genug da gewesen – nur hatte Alexis sich damit nicht zufriedengeben wollen.

Mittlerweile wusste sie, dass er nicht nur das Testament gefälscht, sondern auch auf andere Art und Weise betrogen hatte. Er kam ihr wie ein fremder Mensch vor, seit sie wusste, wozu er fähig war. Nora hatte sie unter Tränen um Verzeihung gebeten, aber es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass Nora unschuldig war – sie hatte keine Ahnung von den Machenschaften ihres Sohnes gehabt. Seltsamerweise war Nora ihr jetzt näher als je zuvor.

Lucius betrat den Raum und umarmte sie liebevoll. »Wie bin ich froh, dass ich Chris’ Drängen nachgegeben habe«, sagte er. »Ich wollte die beiden ja eigentlich wieder ausladen – aber er hat mir versichert, sie hätten schon viele Geheimnisse gelüftet.«

»Ich möchte, dass wir uns auf Sternberg verloben, Lucius«, erwiderte Franziska leise. »Wäre dir das recht?«

Er küsste sie – zuerst auf die Stirn, dann auf die Nase, auf beide Wangen, zuletzt verschloss er ihr mit seinen Lippen den Mund. »Mir ist alles recht, was dich freut, Liebs­te«, sagte er leise. »Und wo heiraten wir?«

»Den Ort für unsere Hochzeit darfst du aussuchen.«

Noch fester drückte er sie an sich – er würde sie nie wieder loslassen.

*

Einige Tage später stand Christian vor der Gruft seiner Eltern auf dem Familienfriedhof. Er hatte ihnen viel zu erzählen, denn hinter ihm und Anna lag ja ein ereignisreiches Wochenende. Wie immer half ihm der stumme Bericht an seine Eltern auch dabei, seine Gedanken zu ordnen. Er war noch ganz erfüllt von all den Enthüllungen, die auf die Entdeckung des Testaments gefolgt waren.

»Franzi und Lucius werden sich auf Sternberg verloben, ihr glaubt nicht, wie sehr wir uns darüber freuen – sie wollen auch gar nicht mehr lange warten, also werden wir sie bald hier haben. Ach, ich wünschte, ihr könntet dabei sein. Aber vielleicht seid ihr das ja, auch wenn ich euch nicht sehen kann. Ich … ich vermisse euch.«

Er las die Namen seiner toten Eltern, und mit einem Mal schossen ihm Tränen in die Augen. Das geschah nicht mehr häufig, aber es gab Tage, da war die Sehnsucht nach ihnen übermäßig groß – und so ein Tag war heute.

Togo, der bis dahin ganz ruhig neben ihm gelegen hatte, drückte sich an ihn und winselte, als wollte er sagen: »Sei nicht traurig, ich bin ja bei dir.«

Christian bückte sich und streichelte den jungen Boxer, dann sagte er laut: »Bis morgen, da komme ich wieder.«

Togo sprang auf und schickte sich an, den Hügel zu verlassen. Der kleine Fürst wartete noch auf das Zeichen seiner Eltern, dass sie ihn gehört hatten.

Gleich darauf begann eine Amsel mit ihrem Lied und vertrieb seine Tränen und seine Traurigkeit. Sie waren ja noch immer bei ihm, tief im Herzen wusste er das.

– E?N?D?E?–

Der kleine Fürst Staffel 8 – Adelsroman

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