Читать книгу Der kleine Fürst Staffel 8 – Adelsroman - Viola Maybach - Страница 9
Оглавление»Er ist so still«, wisperte Baronin Maria zu Hirtenberg ihrem Mann zu. »Weißt du, was er hat?«
Moritz zu Hirtenberg schüttelte den Kopf, auf seinem Gesicht lag ein angespannter Zug. »Er wird aufgeregt sein, das ist doch normal am Tag seiner Hochzeit, Maria.«
»Schon«, murmelte sie, »nur sollte man doch meinen, dass es eine schöne Aufregung ist, finde ich. Aber er sieht ja beinahe aus, als ginge er zu einer Beerdigung.«
Sie verstummte, als ihr Sohn Lorenz den Wagen erreichte und einstieg. Er war ein schlanker Dunkelhaariger mit einem Gesicht, das von klugen braunen Augen beherrscht wurde. Seine Wangenknochen traten heute, so schien es, noch mehr hervor als sonst. Er war leichenblass, unter seinen Augen lagen tiefe Schatten, aber er bemühte sich um ein Lächeln, als er die Blicke seiner Eltern auf sich ruhen sah.
Am Steuer nahm Lorenz’ bester Freund Albert von Laarweiler Platz. Er wirkte vergnügt wie immer und schien sich auch um den Bräutigam keine Sorgen zu machen. »Zieh nicht so ein Gesicht, Lorenz«, sagte er, als er den Motor anließ. »Ich habe dich gewarnt, dich schon so früh in Fesseln legen zu lassen, aber du wolltest ja nicht auf mich hören. Jetzt bist du dran, Alter!«
Er versuchte nur, mit seinen Bemerkungen die Stimmung ein wenig zu entkrampfen. In Wahrheit war Albert ein glühender Bewunderer von Lorenz’ Braut Lara von Kessel. Einmal hatte er sogar gesagt: »Schade, dass sie sich nicht in mich verliebt hat …« Jedenfalls konnte keine Rede davon sein, dass er seinen Freund vor einer allzu frühen Heirat gewarnt hatte.
Tatsächlich bemühte sich Lorenz erneut um ein Lächeln, aber er sagte noch immer keinen Ton. Als das Schweigen gar zu drückend wurde, fing Albert an, vor sich hin zu summen. Ernsthafte Sorgen machte er sich nicht, er hielt es für normal, dass man aufgeregt war, wenn man heiratete – und dann noch eine Frau wie Lara!
Die Kirche kam bald in Sicht. »Da wären wir schon!«, sagte Albert. »Pünktlich auf die Minute. Die Braut ist noch nicht da, wie es sich gehört.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »In zehn Minuten wird sie hier sein, wir haben also noch ein bisschen Zeit.«
Einige Schaulustige standen auf dem Kirchenvorplatz, aber viele waren es nicht. Lara und Lorenz legten beide keinen Wert auf öffentliche Aufmerksamkeit, sie wollten ihre Hochzeit nur mit Verwandten und engen Freunden feiern und kein Medienereignis daraus machen, darin waren sie sich von Anfang an einig gewesen.
»Hast du die Ringe, Albert?«, fragte Maria zu Hirtenberg.
»Ja, klar«, antwortete Albert und klopfte auf seine Brusttasche. »Sicher hier verwahrt, direkt über meinem Herzen.« Er schenkte Lorenz’ Mutter sein treuherzigstes Lächeln. Seine blonden Haare hatten sich auch heute, da er als Trauzeuge am Altar stehen würde, nicht bändigen lassen. Widerspenstig standen sie in alle Richtungen ab, während seine blauen Augen nach Bekannten suchten. Er stieß Lorenz in die Seite. »Was will der denn hier?«, raunte er seinem Freund zu und machte eine unauffällige Kopfbewegung.
Lorenz sah in die angegebene Richtung und sofort wieder weg. »Keine Ahnung«, behauptete er.
»Michael von Angern«, murmelte Albert. »Seit wann interessiert der sich denn für Hochzeiten? Will er sich etwa ein neues Geschäftsfeld erschließen?«
»Von wem redet ihr?«, fragte Lorenz’ Mutter.
»Von Michael von Angern«, erklärte Albert.
Moritz zu Hirtenberg zuckte zusammen, als hätte er einen Stromschlag erhalten. »Der ist hier?«, fragte er mit heiserer Stimme.
»Steht da drüben mit einem seiner Bodyguards«, flachste Albert.
Moritz nahm den Arm seiner Frau. »Lass uns hineingehen, Maria«, sagte er. Er war jetzt fast so blass wie sein Sohn, sein Atem ging flach.
»Ja, ich würde auch sagen, Sie sollten hineingehen, wir kommen gleich nach«, erklärte Albert nach einem weiteren Blick auf seine Uhr. »Nicht, dass die Braut vorfährt, und wir stehen noch hier.«
Moritz zog seine Frau eilig zum Kirchenportal.
»Kennt dein Vater den von Angern?«, fragte Albert. »Ich hatte beinahe den Eindruck, als hätte er einen Schrecken bekommen.«
»Woher sollte er ihn kennen?«, fragte Lorenz.
»Auch wieder wahr«, brummte Albert. »Aber was will der Kerl dann hier, kannst du mir das mal erklären?«
Erneut wanderte sein Blick zu dem blonden Mann mit dem breiten Oberkörper, der seinen eleganten Anzug beinahe zu sprengen schien: Er sah darin aus wie verkleidet. Obwohl er nicht sehr groß war, strahlte er die Autorität und Selbstsicherheit des Erfolgreichen aus. Man musste ihn nur ansehen, um zu wissen, dass er kein Mann war, der Widerspruch duldete. Über Michael von Angern waren in der kleinen Stadt viele Gerüchte im Umlauf, aber Genaues über den Ursprung seines sagenhaften Reichtums wusste niemand. Nur eins war sonnenklar: Man legte sich besser nicht mit ihm an.
Ihre Blicke begegneten sich. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln blitzte im Gesicht des Anderen auf – ein Lächeln, das Albert Unbehagen bereitete. Er wandte sich ab und schlug vor: »Lass uns hineingehen, Lorenz. Es ist Zeit.«
Lorenz nickte. Den Blick hielt er gesenkt, als er seinem Freund zum Kirchenportal folgte.
*
»Du bist die schönste Braut, die ich jemals gesehen habe«, stellte Lucie von Drewitz voll neidloser Bewunderung fest, als sie neben ihrer Freundin Lara von Kessel in der großen silbernen Limousine Platz genommen hatte, die sie zur Kirche bringen würde. Laras Eltern, Bettina und Otto von Kessel, nickten zu Lucies Worten.
Lara bedankte sich mit einem strahlenden Lächeln. Ihre dunkelroten Haare waren an diesem Tag zu einem eleganten Knoten aufgesteckt worden, sie hatte nur ein ganz zurückhaltendes Make-up geduldet. Ein bisschen Wimperntusche, um ihre schönen grünen Augen zu betonen, etwas Glanz auf die Lippen – das war’s auch schon. Sie trug ihre Sommersprossen auf der Nase mit Stolz, noch nie hatte sie den Wunsch verspürt, sie unter einer Schicht Schminke verschwinden zu lassen. So wirkte sie bezaubernd natürlich – kein Wunder, dass viele Leute stehen geblieben waren, um die überirdisch schöne Erscheinung anzustaunen, als sie an ihnen vorüber zum Auto geschwebt war.
Ihr Kleid war ein Traum aus schwerer, cremeweißer Seide, figurnah geschnitten und mit einem dezenten Ausschnitt versehen. Es war eigens für sie angefertigt worden und saß ihr wie angegossen. Als Schmuck trug sie lediglich ihren Verlobungsring und filigran gearbeitete Ohrringe aus Diamanten und Perlen, die in ihrer Familie seit Generationen weiter vererbt wurden. Einst waren sie ihrer Ur-Ur-Großmutter zur Hochzeit geschenkt worden.
Die Limousine setzte sich in Bewegung, einige Leute winkten ihnen zu.
»Aufgeregt, Kind?«, fragte Bettina von Kessel und griff liebevoll nach der Hand ihrer Tochter.
»Ja, aber es ist eine angenehme Aufregung, Mama«, antwortete Lara mit weichem Lächeln. »Wir haben uns so auf diesen Tag gefreut, Lorenz und ich – und jetzt ist er endlich gekommen. Das ist wie ein Traum.«
»Ich wünschte, mir würde endlich auch der richtige Mann begegnen«, seufzte Lucie. »Warum ist mir bisher noch keiner wie Lorenz begegnet – ich meine, einer, bei dem ich gleich weiß: Der ist es?«
»Du hast doch noch Zeit, Lucie«, meinte Bettina, und ihr Mann setzte hinzu: »Wir waren zu Beginn gar nicht begeistert über die Vorstellung, dass unsere Tochter schon eine eigene Familie gründen will. Deine Eltern sind sicherlich froh, dass du dir noch ein wenig länger Zeit damit lässt.«
»Ich will mir aber keine Zeit mehr lassen«, erklärte Lucie mit einer komischen kleinen Grimasse. »Lara ist jetzt meine dritte Freundin, die heiratet. Irgendwann werde ich übrig sein …«
Lara und ihre Eltern lachten. Es war schwer vorstellbar, dass Lucie »übrig« bleiben würde, so hübsch und begehrt, wie sie war mit ihren dunklen Haaren und den blauen Augen, die dazu einen reizvollen Kontrast bildeten. Sie war kleiner als Lara, ein Temperament- und Energiebündel. Lara und sie waren schon lange miteinander befreundet.
»Da wären wir«, sagte der Chauffeur, »pünktlich auf die Minute.«
»In einer Stunde bist du verheiratet, Lara«, flüsterte Lucie ihrer Freundin zu.
Das Lächeln, das seit dem Aufstehen nicht von Laras Gesicht gewichen war, vertiefte sich. Lucie und ihr Vater halfen ihr aus dem Wagen, dann bot Otto ihr seinen Arm. »Bist du bereit, Kind?«
»Ich bin bereit, Papa.«
Ohne einen Blick nach rechts oder links zu werfen schritt Lara am Arm ihres Vaters auf das Kirchenportal zu. Den blonden Mann mit dem breiten Oberkörper, der sie keine Sekunde aus den Augen ließ, bemerkte sie nicht einmal.
*
Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt, als die Orgel zu spielen begann und die Braut am Arm ihres Vaters langsam nach vorn zum Altar schritt. Die Seufzer über Laras Schönheit gingen im Jubelgesang der Orgel unter, aber man sah bereits die ersten Taschentücher, mit denen sich die Damen die Augen betupften.
»Sie sieht toll aus«, flüsterte Anna von Kant ihrem Cousin Christian von Sternberg zu.
»Wie immer«, flüsterte er zurück. »Aber Lorenz ist so blass!«
Das war Anna auch schon aufgefallen. Die beiden Teenager waren mit Annas Eltern, Baronin Sofia und Baron Friedrich von Kant, aus Sternberg angereist, denn sowohl Lara als auch Lorenz gehörten zu ihren Freunden. Nur Annas Bruder Konrad war zu Hause geblieben, die Fußballmannschaft seiner Schule bestritt ein wichtiges Auswärtsspiel an diesem Samstag, bei dem er nicht fehlen durfte.
Die Orgelmusik verklang, die Trauungszeremonie begann. Anna und Christian folgten den Worten des Pfarrers nicht allzu aufmerksam, sie waren mehr damit beschäftigt, unauffällig die anderen Gäste zu mustern. Zum Glück saßen sie nicht ganz vorn, so dass es einiges zu sehen gab.
Sie richteten ihre Aufmerksamkeit erst wieder auf das Geschehen vorn am Altar, als ihnen bewusst wurde, wie still es in der Kirche geworden war. »Willst du, Lorenz Freiherr zu Hirtenberg, die hier anwesende Lara Maria Viktoria von Kessel …«
Die Frage wurde langsam und bedächtig vorgetragen, mit der Betonung, die ihrer Wichtigkeit angemessen war. Die Worte klangen in der mächtigen Kirche nach wie ein Echo. Jetzt war nicht einmal mehr ein Husten zu hören. Mit angehaltenem Atem warteten die Menschen auf das ›Ja‹ des Bräutigams – doch sie warteten vergebens. Nach schier endlos scheinenden Sekunden sagte Lorenz zu Hirtenberg laut und vernehmlich: »Nein, das will ich nicht.«
Ein entsetztes Aufseufzen, eini-ge Überraschungsrufe, allgemeine Unruhe folgten diesem Satz. Anna und Christian wechselten einen kurzen Blick, dann wandten sie sich wieder dem Geschehen am Altar zu. Der Bräutigam schien der Braut noch etwas zuzuraunen, dann drehte er sich um und jagte vor den Augen der entgeisterten Gäste über den Mittelgang zum Kirchenportal und riss es auf. Es schloss sich mit einem donnernden Schlag hinter ihm.
Alle anderen saßen oder standen noch auf ihrem Platz, niemand war imstande gewesen, sich zu rühren, der Schock über das, was soeben geschehen war, saß zu tief. Lara stand hoch aufgerichtet vor dem Altar, das Gesicht fassungslos und eine einzige Frage. Lucie und Albert, neben ihr, wirkten ebenso schockstarr wie sie und schienen nicht glauben zu können, was sich gerade vor ihren Augen abgespielt hatte. Jetzt kam Bewegung in die ersten Reihen, Laras Vater Otto sprang auf und eilte zu seiner Tochter, auch ihre Mutter stand jetzt auf, ebenso wie Lorenz’ Eltern. Moritz zu Hirtenberg sah aus, als hätte ihn der Schlag getroffen, während seiner Frau Tränen über die Wangen liefen.
Die Unruhe unter den Gästen wuchs, bis sich Otto von Kessel, neben seiner Tochter stehend, entschlossen umdrehte und mit nicht ganz sicherer Stimme sagte: »Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, niemand von uns begreift, was soeben geschehen ist. Ich kann Sie nur um Ihr Verständnis bitten dafür, dass Sie den Weg hierher umsonst auf sich genommen haben. Sie verstehen sicher, dass wir uns nun zu allererst um unsere Tochter kümmern möchten. Wir wären Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie uns jetzt keine Fragen stellen würden, die wir so wenig beantworten können wie Sie. Bitte, lassen Sie uns allein. Auf Wiedersehen.«
Trotz dieser Worte bewegte sich in der großen Kirche zunächst einmal niemand – fast so, als hätte es eine geheime Verabredung gegeben. Schließlich ergriff Baronin Sofia die Initiative, indem sie aufstand und sagte: »Wir gehen!« Sie stupste ihre Tochter und ihren Neffen an. »Einer muss den Anfang machen, sonst bleiben alle sitzen und warten darauf, dass noch etwas passiert.«
Anna und Christian erhoben sich nur widerwillig. Sie wären lieber noch geblieben, aber nun drängte auch Baron Friedrich zum Aufbruch, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Kirche zu verlassen. Am Ausgang drehten sie sich noch einmal um, doch zu sehen gab es nur das Bild, das sie schon kannten.
»Können wir nicht doch noch bleiben«, fragte Anna, als ihre Mutter der wartenden Limousine zustrebte. »Vielleicht …«
Sofia drehte sich um. »Wir fahren, Anna!«, sagte sie energisch und mit blitzenden Augen, die ihre Tochter vor Widerspruch warnten. »Hier gibt es für neugierige Teenager nichts herauszufinden – das ist ein Familiendrama, das uns nichts angeht, verstanden? Wir können unseren freundschaftlichen Beistand anbieten, aber erst später. Jetzt ist erst einmal Diskretion gefragt.«
Anna schmollte mit vorgeschobener Unterlippe, aber nicht lange. Als Christian sie anstieß und fragte: »Kennst du den da?«, ließ sie sich sofort ablenken.
Ihr Blick fiel auf einen blonden, untersetzten Mann, der aussah, als sei ihm sein auf den Leib geschneiderter Anzug zu eng. Er stand ein wenig abseits, so, als gehörte er nicht dazu, aber er sah, anders als alle anderen Gäste, die die Kirche verließen, ausgesprochen zufrieden aus.
»Nein«, antwortete Anna. »Du?«
Bevor Christian antworten konnte, sagte Baron Friedrich: »Nun steigt endlich ein, Kinder, ihr habt doch gehört, was Otto von Kessel gesagt hat: Er möchte, dass die Familie jetzt erst einmal in Ruhe gelassen wird. Für diesen Wunsch habe ich vollstes Verständnis, und ich hoffe, ihr auch.«
Sie stiegen also ein, und Per Wiedemann, der Chauffeur, den der Baron in knappen Worten von dem Vorgefallenen in Kenntnis gesetzt hatte, schaltete den Motor ein und rollte vom Parkplatz.
Anna fragte nicht noch einmal nach dem blonden Mann, denn nun hatten Christian und sie keine Möglichkeit mehr, ohne Zuhörer miteinander zu sprechen. Sie würde sich also bis Sternberg gedulden müssen, um ihre Frage zu wiederholen.
*
»Wusstet ihr, was Lorenz vorhatte?«, fragte Otto von Kessel. Sie standen jetzt als kleine Gruppe vor dem Altar, der Pfarrer hatte sich dezent zurückgezogen.
»Natürlich nicht«, weinte Maria zu Hirtenberg. »Wie kannst du nur so etwas fragen, Otto?«
»Entschuldige, aber ich … Wir sind wohl alle durcheinander.« Otto wollte Lara in seine Arme ziehen, doch sie sträubte sich.
»Albert, bitte, such Lorenz«, sagte sie, sich an den Freund ihres Bräutigams wendend. Es waren ihre ersten Worte, seit Lorenz die entscheidende Frage mit ›nein‹ beantwortet hatte. »Ich mache mir Sorgen um ihn.«
Ihr Vater sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Auch ihre Mutter und Lorenz’ Eltern wirkten verwirrt. »DU machst dir Sorgen um IHN?«, rief Otto. »Das ist doch wohl die Höhe, Lara! Er hat dich gerade vor allen unseren Freunden und Bekannten sitzen lassen, er hat dich gedemütigt, er hat …«
Lara unterbrach ihn. »Papa, er muss einen triftigen Grund dafür gehabt haben, sonst hätte er das niemals getan«, erklärte sie.
Moritz zu Hirtenberg murmelte: »Bitte, entschuldigt mich einen Augenblick, mir wird übel.« Mit diesen Worten stürzte er aus der Kirche, seine Frau folgte ihm unter Tränen.
»Ich versuche, ihn zu finden, Lara!«, sagte Albert, der froh war, etwas tun zu können. Er folgte Lorenz’ Eltern nach draußen, konnte sie jedoch auf dem Kirchenvorplatz nirgends sehen. Und natürlich gab es auch von Lorenz keine Spur, das hatte er aber nicht anders erwartet. Er wählte die Handynummer seines Freundes, aber das Handy war ausgeschaltet. Auch das überraschte ihn nicht. Er fragte sich, ob Lorenz in seine Wohnung gefahren war. Auf jeden Fall würde er später nachsehen, aber er rechnete nicht damit, seinen Freund dort anzutreffen.
Er beschloss, in die Kirche zurückzukehren, das war er Lorenz wohl schuldig. Als er sich umdrehte, fiel sein Blick erneut auf Michael von Angern, der mit seinen Begleitern gerade in eine wartende schwarze Limousine stieg. Komisch, dachte Albert, er war also offenbar in der Kirche – aber wieso? Er kennt Lorenz nicht, er kennt die Familie nicht – was wollte er dann bei der Trauung?
Er betrat die Kirche. Lara, Lucie und Laras Eltern kamen ihm bereits entgegen. Lara hielt sich noch immer sehr aufrecht. Sie war blass, aber sie weinte nicht, und sie stützte sich auch nicht auf den Arm ihres Vaters. »Weißt du, wo er ist?«, fragte sie.
»Nein, tut mir leid – keine Spur von ihm«, erklärte Albert. »Sein Handy ist ausgeschaltet.«
Sie nickte, als hätte auch sie nichts anderes erwartet.
Als sie die Kirche verließen, kamen ihnen Maria und Moritz zu Hirtenberg entgegen. »Entschuldigt bitte«, murmelte Moritz. »Mir ist das auf den Magen geschlagen.«
»Uns allen«, stellte Otto fest.
»Wollen wir zu uns fahren?«, schlug Bettina vor. »Ich meine …, ich weiß gar nicht, was wir jetzt tun sollen. Dieser Tag war ja völlig anders geplant …« Auch ihre Augen schwammen in Tränen.
»Ich kann nicht«, sagte Lorenz’ Vater sofort. »Bitte, verzeiht mir, aber ich muss mich hinlegen, mir ist immer noch übel. Lara, bitte sei uns nicht böse, wir hatten keine Ahnung, dass Lorenz vorhatte …« Er brach ab. Es schien unmöglich zu sein, auszusprechen, was sein Sohn getan hatte.
»Ich bin euch nicht böse«, erklärte Lara. »Und ich möchte jetzt auch nicht mit zu euch, Mama. Bitte, fahrt mich zu meiner Wohnung, damit ich mich umziehen kann. Danach will ich erst einmal in Ruhe nachdenken.«
»Aber wir können dich doch nach diesem Vorfall nicht allein lassen!«, rief Bettina.
»Ich kann bei Lara bleiben«, schlug Lucie rasch vor. »In Ordnung, Lara?«
»Ja, in Ordnung. Mama, versteh doch: Es gibt nichts zu reden. Wir können nur Vermutungen anstellen, aber das führt zu nichts. Warum Lorenz heute ›nein‹ gesagt hat, kann nur er uns erklären.«
Ihre Eltern sahen ein, dass sie nicht ganz Unrecht hatte. Sie wären zwar lieber bei Lara geblieben, aber tun konnten sie tatsächlich nicht viel für sie, und so willigten sie schließlich ein, sie in Lucies Obhut zu lassen.
Eine Viertelstunde später war der Kirchenvorplatz vollkommen leer. Es war so, als hätte es an diesem Morgen überhaupt keine Hochzeitsgesellschaft gegeben.
*
»Wo sind Sie jetzt?«, fragte Michael von Angern in herrischem Ton, als er den erwarteten Anruf bekam.
»Das geht Sie nichts an«, antwortete Lorenz. »Ich habe getan, was Sie wollten – und ich bin nicht mehr in der Stadt. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Jetzt sind Sie dran.«
»Ich weiß – ich habe schon alles veranlasst.«
»Kommt mir zu Ohren, dass Sie versuchen, mich zu betrügen, bin ich eine Stunde später bei Lara und erkläre ihr alles.«
»Schon gut, schon gut, Sie junger Heißsporn. Michael von Angern hält seine Versprechen, das werden Sie schon noch lernen.«
»Mir reicht dieses eine«, sagte Lorenz kalt. »Ich habe nicht die Absicht, mich noch auf weitere sogenannte ›Geschäfte‹ mit Ihnen einzulassen.«
»Nun nehmen Sie den Mund mal nicht so voll, junger Mann.« Ein gefährlicher Unterton hatte sich in Michael von Angerns Stimme geschlichen. »Und hören Sie auf, in diesem Ton mit mir zu reden.«
»Ich rede mit Ihnen, wie es mir passt«, erklärte Lorenz müde, »aber am liebsten überhaupt nicht mehr.«
Ein heiseres Lachen antwortete ihm, dann klickte es, das Gespräch war beendet.
Lorenz schaltete das Handy aus – es war ein neues, die Nummer kannte niemand, nur er. Dann setzte er sich wieder ans Steuer des Mietwagens und fuhr weiter. Er wollte ins Wendland, möglichst weit weg von der süddeutschen Kleinstadt, in der er aufgewachsen war und mit Lara hatte leben wollen. Ihm blieb nur noch ein Gespräch zu führen, aber das hob er sich für den nächsten Tag auf. Heute hatte er dafür keine Kraft mehr.
Mit Lara durfte er nicht sprechen, das gehörte zu seiner ›Vereinbarung‹ mit Michael von Angern. Und er durfte auch nicht an sie denken, denn wenn er es tat, riskierte er, dass ihm das Herz brach. Doch wie sollte er das anstellen: nicht an Lara denken? Ein Leben ohne sie war ihm, seit er ihr das ers-te Mal begegnet war, undenkbar erschienen – und nun war es genau das, was vor ihm lag: ein Leben ohne die Frau, die er liebte, der er vertraute, mit der er hatte alt werden wollen. Vorbei, bevor es auch nur begonnen hatte. Er fuhr an den Straßenrand, stellte den Motor aus und ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken.
Ihn verließ der Mut.
*
»Michael von Angern?«, fragte Anna, die Christian in sein Zimmer gefolgt war. Dort hatte sie umgehend die Frage wiederholt, wer der blonde Mann war, den ihr Cousin ihr vor der Kirche gezeigt hatte. »Du meinst, diesen reichen Typen, bei dem niemand weiß, womit er so reich geworden ist und über den alle reden, weil sie denken, dass er irgendwie kriminell ist?«
»Ja, genau der«, antwortete Christian.
Anna ließ sich auf sein Bett fallen. »Und woher weißt du das?«, fragte sie. »Du kennst dich doch sonst in diesem Milieu nicht so gut aus.«
»Ich habe neulich einen Artikel über ihn gelesen, darin haben sie ihn als gefährlichen Mann beschrieben. Es war ein Bild dabei – und sein Gesicht vergisst man nicht, wenn man es einmal gesehen hat.«
»Könnte stimmen«, murmelte Anna. »Inwieweit soll er denn gefährlich sein?«
Christian zuckte mit den Schultern. »Er hat Macht und Einfluss – und beides übt er aus. Und zwar so, dass es ihm selbst dient. Ihm werden auch Verbindungen zu Kriminellen nachgesagt, aber beweisen konnte das noch niemand.«
»Ich verstehe nicht, warum er auf Laras und Lorenz’ Hochzeit erscheinen sollte. Du?«
Christian schüttelte den Kopf. »Das ist die Frage, die ich mir auch schon gestellt habe, aber eine Antwort ist mir bisher nicht eingefallen.«
»Meinst du, Lorenz hätte deshalb ›nein‹ gesagt?«, fragte Anna zögernd. »Ich meine, wegen dieses Gangsters – dass der damit etwas zu tun hat?«
»Sag nicht laut, dass er ein
Gangster ist, Anna, der Mann ist gefährlich.«
»Ich sage es ja nur zu dir.«
»Ich weiß nicht, ob es einen Zusammenhang gibt. Auf jeden Fall ist es merkwürdig, dass er dort war. Und dass Lorenz ›nein‹ gesagt hat, ist auch merkwürdig, weil er Lara nämlich liebt.«
Lara und Lorenz hatten den Sternbergern erst einige Wochen zuvor überraschend einen Besuch abgestattet. Es war für alle offensichtlich gewesen, wie sehr sie einander liebten.
»Wir könnten versuchen, über diesen Herrn von Angern etwas herauszufinden.«
»Da scheint es nicht viel zu geben. Er geht mit Rechtsanwälten gegen jede Veröffentlichung vor, die ihm nicht passt – und bisher hat er seine Prozesse fast alle gewonnen, weil er so viel Geld hat, dass er immer weiter prozessieren kann.«
»Jetzt hast du mich wirklich neugierig gemacht«, stellte Anna fest. »Irgendwer wird schon etwas über ihn wissen. Wir könnten mit meinen Eltern anfangen.«
Christian war einverstanden – schließlich war er selbst neugierig geworden, als er den Mann auf dem Kirchenvorplatz erkannt hatte. Und es schadete ja nicht, wenn sie versuchten, an ein paar Informationen zu gelangen.
Aber als sie später Baronin Sofia und Baron Friedrich beiläufig nach Michael von Angern fragten, muss-ten sie feststellen, dass Annas Eltern nicht mehr über den Mann wussten als sie. Und da sie ihr Interesse nicht allzu deutlich zeigen wollten, wechselten sie bald darauf das Thema.
Weitere Informationen mussten sie sich offenbar auf anderen Wegen verschaffen.
*
»Du willst morgen ins Büro gehen?«, fragte Lucie entgeistert, als sie mit Lara am Sonntag beim Frühstück saß. Das Telefon hatten sie ausgehängt, weil die ständigen besorgten Anrufe Lara nicht halfen, sondern sie im Gegenteil nur aufregten. Natürlich verstand sie, dass ihre Eltern sich Sorgen um sie machten, aber sie fand die immer wiederkehrenden Fragen nach Lorenz’ Beweggründen nicht hilfreich und hatte das bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht. Es gab ja keine Antworten, und so drehte sich jedes Gespräch um das gestrige Geschehen sehr schnell im Kreis. Dennoch schienen nicht nur ihre Eltern, sondern auch andere Freunde und Bekannte das Bedürfnis zu verspüren, das Thema immer und immer wieder anzuschneiden und von allen Seiten zu beleuchten.
»Ja, das will ich«, erklärte Lara. Nachdenklich trank sie einen Schluck Tee. »Ich lebe mein Leben ganz normal weiter, Lucie, sonst werde ich nämlich verrückt. Und ich muss versuchen, Lorenz zu finden. Er kann sich ja schlecht in Luft aufgelöst haben.«
»Aber ins Büro …«, murmelte Lucie.
Lara und Lucie arbeiteten im selben Architekturbüro – sie waren ein junges Team von insgesamt acht Leuten, das bereits erste Erfolge zu verbuchen hatte. Gerade erst waren sie aus einem internationalen Wettbewerb siegreich hervorgegangen.
»Ja, ins Büro!«, bekräftigte Lara ein weiteres Mal. »Das lenkt mich ab, ich kann doch jetzt nicht die ganze Zeit zu Hause sitzen und grübeln, Lucie. Außerdem haben wir so viel Arbeit – die anderen haben doch ohnehin schon gestöhnt wegen meiner Hochzeitsreise, dabei sollte die nur eine Woche dauern, und das war ihnen schon zu lang. Jetzt gibt es keine Hochzeitsreise, da werden sie zufrieden sein.«
»Werden sie nicht«, widersprach Lucie. »Sie werden dich bedauern, und unsere Kunden werden anrufen und wissen wollen, was da eigentlich passiert ist. Mit anderen Worten: Du wirst ständig an deine geplatzte Hochzeit erinnert werden. Es wird so sein wie gestern und heute hier in der Wohnung – allerdings mit dem Unterschied, dass du im Büro das Telefon nicht aushängen kannst.«
»Ein paar Tage lang vielleicht, dann ist das auch vorbei«, murmelte Lara, während sie gedankenverloren aus dem Fenster sah. Es regnete, das Wetter hatte sich ihrer Stimmung angepasst.
»Sag mir eins«, bat Lucie.
Lara wandte sich ihr zu. »Wenn du mich jetzt fragst, ob ich denn an Lorenz keine Veränderung bemerkt hätte, so dass ich hätte ahnen können, was passieren würde, kratze ich dir die Augen aus, Lucie.«
Lucie machte eine wegwerfende Handbewegung zum Zeichen dafür, dass ihr diese Frage niemals in den Sinn gekommen wäre. »Kennst du Michael von Angern?«
»Wie bitte? Was soll das denn für eine Frage sein?«
»Kennst du ihn?«
»Den Namen – den kennt hier in der Stadt schließlich jedes Kind. Aber persönlich kenne ich ihn nicht. Wieso fragst du nach ihm?«
»Er war gestern in der Kirche«, erklärte Lucie.
»Du musst dich irren. Ich kenne ihn nicht, und Lorenz kennt ihn auch nicht.«
»Vielleicht doch.«
»Bestimmt nicht, denn dann hätte er den Namen sicherlich mal erwähnt, Lucie, das kannst du mir glauben. Michael von Angern ist schließlich nicht irgendwer.«
»Ja, so kann man das sagen«, murmelte Lucie.
Lara sah sie scharf an. »Was willst du mir eigentlich sagen?«
»Nichts, ich denke nur laut«, erklärte Lucie. »Jedenfalls irre ich mich nicht, Lara, er war wirklich da.«
»Und wenn schon, das heißt doch überhaupt nichts.«
»Da wäre ich nicht so sicher. Wenn ein Mensch, dem man vermutlich nicht zu Unrecht nachsagt, dass er Verbindungen zur Unterwelt hat, auf deiner Hochzeit erscheint, dann kommt mir das zumindest bemerkenswert vor.«
»Vielleicht kannte er einen der Gäste und hat sich nur zufällig an der Kirche mit ihm getroffen. Er soll seine Geschäfte doch praktisch überall abwickeln, warum also nicht auf meiner Hochzeit?«
»Ja, kann sein«, gab Lucie zu, da sie bemerkte, dass diese Diskussion zu nichts führen würde. »Sag mal, du zweifelst nicht an Lorenz’ Liebe, oder?«
»Nein, tue ich nicht. Er muss einen triftigen Grund für sein Verhalten gehabt haben, davon bin ich überzeugt.«
»Beneidenswert«, murmelte Lucie.
»Was?«
»Dein Vertrauen zu ihm. Dein Glaube an ihn. Deine Liebe zu ihm. Ich glaube, wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich zu zweifeln anfangen.«
»Würdest du nicht – jedenfalls nicht, wenn du den Richtigen gefunden hättest«, erklärte Lara ruhig. »Ich liebe Lorenz, Lucie. Und ja, ich habe etwas bemerkt vor dem gestrigen Tag.«
Lucie riss die Augen auf. »Davon hast du mir bis jetzt ja noch gar nichts gesagt!«
»Ich habe gedacht, er ist aufgeregt und hat vielleicht doch Zweifel bekommen, ob es richtig ist, jetzt schon zu heiraten. Das geht doch vielen so, jedenfalls hört man das immer wieder. Er war auch nicht richtig verändert, nur ein bisschen stiller und in sich gekehrter. Aber zu keinem Zeitpunkt dachte ich, dass er mich nicht liebt oder daran zweifelt, dass wir zusammengehören. Erst jetzt, nach dem, was gestern geschehen ist, sehe ich sein Verhalten natürlich in einem anderen Licht. Etwas muss geschehen sein …«
»Aber was, Lara?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber es gibt noch einen anderen Grund, weshalb ich nicht an seiner Liebe zweifele.«
»Welchen?«
»Bevor er aus der Kirche gestürzt ist, hat er gesagt: »Ich werde dich immer lieben, Lara.«
»Und dann hat er sich umgedreht und ist weggelaufen?«
Lara nickte. »Ich weiß nicht, was ihn dazu gebracht hat, mich zu verlassen, Lucie, aber ich werde es herausfinden, verlass dich drauf.«
»Und wie willst du das anstellen?«
»Das weiß ich noch nicht. Hilf mir, nachzudenken – zu zweit fällt einem vermutlich mehr ein als allein, meinst du nicht?«
»Keine Ahnung«, murmelte Lucie. »Im Augenblick ist mein Kopf völlig leer, wenn du es genau wissen willst.«
Ein plötzliches Lächeln erhellte Laras Gesicht. Sie beugte sich vor und griff nach der Hand ihrer Freundin. »Meiner auch, Lucie«, sagte sie mit warmer Stimme. »Aber du sollst wissen, wie froh ich bin, dass du bei mir geblieben bist gestern. Ganz allein wäre ich nicht gern gewesen an meinem Hochzeitstag, nur wollte ich das meinen Eltern gegenüber nicht zugeben.«
Sie blieben noch eine Weile so sitzen, jede in ihre eigenen Gedanken vertieft. Lucie fragte sich, ob Lara mit ihrer Einschätzung Recht hatte – und Lara machte sich Sorgen um Lorenz: Wo hielt er sich jetzt auf, was tat er, weshalb war er geflohen?
Sie hoffte sehr, in nächster Zeit Antworten auf diese Fragen zu finden.
*
»Uli!«, sagte Baron Friedrich von Kant erfreut, als er den Mann erkannte, der in diesem Augenblick den Pferdestall betrat, in dem er gerade einen neuen Hengst in Augenschein nahm.
Kriminalrat Ulrich von Wandel umarmte seinen älteren Freund herzlich. »Wurde ja mal wieder Zeit für einen Besuch, Fritz, oder?«, fragte er.
»Kann man so sagen, ja.« Der Baron wies auf den Hengst. »Was sagst du dazu?«
»Ein wundervolles Tier«, erklärte der Kriminalrat. Ulrich von Wandel verstand etwas von Pferden, er war selbst auf einem Gestüt aufgewachsen. Seine Eltern hatten die Pferdezucht allerdings bereits vor geraumer Zeit aufgegeben. »Wenn ich mich hier so umsehe, wird mir immer ganz wehmütig ums Herz, muss ich sagen. So viele Erinnerungen steigen dann in mir auf. Ist ja schon lange her mit unserem Gestüt, aber für mich als Kind war es das Paradies.«
»Du bist herzlich eingeladen, dich öfter hier blicken zu lassen, damit du in Erinnerungen schwelgen kannst. Bleibst du über Nacht?«
»Nein, das wird leider nicht gehen, ich habe viel Arbeit und muss rechtzeitig nach Hause zurück, weil ich morgen sehr früh im Büro sein will. Aber wenn ihr mich zum Abendessen einladet, sage ich nicht nein.«
»Ist hiermit geschehen«, erklärte der Baron. »Hast du Lust, dir noch weitere Pferde anzusehen? Es gibt noch einige, die ich dir gerne zeigen würde.«
Ulrich von Wandelt lachte. Er war ein wenig kleiner als der Baron, sein Haar wurde, obwohl er noch keine vierzig war, an den Schläfen bereits grau, und seine blasse Haut verriet, dass er seine Zeit überwiegend am Schreibtisch verbrachte. Wohl aus diesem Grunde wölbte sich unter seiner Jacke ein kleiner Bauch, den er jedoch mit Eleganz und Würde zu tragen wusste. Er war kein eigentlich gut aussehender Mann, dennoch wirkte er auf Frauen überaus anziehend, weil er charmant und lebhaft war, klug und amüsant erzählen, aber auch geduldig zuhören konnte.
Trotz dieser Vorzüge war er noch immer allein, was nicht nur er, sondern auch seine Freunde und Bekannten auf seinen Beruf schoben: Keine Frau mochte es, wenn ihr Mann zu den unmöglichsten Zeiten Dienst hatte und oft genug mitten in der Nacht aus dem Bett geklingelt wurde. Ganz abgesehen davon, dass er sich sehr veränderte, wenn ein Fall ihn stark beschäftigte – dann verwandelte er sich unversehens in einen stillen und verschlossenen Menschen. So war es auch zu erklären, dass er in recht jungen Jahren bereits Kriminalrat geworden war – es hatte nicht nur mit seinem scharfen Verstand, sondern auch mit seinem unbedingten Arbeitswillen zu tun.
»Du weißt genau«, sagte er jetzt, »dass ich einem solchen Angebot unmöglich widerstehen kann. Pferde sind noch immer meine ganze Leidenschaft – nur fehlt mir normalerweise leider die Zeit dafür.«
Während die beiden Männer ihren langsamen Rundgang durch die Ställe begannen, berichteten sie einander, was sie seit ihrem letzten Treffen erlebt hatten. Dabei machten sie immer wieder vor einzelnen Boxen Halt, weil der Baron sei-
nem Gast die Gelegenheit geben wollte, die jeweiligen Pferde zu bewundern. Irgendwann fragte der Kriminalrat: »Und Chris? Wie geht es ihm jetzt, nachdem etliche Monate seit dem Unglück vergangen sind?«
Er spielte damit auf das tragische Ende von Christians Eltern an: Das Fürstenpaar von Sternberg war bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen. Seitdem war Christian Vollwaise und lebte in der Familie von Kant – Sofia war eine Schwester seiner Mutter gewesen.
»Wir sind stolz auf ihn«, antwortete der Baron schlicht. »Er ist natürlich stiller geworden, auch reifer.«
»Wenn man mit fünfzehn Jahren beide Eltern verliert«, murmelte Ulrich, »kann einen das vollkommen aus der Bahn werfen, glaube ich.«
»Ja, aber das ist zum Glück nicht passiert«, erwiderte Friedrich. »Wir haben Angst genug um ihn gehabt – zum Beispiel, dass er depressiv werden könnte, Uli.«
»Die Gefahr bestand sicher auch.«
»Vielleicht. Aber er ist stark, und er hat seine eigene Methode entwickelt, die Erinnerung an seine Eltern zu pflegen.«
»Methode?«, fragte Ulrich verwundert.
Der Baron lächelte. »Er besucht seine Eltern jeden Tag auf dem Familienfriedhof und erzählt ihnen, was ihn bewegt.«
»Er redet mit ihnen? Laut?«
»Nein, in Gedanken. Togo, sein Boxer, begleitet ihn. Chris bleibt meistens eine Viertelstunde auf dem Hügel, dann kommt er zurück und macht in der Regel einen ruhigen und gefassten Eindruck. Man könnte es vielleicht mit der Wirkung einer Meditation vergleichen.«
Sie verließen den Pferdestall und sahen unwillkürlich hinüber zu dem kleinen Hügel, der sich am Rande des Schlossparks erhob: Dort wurden seit Generationen alle Familienmitglieder bestattet.
»Nennen ihn die Leute noch immer ›der kleine Fürst‹?«, erkundigte sich Ulrich.
»Ja, natürlich. Das wird sicher auch so bleiben, bis er volljährig ist.«
»Und damit der nächste Fürst von Sternberg«, murmelte Ulrich.
»Lass uns zurückgehen«, schlug der Baron vor. »Du hast doch Sofia und die Kinder noch gar nicht begrüßt – oder?«
»Nein, nur Herrn Hagedorn«, erklärte Ulrich. »Danke für den Rundgang, Fritz – es war mir ein großes Vergnügen.«
In bestem Einvernehmen machten sich die beiden Männer auf den Weg zum Schloss.
*
»Bist du allein, Papa?«, fragte Lorenz.
Baron Moritz zu Hirtenberg schnappte hörbar nach Luft. »Ja!«, rief er. »Wo bist du, Lorenz? Was steckt hinter dieser ganzen Geschichte? Wenn du wüsstest, was wir uns deinetwegen für Sorgen machen …«
Lorenz unterbrach ihn. »Ich kann nicht lange reden, Papa. Und ich werde, was geschehen ist, auch nur dir erklären, keinem Menschen sonst. Also, hör mir zu!«
Moritz wollte etwas erwidern, doch die nächsten Worte seines Sohnes ließen ihn verstummen. Je länger er zuhörte, desto blasser wurde er, seine Augen füllten sich mit Tränen, schließlich fing er an zu zittern.
»Das ist alles«, sagte Lorenz endlich. »Ich dachte mir, du solltest es wissen. Und ich hoffe, du ziehst die Konsequenzen, damit das, was ich getan habe, wenigstens nicht umsonst gewesen ist.« Ohne weiteres Wort beendete er das Gespräch.
»Lorenz!«, rief Moritz, doch die Leitung war bereits tot. Mit bebenden Fingern legte er das Telefon auf den Tisch, dann schlug er beide Hände vors Gesicht.
So fand ihn wenig später seine Frau. »Moritz, was ist denn passiert?«, rief Maria zu Hirtenberg und eilte zu ihrem Mann. Sie kniete sich neben seinen Stuhl, umfing ihn mit beiden Armen. »Moritz, bitte, rede doch mit mir.«
Zunächst sah es so aus, als hätte er ihre Frage nicht einmal gehört, doch endlich ließ er die Hände sinken und sah sie an. Sie erschrak, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. »Was ist passiert?«, wiederholte sie leise und voller Angst. Eine plötzliche Ahnung verriet ihr, dass ihr Leben sich von Grund auf ändern würde, sobald er ihre Frage beantwortete.
Er fing an zu reden – stockend zunächst. Immer wieder suchte er nach den richtigen Worten, fand sie nur mühsam. Nach einer Weile sprach er flüssiger, schneller, freier.
Ihr wurde das Herz immer schwerer, je länger sie ihm zuhörte. Vieles, das sie in der Vergangenheit nicht verstanden hatte, wurde ihr jetzt schlagartig klar. Es war, als erhellte ein greller Blitz alles, was bisher im Dunkeln gelegen hatte. Oder war sie einfach nur blind gewesen?
Als er schwieg, blieb es lange still, bis Moritz zaghaft fragte: »Wirst du mir jemals verzeihen können, Maria?«
Sie sah ihn an mit einem Blick, der ihn die Augen verlegen niederschlagen ließ. »In guten wie in schlechten Tagen, Moritz«, erwiderte sie leise. »Bis dass der Tod uns scheidet.« Sie umarmte und küsste ihn, dann stand sie auf und setzte sich ihm gegenüber. »Das muss aufhören, Moritz«, sagte sie ruhig. »Und zwar sofort.«
Er nickte. Seine Augen waren gerötet, das fiel in seinem blassen Gesicht noch stärker auf. Innerhalb weniger Minuten schien er um Jahre gealtert zu sein. »Ja«, bestätigte er, »ich weiß. Eigentlich weiß ich es schon lange, aber bisher hat mir die Kraft gefehlt.«
»Und jetzt?«
»Wenn ich es jetzt nicht schaffe, schaffe ich es nie, Maria. Ich weiß auch schon, was ich tun werde.«
Als er ihr seinen Plan schilderte, nickte sie nur, aber sie wusste: Mehr als ein Plan war es nicht.
Noch hatten sie nichts erreicht.
*
»Marie«, sagte Eberhard Hagedorn, der langjährige Butler auf Schloss Sternberg, »Kriminalrat von Wandel wird heute Abend zum Essen bleiben.«
»Ausgerechnet heute«, murmelte Marie-Luise Falkner. »Ausgerechnet, Herr Hagedorn!« Sie wirkte geradezu verzweifelt. In den letzten Jahren hatte die junge Köchin die Sternberger Küche weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt gemacht, weil sie einfallsreich kochte und sich erst zufrieden gab, wenn ein Gericht so schmeckte, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Der alte Butler sah sie verwundert an. »Sonst freuen Sie sich doch immer über eine Herausforderung«, stellte er fest. »Und heute beklagen Sie sich? Das habe ich ja bisher noch nie erlebt!«
»Ich beklage mich, weil mir zwei Hilfen in der Küche ausgefallen sind!«, rief sie. »Wie soll ich denn ein erstklassiges Menü auf die Beine stellen, wenn ich es ganz allein machen muss? Bei genügend Zeit ist das kein Problem, aber wenn das Essen innerhalb von zwei Stunden serviert werden soll …« Sie sah aus, als sei sie kurz davor, sich die Haare zu raufen.
»Was hätten Sie denn ohne den Gast heute Abend serviert?«, erkundigte sich Eberhard Hagedorn mit seinem zurückhaltenden Lächeln. Er hatte Marie-Luise Falkner gern, denn sie war auf ihrem Gebiet so ehrgeizig wie er auf seinem: Sie gaben sich beide nur zufrieden, wenn alles perfekt war.
»Nichts Besonderes«, murrte sie. »Hummercremesuppe – die habe ich schon fertig, die wird es auf jeden Fall geben. Aber als Hauptgericht sollte es Semmelknödel mit Pilzen geben, und der Herr Kriminalrat ist doch allergisch gegen Pilze.«
Eberhard Hagedorn unterdrückte ein Schmunzeln. Es sprach für die junge Köchin, dass sie sich solche Dinge merkte. »Ich bin sicher, Ihnen wird eine andere Lösung einfallen«, erklärte er. »Vielleicht heben Sie sich die Pilze für morgen auf und bereiten heute das zu, was eigentlich morgen auf den Tisch kommen sollte?«
Sie sah ihn nachdenklich an, er bemerkte, dass ihr Hirn bereits auf Hochtouren arbeitete. Gleich darauf breitete sich ein sonniges Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Herr Hagedorn, Sie sind ein Genie!«, verkündete sie.
»Eher nicht«, widersprach er bescheiden. »Ich weiß nur, dass man in der Regel aus der Not eine Tugend machen kann, wenn man nicht in Panik verfällt.«
»Raus aus meiner Küche!«, kommandierte sie. »Ich habe keine Zeit mehr zum Plaudern, ich muss mich um das Menü kümmern!«
Er folgte ihrer Aufforderung umgehend. Mit Sicherheit, dachte er, würde Kriminalrat von Wandel an diesem Abend eine kulinarische Sternstunde erleben.
*
»Ach, du bist es«, sagte Lucie und öffnete die Tür von Laras Wohnung, um Albert von Laarweiler einzulassen.
»Mit wem hattet ihr denn gerechnet?«, erkundigte er sich.
»Mit niemandem«, erklärte sie. »Aber das Telefon haben wir ausgehängt, weil es unablässig geklingelt hat, und an der Tür waren auch schon etliche Leute, mit denen wir aber nicht reden wollten.«
»Dann bedanke ich mich dafür, eingelassen worden zu sein«, erklärte Albert.
»Darauf kannst du dir auch etwas einbilden.«
Er folgte Lucie ins Wohnzimmer, wo Lara in einem Sessel saß und ihm zur Begrüßung zulächelte. Verwundert stellte er fest: »Du siehst nicht so aus wie eine am Boden zerstörte verlassene Braut, Lara.«
»Wäre es dir lieber, wenn du mich in Tränen aufgelöst angetroffen hättest?«, erkundigte sie sich.
»Natürlich nicht, aber …« Er zuckte mit den Schultern. »Es wäre das Normale gewesen, oder nicht?«
»Ich bin keine verlassene Braut«, stellte sie fest. »Das sieht nur so aus. Lorenz hat sich gezwungen gefühlt, so zu handeln, aber er ist nicht weggelaufen, weil er mich nicht liebt. Das weiß ich.«
»Was willst du damit sagen? Er hat sich gezwungen gefühlt?«, fragte Albert mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Die Frage kann ich dir nicht beantworten, noch nicht. Aber ich bin fest entschlossen, es herauszufinden.«
Albert stellte in etwa die gleichen Fragen, die zuvor schon Lucie gestellt hatte, und irgendwann sagte Lara: »Lasst uns nicht mehr darüber reden. Ich arbeite ab morgen wieder, und wann immer ich Zeit habe, versuche ich, der Geschichte meiner geplatzten Hochzeit auf den Grund zu gehen. Außerdem glaube ich, dass Lorenz sich bei mir melden wird. Vielleicht nicht sofort, aber irgendwann wird er es tun.«
Lucie und Albert wechselten einen kurzen Blick. Sie waren nicht ganz so zuversichtlich wie Lara, widersprachen ihr aber nicht. Es war auch so schon schwer genug für sie – sollte sie sich also ruhig an die Hoffnung klammern, dass sie über kurz oder lang Licht in das Dunkel dieser Angelegenheit würde bringen können.
»Ich mache mich dann mal wieder auf den Weg, Mädels«, sagte Albert, nachdem er etwa eine Stunde geblieben war. »Nochmals danke, dass ihr mich hereingelassen habt – sollte ich etwas von Lorenz hören oder zufällig etwas Wichtiges herausfinden, werde ich mich umgehend bei euch melden.«
Er umarmte Lara und Lucie zum Abschied und ging.
*
Ulrich von Wandel hatte wieder einmal Spaß an den Sternberger Teenagern. Auch Konrad beteiligte sich rege an der Unterhaltung während des Essens, was eher ungewöhnlich war, denn meistens hielt er sich zurück. Es ging um Erlebnisse in der Schule, zu strenge Eltern – und schließlich auch um die Hochzeit von Lara und Lorenz, die nicht stattgefunden hatte.
»Davon habe ich gehört«, erklärte Ulrich. »Eine seltsame Geschichte, denn das junge Paar war doch nach übereinstimmenden Aussagen sehr verliebt ineinander. Was könnte hinter dem ›Nein‹ des Bräutigams stecken?«
»Da fragst du uns zu viel, Uli«, seufzte die Baronin. »Aber ich kann dir sagen, dass es ein Schock für uns alle war. Ich sehe ihn noch vor dem Altar stehen, der Pfarrer hat die entscheidende Frage gestellt, alle waren auf seine Antwort. Es ist sehr still, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Und dann sagt er laut und deutlich: ›Nein‹. Wir alle haben unseren Ohren nicht getraut.«
»Und dann hat er sich umgedreht und ist gegangen, hörte ich.«
»Aber vorher hat er noch etwas zu Lara gesagt«, bemerkte Anna.
»Tatsächlich?«, wunderte sich der Baron. »Also, mir ist das nicht aufgefallen.«
»Mir auch nicht«, erklärte Sofia.
»Es stimmt, was Anna gesagt hat«, bestätigte der kleine Fürst. »Ich habe auch gesehen, dass Lorenz noch etwas zu Lara gesagt hat.«
Konrads Gesicht hatte sich in den letzten Minuten verdüstert. Er hatte wieder einmal etwas Interessantes verpasst, nun konnte er sich an der Unterhaltung nicht mehr beteiligen, weil er nicht dabei gewesen war. Das ärgerte ihn gewaltig. Mit seinen sechzehn Jahren war er sehr darauf bedacht, bereits zu den Erwachsenen zu zählen und sich von Anna und Christian abzuheben – was ihm in dieser Situation nicht gelingen konnte. Um dennoch nicht ganz außen vor zu bleiben, sagte er: »Wahrscheinlich hat er gesagt: ›Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders‹ – oder so ähnlich. In Filmen ist das jedenfalls immer so.«
»Dies ist aber kein Film, Konny«, widersprach Anna. »Ich glaube, er hat etwas anderes gesagt.«
»Und was?«, fragte er. »Kannst du neuerdings von den Lippen ablesen – und das auch noch aus der Entfernung?«
»Nein, kann ich nicht. Ich habe nur sein Gesicht gesehen«, erklärte Anna, die offenbar, zur Erleichterung ihrer Eltern, fest entschlossen war, sich nicht auf einen Streit mit ihrem Bruder einzulassen. »Und sein Gesicht sah so aus, als hätte er ihr vielleicht gesagt, dass er sie trotz allem liebt.« Sie sah Kon-
rads Miene und setzte, bevor er etwas Spöttisches erwidern konnte, schnell hinzu: »Das ist nur eine Vermutung, natürlich.«
Christian kam plötzlich eine Idee, und so fragte er beiläufig: »Uli, kennst du zufällig Herrn von Angern?«
Der Kriminalrat ließ die Gabel sinken, die er soeben zum Munde hatte führen wollen. »Meinst du Michael von Angern, Chris?«
»Ja«, antwortete der kleine Fürst.
»Wie kommst du denn jetzt auf den?«, wunderte sich Konrad.
»Er war in der Kirche«, erklärte Christian. »Und das fand ich komisch. Ich glaube eigentlich nicht, dass er etwas mit Lara oder Lorenz zu tun hat.«
»Ach«, sagte Ulrich von Wandel, »das ist allerdings interessant, Chris. Um deine Frage zu beantworten: Ich kenne ihn nicht persönlich, nein. Aber ihr werdet euch denken können, dass er uns beschäftigt. Man sagt ihm ja aller-hand nach, aber bisher konnte ihm nichts Unrechtmäßiges nachgewiesen werden.«
Die Baronin wandte sich an ihren Neffen. »Woher kennst du den Mann denn, Chris?«, fragte sie verwundert und auch ein wenig beunruhigt.
»Ich hatte ein Foto von ihm gesehen und habe ihn wiedererkannt, Tante Sofia. Außerdem fiel er irgendwie auf, weil er nicht zu den übrigen Gästen passte.«
Der Kriminalrat schmunzelte. »Das kann ich mir allerdings gut vorstellen«, sagte er.
Anna und Christian warteten vergeblich darauf, dass er noch mehr zu Michael von Angern sagte, doch das tat er nicht, und so wandte sich das Gespräch bald wieder anderen Themen zu.
Eine halbe Stunde später stellte Ulrich fest: »Übrigens ist dieses das beste Essen, das ich seit langem zu mir genommen habe. Eine so gute Hummersuppe habe ich noch nie gegessen, und dieser Rehrücken zergeht ja buchstäblich auf der Zunge.«
Eberhard Hagedorn, der sich im Hintergrund hielt, aber dabei stets den Tisch im Auge hatte, um bei Bedarf zur Stelle zu sein, freute sich. Dieses Kompliment würde er umgehend an Marie-Luise Falkner weiterleiten.
Sie hatte sich offenbar, wie von ihm vorausgesehen, wieder einmal selbst übertroffen.
*
Lorenz stand am Montagmorgen früh auf und joggte eine Dreiviertelstunde. Er hatte eine kleine Wohnung gemietet bei einem Bauern – hier war er erst einmal in Sicherheit. Wenn er freilich arbeiten wollte, musste er sich ein elektronisches Klavier ausleihen, aber das hatte Zeit. Die eine Woche, in der er auf Hochzeitsreise gewesen wäre, wollte er sich frei nehmen – danach würde er weiter an seinem Musical arbeiten. Lorenz hatte schon als Junge komponiert, früh war klar gewesen, dass Komponist sein Traumberuf war.
Sein erstes Musical hatte immerhin einen Achtungserfolg errungen, aber er war davon überzeugt, dass das, an dem er zurzeit arbeitete, ihm den Durchbruch bringen würde. Albert allerdings würde ihm fehlen bei der Arbeit. Albert war Musiklehrer geworden, nachdem er hatte feststellen müssen, dass sein Talent zu einer großen Karriere als Pianist nicht reichte. Er hatte eine Zeitlang schwer an dieser Erkenntnis getragen, sich dann jedoch damit arrangiert. Mittlerweile war er glücklich als Lehrer – sein Engagement für die Musik kam nicht nur bei den Schülern gut an, sondern auch bei Eltern und Kollegen. Er hatte eine Schulband und ein
Schulorchester gegründet, und er hatte Lorenz’ erstes Musical mit seinen Schülern auf die Bühne gebracht. Es war eine umjubelte Aufführung geworden, insgesamt hatten sie das Musical zwanzig Mal gespielt.
Als er in die kleine Wohnung zurückkehrte, die in einem Anbau des Bauernhauses untergebracht war, fühlte er sich besser. Er duschte ausgiebig, dann zog er sich an und fuhr nach Lüchow, um dort zu frühstücken und einzukaufen, damit er sich in den nächsten Tagen selbst verpflegen konnte.
Als ihm die Schlagzeile: »Baron sagt ›nein‹ und lässt seine Braut vor dem Altar stehen« in die Augen stach, kaufte er die Zeitung wider besseres Wissen. Er las den Artikel sofort, stellte aber erleichtert fest, dass Lara sich niemandem gegenüber geäußert hatte. Auch ihre Eltern hatten jegliche Auskunft verweigert – seine eigenen schwiegen natürlich sowieso.
Er fragte sich, ob seine Mutter mittlerweile Bescheid wusste. Gern hätte er sie befragt, aber es gehörte zu seinen Vereinbarungen mit Michael von Angern, dass er für ein Vierteljahr vollständig von der Bildfläche verschwand. Daran gedachte er sich zu halten. Der Anruf bei seinem Vater war freilich schon ein Verstoß dagegen gewesen, doch davon würde Herr von Angern nichts erfahren.
Lara allerdings … Er ging mit gesenktem Kopf weiter zum Supermarkt, wo er einkaufen wollte. Nur einmal ihre Stimme hören, nur einmal! Er biss sich auf die Lippen und zwang seinen Gedanken eine andere Richtung auf. Ließ er sich gehen, würde er verrückt werden, und damit war niemandem gedient. Entschlossen griff er nach einem der Einkaufswagen und schob ihn durch die Gänge. Nach und nach füllte er sich, und Lorenz bemerkte dankbar, dass die Beschäftigung mit den einfachen Dingen des täglichen Lebens eine außerordentlich beruhigende Wirkung ausüben konnte. Als er den Supermarkt wieder verließ, war es ihm gelungen, seine unbändige Sehnsucht nach Lara zu verdrängen.
Aber nicht für lange, dann würde sie mit unverminderter Wucht wiederkehren, das war ihm auch bewusst.
*
Laras Tag im Büro war erträglich gewesen. Die Kolleginnen und Kollegen hatten sie in Ruhe gelassen und auch vor unerwünschten Anrufen bewahrt, sie hatte einigermaßen konzentriert arbeiten können. Es war die richtige Entscheidung gewesen, das wusste sie jetzt, auch wenn ihre Eltern und etliche ihrer Freunde anderer Ansicht waren. Aber sie hatte nicht die Absicht, sich beirren zu lassen.
Lucie war in ihre Wohnung gefahren, um ein paar Sachen zu holen – sie hatte sich entschlossen, noch ein paar Tage bei Lara zu wohnen. Darüber war Lara froh.
Als sie ihr Auto erreichte, stellte sie fest, dass jemand daneben stand und sie offenbar erwartete. Ein blonder Mann mit breitem Oberkörper, der ihr lächelnd entgegensah. Sein Gesicht kam ihr vage bekannt vor, aber sie konnte ihn dennoch nicht einordnen. Sie fühlte Unwillen in sich aufsteigen. Wahrscheinlich ein Journalist, der ihr aufgelauert hatte und ihr jetzt seine aufdringlichen Fragen stellen wollte.
Sie wollte ihn gerade mit einer unfreundlichen Bemerkung abwimmeln, als er ihr zuvorkam: »Mir ist ein Missgeschick passiert«, sagte er höflich und wies auf einen Kratzer an ihrem Wagen. »Ist beim Einparken passiert, tut mir wirklich leid. Ich warte schon eine ganze Weile hier – jetzt bin ich froh, dass Sie gekommen sind, so dass ich mich persönlich entschuldigen kann. Ich hoffe, Sie verzeihen mir.«
Etwas an ihm warnte sie. Er sah freundlich aus, er lächelte, er drückte sich korrekt aus – aber ihr gefielen seine Augen nicht. Dennoch erwiderte sie sein Lächeln, bevor sie sich den Kratzer genauer besah. »Sieht nicht katastrophal aus«, bemerkte sie und sah sich um. »Wo ist denn Ihr Wagen?«
»Ein Freund brauchte ihn dringend und ist schon damit weggefahren«, erklärte der Mann. »Darf ich mich vorstellen? Ich bin Michael von Angern.«
Sie verbarg ihre Überraschung. Natürlich, jetzt wusste sie auch, warum er ihr bekannt vorgekommen war. Zugleich schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, welch merkwürdiger Zufall wohl dafür gesorgt hatte, dass dieser Mann offenbar am Tag ihrer geplanten Hochzeit in der Kirche gewesen war, obwohl weder sie noch Lorenz ihn kannten – und dass er jetzt ihren Wagen anfuhr.
»Lara von Kessel«, erwiderte sie ruhig.
»Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Frau von Kessel«, sagte er mit eigenartiger Betonung und fuhr, als sie daraufhin nichts erwiderte, fort: »Ich komme natürlich für den Schaden auf. Hier ist meine Karte. Noch lieber wäre es mir allerdings, Sie würden mir gestatten, den Wagen in einer Werkstatt meines Vertrauens wiederherstellen zu lassen.«
»Danke, das wird nicht nötig sein«, erklärte Lara. »Ich gehöre nicht zu den Menschen, denen ein Kratzer an ihrem Auto schlaflose Nächte bereitet, Herr von Angern. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden? Ich bin verabredet.«
Wenn sie geglaubt hatte, er werde sie daraufhin einsteigen lassen, so sah sie sich getäuscht. Er wich keinen Millimeter zur Seite. »Ich muss darauf bestehen, dass Sie mir wenigstens gestatten, Sie zum Essen einzuladen, Frau von Kessel«, sagte er. »Als Wiedergutmachung.«
Sie wollte seine Einladung umgehend ausschlagen, doch eine gewisse Neugier ließ sie zögern. Er führte etwas im Schilde, dessen war sie sicher – und sie hätte gern gewusst, was es war. Der Kratzer konnte ohne weiteres auch von einem Schlüssel herrühren, sie hatte Erfahrungen damit. Kinder bauten manchmal auf diese Weise ihre Aggressionen ab. Vielleicht hatte Michael von Angern ja einfach einen Vorwand gebraucht, um mit ihr ins Gespräch zu kommen? Das war möglich, wenn sie auch nicht die geringste Ahnung hatte, warum. Was konnte er denn nur von ihr wollen?
All diese Gedanken schossen ihr blitzschnell durch den Kopf, nicht sehr deutlich und völlig ungeordnet. Natürlich war ihm ihr Zögern nicht verborgen geblieben, und so setzte er jetzt hinzu: »Bitte, machen Sie mir die Freude. Sie wollen doch nicht, dass ich mit einem schlechten Gewissen herumlaufe, oder?«
Ehrlich gesagt, mir ist dein schlechtes Gewissen vollkommen gleichgültig, dachte sie, während sie ihm ein flüchtiges Lächeln schenkte und höflich erwiderte: »Ich kann mich im Augenblick nicht festlegen, Herr von Angern, da ich sehr viel zu tun habe. Aber ich werde Sie anrufen, sobald ich Zeit habe, das verspreche ich Ihnen.«
Er wollte etwas einwenden, sie sah es ihm an. Offenbar war er es nicht gewöhnt, dass seine Wünsche nicht umgehend erfüllt wurden, doch er bezähmte sich, was ihm sichtlich schwerfiel. »Gut«, sagte
er mit gezwungenem Lächeln, »wenn Sie versprechen, sich zu melden, werde ich auf ihren Anruf warten.«
Er griff nach ihrer Hand und hielt sie so lange fest, bis sie sie im beinahe gewaltsam wieder entzog. »Ich freue mich schon«, sagte er leise – und dann endlich ging er zur Seite, so dass sie einsteigen konnte.
Als sie den Parkplatz verließ, sah sie ihn noch immer unbeweglich an derselben Stelle stehen und ihr mit seinem Blick folgen. Es war ein Bild, das ihr Unbehagen einflößte.
Später, als sie Lucie davon erzählte, sprach ihre Freundin aus, was sie selbst auch schon gedacht hatte: »Das kann kein Zufall sein, Lara. Zuerst taucht er bei deiner Hochzeit auf – und jetzt fährt er angeblich deinen Wagen an. Der will was von dir.«
»Aber was?«, fragte Lara.
»Vielleicht ist er in dich verliebt«, mutmaßte Lucie.
»Er kennt mich doch überhaupt nicht, Lucie!« Lara schüttelte den Kopf. »Es muss etwas anderes sein, aber ich habe keine Ahnung, was.«
»Dann nimm seine Einladung an, sonst kriegst du es nämlich nie heraus.«
»Meinst du?«
»Ja, sicher meine ich das. Was willst du denn sonst tun? Wenn du ihn nicht an dich heranlässt, kannst du ihm keine Fragen stellen.«
»Er macht nicht den Eindruck, als hätte er die Absicht, meine Fragen zu beantworten, Lucie.«
»Dann musst du eben klüger sein als er und ihn geschickt aushorchen.«
»Wenn es stimmt, was man sich über ihn erzählt …« Lara brach ab.
»Du meinst, wenn es stimmt, dann ist er gefährlich?«
Lara nickte.
»Ich glaube schon, dass er gefährlich ist, wenn man seine Pläne durchkreuzt – seine geschäftlichen Pläne. Aber das hast du ja nicht vor.«
»Ich weiß nicht, was ich vorhabe, Lucie. Ich will eigentlich nur wissen, ob es Zufall war, dass er innerhalb kürzester Zeit plötzlich zwei Mal in meinem Leben auftaucht. Aber wenn ich ihm diese Frage stelle, wird er sie mir sicherlich nicht ehrlich beantworten.«
»Versuch es trotzdem«, riet Lucie. »Und weißt du, warum? Weil wir keine bessere Idee haben.«
Dieser Einschätzung konnte Lara nicht widersprechen, und so nickte sie endlich ergeben. »Also gut, ich treffe mich mit ihm – aber nicht sofort. Ein paar Tage lang soll er ruhig zappeln.«
Lucie schüttelte den Kopf. »Das heißt dann, dass wir ein paar Tage lang nichts Neues erfahren, Lara. Gib deinem Herzen einen Stoß und ruf ihn gleich morgen an, damit wir weiterkommen. Es kann doch sein, dass er sich irgendwie verplappert.«
»Im Leben nicht«, murmelte Lara. »Außerdem stellen wir hier nur Vermutungen an, Lucie. Kann ja sein, dass das alles kein Zufall ist, aber was hat sein Auftauchen mit Lorenz zu tun? Auf diese Frage werden wir keine Antwort bekommen.«
»Abwarten und Tee trinken«, erwiderte Lucie.
Wenig später klingelte das Telefon, es war Lorenz’ Mutter. »Lara, Moritz und ich möchten dir noch einmal sagen, wie leid uns tut, was passiert ist …«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich hoffe sehr, dass unser gutes Einvernehmen dadurch nicht getrübt wird. Du bist noch immer wie eine Tochter für uns, das sollst du wissen.«
»Das weiß ich doch, Maria«, sagte Lara. »Und ich weiß auch, dass Lorenz mich liebt.«
Unterdrücktes Schluchzen antwortete ihr.
»Wein doch nicht«, bat Lara. »Ich bin sicher, dass wir irgendwann erfahren, warum Lorenz sich so verhalten hat. Ich jedenfalls glaube an ihn.«
»Gott segne dich, Kind«, sagte Maria zu Hirtenberg leise. »Moritz und ich, wir werden für eine Weile verreisen. Unter anderem rufe ich an, um mich von dir zu verabschieden.«
»Verreisen?«, fragte Lara überrascht.
»Ja, wir … wir brauchen eine Luftveränderung. Aber sobald wir zurück sind, melden wir uns. Alles Gute, Lara.«
»Danke für deinen Anruf, Maria.« Nachdenklich legte Lara das Telefon auf den Tisch.
»Sie verreisen?«, fragte Lucie. »Habe ich das richtig verstanden?«
»Ja, hast du. Wahrscheinlich halten sie die ewigen Fragen nach dem Warum und Wieso nicht aus.«
»Oder sie wissen mehr als du und ich«, erwiderte Lucie nach einer Weile.
»Glaubst du das?«
»Glauben ist zu viel gesagt, aber ich sehe es als eine Möglichkeit an.«
Daraufhin verstummte Lara erst einmal. »Könnte sein«, gab sie endlich zu.
»Du solltest sie danach fragen, sobald sie zurückkommen.«
»Sie hätten es mir doch längst sagen können, wenn sie das gewollt hätten, Lucie.«
»Stimmt auch wieder. Allmählich weiß ich nicht mehr, was ich denken soll.«
Lara nickte nachdenklich, ihr ging es genau so.
*
»Drogen- und illegaler Waffenhandel, Erpressung, Geldwäsche«, zählte Ulrich von Wandels Mitarbeiter Andreas Wolle auf. Er war ein drahtiger Mann von Mitte Zwanzig mit kurz geschorenen braunen Haaren und dem Eifer desjenigen, der noch nicht aufgrund vielfacher Enttäuschungen resigniert hat. »Außerdem noch Betrug und ein paar kleinere Delikte aus früheren Jahren, als er noch kein so großer Boss war. Heutzutage hält er sich ja mit Kleinigkeiten nicht mehr auf, die bringen ihm nicht genug ein.«
»Beachtliche Karriere«, murmelte Ulrich. »Und wir haben noch immer nichts gegen ihn in der Hand.«
»Noch immer ist nicht ganz korrekt ausgedrückt, Herr von Wandel. Der Mann ist ja erst vor einem Jahr ins Visier der Fahnder geraten – bis dahin hatte niemand ihn im Verdacht, dass er an ungesetzlichen Handlungen beteiligt sein könnte. Und ein Jahr ist bei einem Mann seines Kalibers nicht besonders viel.«
Das musste Ulrich zugeben. Nachdenklich murmelte er: »Michael von Angern …«
»Der Adelstitel ist falsch«, erklärte Andreas Wolle. Er strahlte bei dieser Mitteilung über das ganze Gesicht, denn das immerhin war eine neue Erkenntnis, die er erst am vergangenen Abend nach langen Recherchen gewonnen hatte. »Das ›von‹ hat er irgendwann dazu gemogelt. Michael Angern ist sein richtiger Name, aber er hat sich selbst schon früh geadelt, und niemand hat seinen Titel angezweifelt. Macht der Gewohnheit, würde ich sagen. Ganz schön dreist, aber er ist damit bis jetzt durchgekommen.«
»Was haben Sie sonst noch über ihn in Erfahrung gebracht?«, erkundigte sich Ulrich.
»Nicht viel«, bedauerte Andreas Wolle. »Wie gesagt, all die eben aufgezählten Delikte werden ihm zur Last gelegt, für keines haben sich bisher Beweise gefunden, aber das wussten Sie ja schon.«
»Glauben Sie, dass er zufällig bei der geplanten Hochzeit in der Kirche war?«
»Auf keinen Fall! Angern überlässt nichts dem Zufall, er ist ein akribischer Planer, der sich um jede Einzelheit selbst kümmert, dafür ist er geradezu berüchtigt. Die Leute, mit denen er zusammenarbeitet, haben deshalb ja auch alle Angst vor ihm – er kommt der geringsten Nachlässigkeit auf die Spur, heißt es, und er lässt nichts durchgehen. Wer von ihm bei einem Fehler ertappt wird, muss sich warm anziehen.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Wir haben ein paar Informanten in seiner Nähe.«
Ulrich warf seinem jüngeren Mitarbeiter einen scharfen Blick zu. »Sind die zuverlässig?«
»Absolut, ja«, beteuerte Andreas Wolle.
»Dann machen Sie weiter, aber seien Sie vorsichtig. Ich will nicht, dass er misstrauisch wird. Wenn er sich sicher fühlt, wird er vielleicht irgendwann nachlässig.«
»Am besten wäre es, wenn er sich verlieben würde«, flachste Andreas Wolle. »Es heißt doch immer, verliebte Männer sind am ehesten verwundbar.«
»Hat er keine Frau?«
»Immer mal wieder taucht er mit einer auf, aber die halten sich nicht lange an seiner Seite. In letzter Zeit war er immer allein.«
»Schade«, murmelte Ulrich. »War eine gute Idee – aber wir werden ihn kaum dazu bringen können, sich uns zuliebe zu verlieben, nicht wahr?«
Andreas Wolle lachte, sammelte seine Unterlagen wieder ein und verließ Ulrichs Büro, um seine Arbeit fortzusetzen.
*
Am dritten Tag seines Aufenthalts im Wendland wartete auf Lorenz eine Überraschung. Als er von einem seiner langen Spaziergänge zurückkehrte, traf er den Bauern Friedhelm Karl, der ihm die Wohnung vermietet hatte, auf dem Hof. An diesem Tag war Lorenz am Elb-ufer gewesen und hatte den Schiffen zugesehen, die in unregelmäßigen Abständen an ihm vorübergezogen waren. Es war, so weit man das in dieser Phase seines Lebens überhaupt sagen konnte, ein schöner Tag gewesen, der ihm zumindest vorübergehend innere Ruhe geschenkt hatte.
»Guten Abend, Herr Karl«, sagte er freundlich und wollte seinen Weg fortsetzen, doch der alte Bauer blieb stehen und sagte: »Trinken Sie ein Bier mit mir!«
Lorenz fand keinen Grund, diese Einladung auszuschlagen, und so erwiderte er: »Gern, vielen Dank.«
Kaum hatten sie in der Küche den ersten Schluck getrunken, als Friedhelm Karl sich bedächtig den Schaum von den Lippen wischte und feststellte: »Sie verstecken sich hier.«
Lorenz starrte ihn an. Er hatte sich in dieser verlassenen Gegend sicher gefühlt – und jetzt stellte sich heraus, dass das ein Irrtum gewesen war. Er würde die Wohnung wieder aufgeben, sich einen anderen Unterschlupf suchen müssen, wenn er nicht riskieren wollte, dass Reporter ihn fanden und ihm das Leben zur Hölle machten.
Friedhelm Karl hatte ihn beobachtet. »Sie können bleiben«, sagte er jetzt in seiner ruhigen, langsamen Art. »Hier sind Sie einigermaßen sicher, aber wenn Sie nach Lüchow fahren, sollten Sie sich eine Mütze aufsetzen und vielleicht eine Brille. Wir Einheimischen sind verschwiegen, wir verraten niemanden – aber es gibt neugierige Touristen, vor denen müssen Sie sich in Acht nehmen.«
Lorenz saß da wie vom Donner gerührt, als er begriff, dass dieser einfache Mann, dem man ansah, wie schwer er zeit seines Lebens gearbeitet hatte, ihm seine Hilfe anbot. »Danke«, brachte er endlich heraus.
Friedhelm Karl nickte. »Ich habe Sie gleich erkannt, nachdem ich den Zeitungsartikel über die geplatzte Hochzeit gelesen hatte. Meine Nachbarn wissen auch Bescheid, die halten alle den Mund. Sie werden Ihre Gründe gehabt haben, nehme ich an, und diese Gründe gehen nur Sie und die junge Frau etwas an. Auf mich machen Sie jedenfalls nicht den Eindruck eines Mannes, der seine Braut ohne Not vor dem Altar stehen lässt – das wollte ich Ihnen sagen. Und auch, dass Sie von uns hier nichts zu befürchten haben. Aber vorsehen sollten Sie sich.«
»Das werde ich«, versprach Lorenz. »Wie lange wissen Sie schon, dass ich mich hier verstecke, Herr Karl?«
»Die Zeitung ist am Morgen nach Ihrer Ankunft erschienen«, brummte der alte Mann. »Seitdem also.«
»Sie hätten mich verurteilen können für das, was ich getan habe.«
»Ich vertraue meinem Gefühl«, lautete die schlichte Antwort, »und das sagt mir etwas anderes als die Zeitungsschreiber. Wie lange wollen Sie eigentlich hier bleiben?«
Lorenz lächelte schmerzlich. »So lange wie möglich, Herr Karl. Ich werde bald versuchen zu arbeiten, wenn es mir gelingt, hier in der Gegend ein elektronisches Klavier aufzutreiben.«
»Für Ihr Musical?«, fragte der alte Bauer und sorgte ein weiteres Mal dafür, dass Lorenz vor lauter Überraschung nicht wusste, was er sagen sollte.
»Wir leben hier vielleicht am Ende der Welt, Herr zu Hirtenberg, aber wir sind sehr an Kunst und Kultur interessiert. Mein Enkel jedenfalls wusste gleich, dass Sie Komponist sind – beim letzten Schulfest hat seine Klasse einen Ihrer Songs einstudiert und vorgetragen. Es war ein großer Erfolg.«
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Herr Karl.«
»Gar nichts am besten. Ich hoffe, Sie kommen aus den Schwierigkeiten, in denen Sie stecken, bald wieder heraus. Wir haben Sie jedenfalls gern hier.«
Mit einem Mal fiel ein großer Druck von Lorenz ab. Er war nicht zu Hause, aber er hatte auch nicht länger das Gefühl, unter lauter Fremden zu sein. Hier gab es Leute, die es gut mit ihm meinten, und das war mehr, als er nach Lage der Dinge hatte erwarten können.
»Ich danke Ihnen, Herr Karl. Sie ahnen nicht, wie viel mir Ihre Worte bedeuten.«
»Darauf trinken wir noch ein Bier«, erwiderte der alte Bauer und füllte die Gläser erneut.
*
Wie in einem schlechten Film, dachte Lara, als Michael von Angern sie in eins der teuersten Lokale der Stadt führte. Er wurde begrüßt wie ein Staatsoberhaupt, und er genoss es sichtlich. Sie selbst wurde ebenfalls mit äußerster Ehrerbietung behandelt, die ihr jedoch von Anfang an zuwider war, wusste sie doch, dass sie nicht von Herzen kam und auch nicht ihr galt, sondern allein dem vielen Geld, das ihr Begleiter an diesem Abend hier lassen würde.
Sie fragte sich schon jetzt, ob es richtig gewesen war, Lucies Rat zu folgen, aber eins stimmte natürlich: Wenn sie etwas über Michael von Angern herausfinden wollte, dann war dies die beste Gelegenheit, und sie tat gut daran, sie zu nutzen.
Natürlich gab es Champagner zur Begrüßung – und natürlich musste es eine ganze Flasche sein. Ich werde mich nicht von dir betrunken machen lassen, dachte Lara, bilde dir das bloß nicht ein. Sie trank einen Schluck, dann setzte sie ihr Glas ab.
»Gefällt es Ihnen hier?«, fragte Michael von Angern. »Es ist das
beste Lokal weit und breit.«
»Dann freue ich mich auf das Essen«, erwiderte Lara und vermied auf diese Weise eine Lüge. Ihr gefiel es schließlich ganz und gar nicht in diesem Lokal, wo nichts echt zu sein schien. Alles kam ihr aufgesetzt und künstlich vor. Immerhin war das Essen tatsächlich gut. Wenigstens etwas, dachte Lara.
»Es freut mich zu sehen, dass es Ihnen schmeckt«, stellte Michael von Angern fest und setzte mit selbstbewusstem Lächeln hinzu: »Sie scheinen den Verlust Ihres Bräutigams bereits überwunden zu haben.«
Sie fand diese Bemerkung wenig feinfühlig, ließ sich das jedoch nicht anmerken. »Es hilft ja nichts, wenn ich mir die Augen ausweine«, stellte sie trocken fest.
»Ich hörte, Sie arbeiten sogar schon wieder?«
Lara zog die Augenbrauen in die Höhe. »Von wem haben Sie das gehört, wenn ich fragen darf?«
Sie sah ihm an, dass er sich ärgerte, weil ihm etwas herausgerutscht war, was er eigentlich nicht wissen konnte, aber er überspielte seinen Ärger sehr gekonnt, wie sie zugeben musste. »Sie wissen doch, wie viel die Leute reden – und immer gibt es jemanden, der etwas gesehen oder gehört hat und darüber redet. Wenn ich ehrlich sein soll: Ich achte normalerweise auf solches Gerede überhaupt nicht. Aber in Ihrem Fall habe ich eine Ausnahme gemacht, weil ich mich für Sie interessiere.« Er sah ihr tief in die Augen.
Sie hätte ihn beinahe ausgelacht, riss sich aber zusammen. Sie war sicher, dass er log, aber sie tat so, als nähme sie ihm seine Erklärung ab. »Darf ich Sie etwas fragen, Herr von Angern?«
»Alles, was Sie wollen«, erwiderte er und griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand, während er ihr zulächelte. Genau in diesem Moment flammte ein Blitzlicht auf.
Erschrocken wandte Lara den Kopf, konnte aber nur noch sehen, wie sich auf der Straße vor dem
Restaurant jemand eilig entfernte.
»Diese Fotografen«, bemerkte ihr Begleiter leichthin, wobei er keinesfalls verärgert wirkte, »sie verfolgen einen wirklich überall hin. Grässlich ist das!«
Sie biss sich heftig auf die Lippen, um ihn nicht anzuherrschen: Es war ja allzu offensichtlich, dass er jemandem einen Tipp gegeben hatte, wo es heute Abend ein inte-ressantes Foto zu schießen gab. »Ja«, stimmte sie mit gezwungenem Lächeln zu, »sie können wirklich sehr lästig sein.«
»Sie wollten mir eine Frage stellen«, erinnerte er sie.
»Kennen Sie meinen … meinen Ex-Bräutigam?« Es fiel ihr schwer, Lorenz so zu nennen, doch schien es in dieser Situation angebracht zu sein.
Die Frage gefiel ihm nicht, das merkte sie daran, dass er ganz plötzlich ihre Hand losließ. »Wie kommen Sie darauf?«
»Sie waren in der Kirche – einige meiner Freunde haben mir das erzählt.«
Er hatte sich bereits wieder gefangen. »Zufall«, erklärte er lässig. »Einer meiner Geschäftspartner gehörte zu Ihren Gästen – und es gab keine andere Möglichkeit, sich wenigstens kurz mit ihm zu treffen, als vor Ihrer Trauungszeremonie. Das war mal etwas Neues: Geschäftsbesprechung auf einem Kirchenvorplatz. Falls es Sie interessiert: Es war eine sehr erfolgreiche Besprechung, vielleicht sollte ich das als gutes Omen ansehen und mich öfter vor einer Kirche mit jemandem treffen.«
Er redet viel zu viel, dachte Lara, weil er vertuschen will, dass er lügt. Er soll bloß nicht glauben, dass er mir alles erzählen kann. So einfach werde ich ihn nicht davonkommen lassen! Laut sagte sie: »Sie waren nicht nur vor der Kirche, Sie sind auch hineingegangen.«
Wenn sie gehofft hatte, sie werde ihn verunsichern können, so sah sie sich getäuscht. Sein selbstgefälliges Lächeln, das ihr bereits jetzt unermesslich auf die Nerven ging, wurde noch breiter. »Ja, nachdem wir unsere Besprechung beendet hatten, sah ich Sie vorfahren – und da konnte ich nicht anders: Ich musste Ihnen in die Kirche folgen.«
»Lorenz kennen Sie also nicht?«
»Aber nein, natürlich nicht. Die Familie Hirtenberg ist mir vollkommen unbekannt.«
Er lügt, dachte sie erneut, ich könnte schwören, dass er lügt. Es gibt eine Verbindung, aber natürlich will er sie mir nicht verraten. »Sie betreten also die Kirche, dann platzt die Hochzeit – und zufällig fahren Sie wenige Tage später meinen Wagen an?«, fragte sie beiläufig.
Sein Lächeln verschwand, in seine Augen trat ein lauernder Ausdruck, der ihr Angst machte. Sie blieb jedoch äußerlich vollkommen ruhig und wich seinem Blick auch jetzt nicht aus. »Ja«, bestätigte er. »Es gibt seltsame Zufälle im Leben, nicht wahr?«
»Ich frage mich, ob es wirklich ein Zufall war«, tastete sich Lara weiter vor. »Vielleicht haben Sie mein Auto ja absichtlich angekratzt, um mich kennenzulernen?«
Sie konnte förmlich sehen, wie er darüber nachdachte, ob es ihm schaden konnte, wenn er das zugab. Endlich nickte er. »Stimmt, Sie haben mich erwischt«, sagte er, nun wieder mit seinem Lächeln. »Ich habe Sie vor der Kirche gesehen, und von da an sind Sie mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Werden Sie mir meine kleine Komödie verzeihen?«
»Schon geschehen«, erwiderte Lara. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt. Jetzt hatte er also zugegeben, dass er ihr Auto absichtlich zerkratzt hatte, aber sie war damit leider keinen noch so kleinen Schritt weitergekommen. Ob es eine Verbindung zwischen ihm und Lorenz gab – und wenn ja, welche – sie wusste es so wenig wie zuvor.
Erneut griff er nach ihrer Hand und zog sie an die Lippen. Sie konnte seine Berührung kaum ertragen. Der ganze Mann war ihr zuwider, und sie brauchte ihre ganze Selbstbeherrschung, um ihn das nicht merken zu lassen. Denn dann, das war ja sonnenklar, würde sie von ihm überhaupt nichts mehr erfahren.
»Sie sind die Frau, die ich haben will, Lara«, sagte er heiser. »Natürlich sind Sie jetzt noch durcheinander wegen dieser unschönen Geschichte, aber eines Tages werden Sie mir gehören. Mir allein.«
Lara wusste selbst nicht, wie sie es schaffte, ihm ihre Hand nur ganz langsam zu entziehen und nicht mit einem Ruck. Und sie brachte es auch fertig, sich von ihren Gefühlen nichts anmerken zu lassen, als sie sagte: »Sie haben Recht, dass ich noch ziemlich durcheinander bin. An eine neue Bindung kann ich im Augenblick nicht einmal denken.«
Sein Blick war siegesgewiss, genau wie sein Lächeln. Er sieht mich an, als hätte er mich gekauft, dachte Lara schaudernd.
»Das wird schneller kommen, als Sie denken«, erklärte er. »Ich werde Sie so lange belagern, Lara, bis Sie begreifen, dass ich der richtige Mann für Sie bin.«
Daraufhin erwiderte Lara vorsichtshalber nichts. Sie rang sich ein Lächeln ab und nippte gleich darauf noch einmal an ihrem Champagner.
Als er sie eine Stunde später vor ihrer Tür absetzte, erlebte sie die letzte unangenehme Überraschung dieses Abends: Er riss sie in seine Arme und küsste sie. Sie wehrte sich heftig. Als er sie losließ, lachte er. »Eine richtige Wildkatze sind Sie, Lara – und genau deshalb will ich, dass Sie meine Frau werden. Gute Nacht, wir sehen uns bald wieder.«
Sie beeilte sich, ins Haus zu kommen und die Tür hinter sich zu schließen. Danach blieb sie erst einmal stehen und versuchte, ihr wild klopfendes Herz zu beruhigen. Was für ein Mensch war dieser Michael von Angern? Er schien nicht den geringsten Zweifel daran zu haben, dass sie sein Werben schließlich erhören würde. Wie konnte er da so sicher sein? Er wusste doch, dass sie einen anderen Mann liebte! Und auch wenn dieser andere Mann sich gerade seltsam verhalten hatte, so konnte er doch nicht annehmen, dass sie ihn deshalb sofort vergessen und sich in den nächsten Bewerber verlieben würde!
Sie verstand die Welt nicht mehr.
Als sie ihre Wohnung betrat, war Lucie noch auf. »Und?«, fragte sie gespannt.
»Es war grässlich, Lucie«, erklärte Lara. »Noch so ein Abend, und ich verliere den Verstand.«
»Geht es vielleicht ein bisschen genauer?«
Lara beschrieb ihr den Verlauf des Abends in allen Einzelheiten. Es tat ihr gut, stellte sie fest, sich die Gefühle, die sie die ganze Zeit unter Verschluss gehalten hatte, von der Seele zu reden.
»Das bringt uns weiter«, stellte Lucie zu ihrer Überraschung fest, als sie ihren Bericht beendet hatte.
»Und wieso, wenn ich fragen darf?«
»Wir wissen jetzt, dass er etwas mit Lorenz’ Verschwinden zu tun hat. Du hast doch selbst gesagt, dass das Gerede von einer geschäftlichen Besprechung eine Lüge war und dass du außerdem den Eindruck hattest, dass er die Hirtenbergs sehr wohl kennt.«
»Das stimmt«, gab Lara zu, »aber es ist nicht mehr als ein Eindruck, Lucie. Beweisen kann ich das nicht. Und ich sehe auch nicht, dass es uns weiterhilft.« Lara unterdrückte ein Gähnen. »Zum Schluss hat er mich geküsst«, murmelte sie. »Richtig eklig war das, Lucie.«
»Hast du dich nicht gewehrt?«
»Das hat ihn nur noch angefeuert. Er ist mir unheimlich, und er macht mir auch Angst. Michael von Angern gehört zu den Menschen, mit denen ich nichts zu tun haben möchte. Aber ich schätze, von jetzt an wird er mich nicht mehr in Ruhe lassen.«
»Da könntest du allerdings Recht haben.« Lucie dachte nach. »Du musst für eine Weile von hier verschwinden, Lara«, sagte sie. »Tut mir leid, ich habe das offenbar falsch eingeschätzt – ich hätte dich nicht ermutigen sollen, dich mit ihm zu treffen.«
»Verschwinden? Aber wohin denn, wenn ich fragen darf?«
»Irgendwohin, wo du sicher bist – und wo dich dieser Kerl nicht so einfach aufspüren kann.«
Eine Weile dachten sie beide über die verschiedenen Möglichkeiten nach, bis sie im selben Moment sagten: »Sternberg!«
*
»Wir bekommen Besuch«, verkündete Baron Friedrich beim Abendessen, woraufhin die Baronin verdutzt rief: »Woher weißt du das denn schon? Du hast doch überhaupt nicht mit Lara gesprochen!«
»Lara? Ich rede doch nicht von Lara, sondern von Uli. Dem hat es neulich so gut bei uns gefallen, dass er nun endlich wieder einmal ein Wochenende bei uns verbringen will.«
»Und Lara kommt auch?«, fragte der kleine Fürst. »Will sie sich bei uns verstecken?«
Baronin Sofia lächelte ihrem Neffen liebevoll zu, denn er hatte ausgesprochen, was sie selbst auch schon gedacht hatte. »So etwas Ähnliches vermute ich zumindest, Chris«, erwiderte sie.
»Kennen sie und Uli sich überhaupt?«
»Nein, ich glaube nicht, aber ich bin sicher, dass sie einander gut verstehen werden.«
»Warum bringt Lara nicht ihre Freundin Lucie mit – die ist doch auch so nett. Wir hätten bestimmt viel Spaß miteinander«, meinte Anna.
»Ich glaube nicht, dass es Lara im Augenblick um Spaß geht«, bemerkte die Baronin. »Aber es ist trotzdem eine gute Idee, Anna. Es wäre bestimmt schön für Lara, ihre Freundin bei sich zu haben, also ruf sie an und lade sie ein.«
Anna ließ sich das nicht zwei Mal sagen. Sie verschwand und kehrte wenig später mit strahlendem Gesicht zurück. »Lucie kommt mit«, verkündete sie. »Ich glaube, Lara war richtig froh über unsere Einladung.«
»Fein«, freute sich die Baronin, »dann haben wir also drei Gäste. Darüber wird sich auch Frau Falk-ner freuen, schätze ich.« Sie rief nach Eberhard Hagedorn und bat ihn, in der Küche Bescheid zu sagen, dass auf Sternberg Gäste erwartet wurden.
»Was können wir tun, um Lara ein bisschen abzulenken von ihrem Kummer?«, fragte der kleine Fürst.
»Ich denke, Chris«, erwiderte der Baron, »das beste wird sein, sie selbst zu fragen. Sie wird uns sicherlich eine offene Antwort geben.«
»Und fangt bloß nicht wieder an, Detektiv zu spielen«, sagte der bis dahin schweigsame Konrad spitz.
»Das tun wir nie«, entgegnete Anna gekränkt. »Wir spielen nicht – wir decken nur manchmal Geheimnisse auf.«
»Das meine ich ja! Lara hat bestimmt die Nase voll von Leuten, die sie fragen, ob sie sich erklären kann, warum Lorenz am Altar nicht ›ja‹ gesagt hat.«
»Konny!«, mahnte die Baronin, die einen Streit heraufziehen sah, den sie jedoch unbedingt verhindern wollte.
»Ist doch wahr, Mama!«
»Wie kommst du denn auf die Idee, dass wir Lara so eine dumme Frage stellen wollten?«, erkundigte sich Christian ganz ruhig.
»Na, Geheimnisse lassen euch doch keine Ruhe«, spottete Konrad, die Blicke seiner Mutter ignorierend. »Und das ist ja wohl eins, oder?«
»Ja, das ist eins, aber um es aufzudecken, würden wir Lara bestimmt nicht durch eine solche Frage verletzen, das solltest du eigentlich wissen.«
Konrad warf seinem Cousin, der sich wieder einmal, wie so oft, schützend vor Anna gestellt hatte, einen wütenden Blick zu, sagte aber nichts mehr.
Sofia atmete auf, ein Geschwis-terstreit war damit abgewendet. Sie sorgte behutsam für einen Themenwechsel, und so konnte das Abendessen friedlich beendet werden.
*
»Ich war bei Lorenz’ Eltern«, gestand Bettina von Kessel ihrem Mann. Sie sah müde und nachdenklich aus.
Otto von Kessel sah seine Frau erstaunt an. »Warum?«, fragte er.
»Weil ich mit ihnen reden wollte, Otto – es herrscht ja seit dem verhängnisvollen Samstag eine merkwürdige Funkstille zwischen uns, und ich bin der Ansicht, dass wir Lorenz’ Eltern nicht für das Verhalten ihres Sohnes verantwortlich machen können.«
»Das ist wohl richtig«, gab er zögernd zu. »Und? Was haben sie gesagt?«
»Ja, was haben sie gesagt?«, wiederholte sie. »Es war ein ausgesprochen seltsames Treffen, musst du wissen.«
»Inwiefern seltsam?«
»Weil es reiner Zufall war, dass ich sie noch angetroffen habe – sie waren dabei, wegzufahren.«
»Wegzufahren? Jetzt – in dieser Situation?«, rief Otto verwundert.
»Ja«, bestätigte Bettina. »Übrigens habe ich nur mit Maria gesprochen, Moritz ließ sich nicht blicken, und sie hat dazu auch nichts weiter gesagt – mir nur klar gemacht, dass sie in Eile war und ich sie möglichst nicht lange aufhalten sollte.«
Otto schüttelte den Kopf. »Das klingt in der Tat seltsam. Und wohin fahren sie?«
»Ich wollte nicht direkt danach fragen, und sie wollte es mir offenbar nicht sagen, Otto.«
Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe das nicht. Sie hatten doch keine Reise geplant, oder?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Ausgerechnet jetzt, wo ihr Sohn verschwunden ist und sich alle fragen, was da am Samstag eigentlich passiert ist, fahren sie weg?«
»Ja, das tun sie.«
Sie sahen einander an, ratlos. Nach einer Weile begann Bettina: »Ich frage mich …«, aber sie brach mitten im Satz ab, ihr Blick irrte zum Fenster.
»Ja?«
»Ich frage mich, Otto, ob sie uns neulich die Wahrheit gesagt haben. Vielleicht wissen sie doch, wo Lorenz sich aufhält und fahren jetzt zu ihm.«
Otto ließ sich das durch den Kopf gehen. »Aber warum, Tina? Das ergibt keinen Sinn – jedenfalls erkenne ich ihn nicht. Das hieße ja, dass sie von Lorenz’ Absicht gewusst haben.«
»Er kann sich ihnen auch erst nach dem Samstag anvertraut haben.«
»Und warum sollten sie dann jetzt zu ihm fahren?«
»Um ihm zu helfen? Er kann sich ja erst einmal nicht mehr hier blicken lassen. Aber du hast Recht: Die ganze Geschichte ergibt bisher keinen Sinn. Wenn es jemals ein glückliches Liebespaar gegeben hat, dann waren es unsere Kinder.«
»Vielleicht haben wir uns ja auch täuschen lassen, und sie waren nicht so glücklich, wie wir dachten. Übrigens hat Lara angerufen, sie verreist auch.«
»Was sagst du da?«
»Ja, aber sie hat einen durchaus nachvollziehbaren Grund genannt: Sie will ihre Ruhe haben und nicht ständig Erklärungen abgeben müssen. Sie bat um Verständnis dafür, dass sie ihr Reiseziel nicht verrät. Ich weiß nur, dass Lucie sie begleitet.«
Bettina atmete auf. »Das ist eine gute Nachricht«, sagte sie erleichtert. »Zu wissen, dass Lara eine Freundin an ihrer Seite hat, beruhigt mich wirklich sehr. Glaubst du, sie kommt über diese Enttäuschung jemals hinweg?«
»Sie ist nicht enttäuscht, Tina«, erwiderte ihr Mann. »Sie versteht nicht, was passiert ist, aber sie zweifelt nach wie vor nicht an Lorenz.«
Ihre Blicke begegneten sich, Bettina ging zu ihrem Mann und schmiegte sich in seine Arme. »Ich möchte nur, dass sie glücklich wird«, sagte sie leise.
»Das möchte ich auch – und ich glaube, sie wird es schaffen.«
Bettina schloss die Augen und ließ diese Worte auf sich wirken. Nur zu gern hätte sie ihrem Mann geglaubt, aber ihre Zweifel waren größer.
Es gab einfach zu viele unbeantwortete Fragen.
*
»Damit es Sie nicht unvorbereitet trifft, wenn Sie unterwegs sind«, sagte Friedhelm Karl und reichte Lorenz eine Zeitung. »Tut mir leid, ich schätze, das sind keine guten Nachrichten für Sie. Falls Sie heute Abend wieder ein Bier mit mir trinken möchten: Sie sind mir jederzeit herzlich willkommen.« Mit diesen Worten wandte er sich ab, um zu gehen, hielt aber noch einmal inne und zog einen Umschlag aus der Hemdtasche. »Das hätte ich jetzt beinahe vergessen. Sie können es sich ja einmal ansehen.« Er nickte Lorenz freundlich zu und ging.
Lorenz schloss die Tür seiner kleinen Ferienwohnung und schlug hastig die Zeitung auf. Er fand ziemlich schnell, was er suchte: Es war ein Bild von Lara und Michael von Angern. Letzterer küsste Lara gerade auf eine Art und Weise die Hand, die auf ein ziemlich vertrautes Verhältnis zwischen ihnen schließen ließ. Der Blick des Mannes verstärkte diesen Eindruck noch, während Lara eher überrascht wirkte. Aber das sah man vielleicht nur, wenn man sie wirklich gut kannte.
Angewidert schleuderte er die Zeitung von sich. Sein Herz schlug wie rasend, er spürte, wie es in seinem Kopf anfing zu pochen. »Ich halte das nicht aus«, murmelte er. »Ich halte es einfach nicht aus!«
Er griff nach seinem Handy, legte es jedoch gleich wieder hin. Nach einer Minute griff er erneut danach. Wenn er jetzt nicht sofort mit jemandem sprach, dem er vertraute, würde er verrückt werden. Hastig drückte er auf Alberts Nummer und wartete mit angehaltenem Atem.
»Laar«, sagte gleich darauf die Stimme seines Freundes.
»Ich bin’s, Albert, Lorenz. Bist du allein? Kannst du reden?«
»Ich bin allein. Wo steckst du, Mann? Und was ist passiert?«
»Ich kann es dir jetzt nicht erklären – bitte, ich habe mein Wort gegeben, dass ich meinen Mund halte. Und eigentlich habe ich auch versprochen, mich mit niemandem in Verbindung zu setzen, aber ich drehe hier langsam aber sicher durch, Albert.«
»Kann ich dir helfen?«
»Ja, rede mit mir. Irgendwas. Sag mir zum Beispiel, dass du immer noch mein Freund bist, obwohl du denken musst, dass ich den Verstand verloren habe.«
»Das habe ich keine Sekunde lang gedacht. Lara denkt das auch nicht, übrigens. Und mach dir keine Gedanken wegen dieses Fotos in der Zeitung – falls du das überhaupt gesehen hast …«
»Ich habe es gesehen«, erklärte Lorenz, behielt aber für sich, dass das Foto erst den Anstoß für seinen Anruf gegeben hatte.
»Zwar weiß ich nicht, warum sie mit diesem Kerl ausgegangen ist, aber es hat sicherlich nichts damit zu tun, dass er ihr gefällt. Allerdings kocht jetzt natürlich die Gerüchteküche, das kannst du dir ja denken. Die meisten vermuten, dass sie es jetzt allen zeigen will: Einer hat mich sitzen gelassen, aber ich habe noch andere Verehrer. Ich halte das allerdings für Unsinn. Ach ja, falls du es immer noch hören willst: Natürlich bin ich noch dein Freund. Ich hoffe, du hast nicht daran gezweifelt?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Du hast ein neues Handy, oder? Deine alte Nummer ist das jedenfalls nicht.«
»Ja, alles ist neu«, erklärte Lorenz. »Die Gegend, die Wohnung, das Handy, der Wagen. Ich habe mich unauffindbar gemacht, Albert. Jetzt sollte ich aufhören, mit dir zu telefonieren. Sag niemandem etwas von unserem Gespräch – ich könnte ziemlichen Ärger bekommen, wenn etwas davon den falschen Leuten bekannt würde.«
»Auch Lara nicht?«
»Vor allem Lara nicht, Albert!« Nach diesen Worten beendete Lorenz das Gespräch, ohne seinem Freund die Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben.
Eine Weile starrte er danach noch auf das Foto von Lara und Michael von Angern, dann fiel sein Blick auf den Briefumschlag, den der alte Bauer ihm gegeben hatte. Er schlitzte ihn auf und fand darin den Namen, die Adresse und mehrere Telefonnummern eines Instrumentenverleihs. Mit gelbem Filzstift markiert war die Zeile: Elektronische Klaviere.
Unvermittelt traten ihm Tränen in die Augen. Er machte gerade eine sehr schlimme Phase seines Lebens durch, aber er konnte nicht umhin, festzustellen, dass es dennoch Menschen gab, die ihm zu helfen versuchten, obwohl sie keinen Grund hatten, ihm zu vertrauen. Friedhelm Karl war so ein Mensch – und offenbar gehörten ja auch die Nachbarn des alten Bauern dazu, die ihn, den Gast, freundlich grüßten und niemals auf die Idee gekommen wären, einem Journalisten einen Tipp zu geben.
Nur: Was half ihm das alles, wenn er ohne seine große Liebe leben musste?
*
»Danke, Chris, dass ich dich begleiten durfte«, sagte Lara, als der kleine Fürst und sie den Familienfriedhof wieder verließen. Togo, der sie begleitet hatte, war bereits weit vorausgelaufen, um verführerischen Spuren zu folgen. »Es war mir ein Bedürfnis, deinen Eltern einen Besuch abzustatten.« Sie blieb stehen und sah sich noch einmal um. »Es ist ein sehr schöner Ort«, setzte sie hinzu.
»Ja, das finde ich auch, ich bin gerne hier«, erklärte Christian. »Nicht nur, weil es schön ist, sondern auch, weil ich mich meinen Eltern hier am nächsten fühle. Kannst du das verstehen?«
»Ja, natürlich kann ich das. Du redest mit ihnen, nicht wahr?«
Er nickte. »Manche finden das verrückt, glaube ich. Wie kann man mit Menschen reden, die tot sind? Aber ich tue es ja nur in Gedanken, und wenn ich mich dann ganz stark auf sie konzentriere, sehe ich sie manchmal deutlich vor mir. Vor allem weiß ich, dass sie mich hören können. Sie begleiten mich weiterhin durch mein Leben – nur anders als zuvor.«
»Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Übrigens reden viele Menschen mit Verstorbenen, die sie sehr geliebt haben – so ungewöhnlich ist das gar nicht. Außerdem finde ich, dass jeder das so machen muss, wie es für ihn am besten ist.«
Sie gingen den schmalen Weg hinunter in den Schlosspark. Togo war nicht mehr zu sehen, aber ab und zu hörten sie ihn kurz bellen. Lara lächelte. »Er ist in seinem Element, scheint mir.«
»Ja, ich glaube, Togo ist ein ziemlich glücklicher Hund: Der Schloss-park gehört ihm, der angrenzende Wald auch – und das Schloss sowieso. Jedenfalls ist das seine Meinung.«
Sie lachten beide und setzten ihren Weg zurück zum Schloss eine Weile schweigend fort, bis der kleine Fürst zögernd sagte: »Wir wissen nicht richtig, wie wir mit dir umgehen sollen, Lara. Willst du aufgeheitert oder lieber in Ruhe gelassen werden? Dürfen wir Lorenz erwähnen oder nicht?«
»Ach, Chris«, seufzte Lara. »Ich kann dir diese Fragen gar nicht richtig beantworten. Lieber rede ich im Augenblick nicht über Lorenz – einfach, weil es nichts zu reden gibt. Man kann ja nur Vermutungen anstellen, da niemand etwas weiß. Aber wenn ihr euch ständig bemüht, seinen Namen nicht in den Mund zu nehmen, wird die Stimmung bald völlig verkrampft sein, und davon hat niemand etwas. Wenn ihr mich aufheitern wollt, dann tut das ruhig, aber eigentlich denke ich, dass es nicht nötig ist. Ich bin nicht am Boden zerstört, wirklich nicht.«
»Nein?«, fragte er verwundert. »Aber wieso denn nicht? Immerhin wolltet ihr heiraten, ihr wart sehr verliebt ineinander, und jetzt …«
»Wir sind sehr verliebt ineinander«, korrigierte sie. »Ich glaube nicht, dass sich daran etwas geändert hat.«
Er warf ihr einen verunsicherten Blick zu, den sie jedoch nicht bemerkte. »Ich würde gern wissen, was da passiert ist«, fuhr sie fort. »Er muss einen guten Grund für sein Verhalten gehabt haben, das ist alles, was ich weiß. Und jetzt, mein lieber Chris, wechseln wir das Thema, ja?« Sie berührte bei diesen Worten ganz leicht seinen Arm.
»Danke, Lara.«
»Wofür?«
»Dass du versucht hast, meine Fragen zu beantworten. Jedenfalls sehe ich jetzt etwas klarer. Wir müssen uns also nicht verbiegen, um nur ja nichts Falsches zu sagen – richtig?«
»Richtig!«, bestätigte sie mit fester Stimme.
Eberhard Hagedorn öffnete das Hauptportal und empfing sie mit der Ankündigung, dass in wenigen Minuten Tee und Gebäck auf der Terrasse serviert würden.
*
»Ich bin jetzt gleich in Sternberg, Herr Wolle«, sagte Ulrich von Wandel. Er war dankbar für die Freisprechanlage in seinem Wagen, sonst hätte er jetzt nicht telefonieren können. »Sollte es etwas Wichtiges geben, rufen Sie mich jederzeit an. Falls nicht, gönnen Sie mir bitte ein freies Wochenende, ja?«
»Klar, Chef«, erwiderte Andreas Wolle mit einem Unterton von Neid in der Stimme. »Sie haben es wirklich gut …«
»Bitte, keine Klagen, Herr Wolle, ja? Seit Monaten habe ich jedes Wochenende gearbeitet, nun gönnen Sie mir auch mal ein paar freie Tage. Wir sehen uns am Montag im Büro!« Energisch beendete Ulrich das Gespräch und konzentrierte sich wieder aufs Fahren. Den ersten Blick auf Schloss Sternberg hatte
er schon genossen: Elegant thronte es auf seiner Anhöhe, im leichten Gegenlicht einem Schattenriss äh-nelnd. Sobald er die Straße erreichte, die sich die Anhöhe hinaufschlängelte, verschwand das Schloss aus seinem Blickfeld.
Er ließ sich Zeit. Auf die vor ihm liegenden Tage freute er sich sehr, denn was er zuvor gesagt hatte, traf tatsächlich zu: Er hatte seit Monaten kein freies Wochenende mehr gehabt, seine Überstundenliste war ellenlang. Aber so war das wohl, wenn man mit seiner Arbeit verheiratet war.
Er hatte den Hügel erklommen, die lange Auffahrt zum Schloss begann. Als er den Wald verließ, ragte es vor ihm auf. Unwillkürlich verlangsamte er die Fahrt wieder, um die Schönheit des Gebäudes auf sich wirken zu lassen. Seine Vorfreude wuchs. Gleich darauf stellte er den Wagen auf dem Vorplatz ab und stieg aus.
»Hallo!«, rief eine helle Stimme hinter ihm. »Sie müssen der Kriminalrat sein.«
Verwundert drehte er sich um und erblickte eine bemerkenswert hübsche dunkelhaarige junge Frau, deren blaue Augen ihn vergnügt anstrahlten.
»Ja, ich bin Ulrich von Wandel«, bestätigte er. »Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
Sie kam mit leichten, beschwingten Schritten auf ihn zu und reichte ihm die Hand. Ihre Natürlichkeit bezauberte ihn, und zum ersten Mal seit langer Zeit bedauerte er, dass er die zwei, drei Kilos, die er zu viel hatte, noch immer nicht losgeworden war. Außerdem sah er bleich und übernächtigt aus, mit dunklen Ringen unter den Augen, während diese schöne bezaubernde Frau …
»Lucie von Drewitz«, beantwortete sie seine Frage. »Ich bin mit meiner Freundin Lara hier – Lara von Kessel.«
»Ach«, murmelte Ulrich, der bei diesem Namen sofort hellhörig geworden war, das jedoch gut zu verbergen verstand. »Ich wusste gar nicht, dass noch mehr Gäste erwartet werden.«
»Und jetzt möchten Sie am liebsten gleich wieder abreisen?«, fragte Lucie mit spitzbübischem Lächeln.
»Aber nein, im Gegenteil!«, versicherte er. »Ich bin entzückt, das dürfen Sie mir glauben.«
»Na, ich weiß nicht«, bemerkte Lucie zweifelnd, aber er bemerkte das vergnügte Blitzen ihrer Augen. »Sie sehen jedenfalls nicht so aus.«
»Das liegt dann aber nur daran, dass ich müde und überarbeitet bin«, erklärte Ulrich.
»Und in der Sonne waren Sie in diesem Jahr auch noch nicht«, stellte Lucie fest.
»Stimmt, auch dazu hat mir die Zeit gefehlt.«
»Reiten Sie?«
»Leidenschaftlich gern. Und Sie?«
Sie lachte. »Leidenschaftlich gern.«
»Dann sind wir also hiermit zu einem Ausritt verabredet?«
»Je eher, desto lieber.«
Er wurde ernst. »Sagen Sie, Ihre Freundin Lara – ich meine, ich weiß natürlich, was passiert ist, die Geschichte stand ja in allen Zeitungen, man konnte ihr gar nicht ausweichen. Sie ist vermutlich am Boden zerstört, so dass wir sehr vorsichtig mit ihr umgehen müssen?«
Zu seiner Verwunderung schüttelte Lucie lebhaft den Kopf. »Nein, überhaupt nicht. Benehmen Sie sich einfach normal, das ist am besten.«
»Aber wie ist das denn möglich? Immerhin hat sie gerade eine Erfahrung machen müssen, die wohl für jeden Menschen einem Albtraum gleichkommt.«
»Das stimmt, aber sie zweifelt nicht an Lorenz’ Liebe. Sie meint, dass etwas anderes dahinterstecken muss, und sie denkt, sie wird es irgendwie herausfinden.«
Ulrich dachte an das Foto von Lara von Kessel und Michael von Angern, das er morgens in der Zeitung gesehen hatte, und er wusste bereits jetzt, dass aus dem völlig freien Wochenende, an dem die Arbeit einmal überhaupt keine Rolle spielte, nichts werden würde. Aber so lange ihm dennoch ausreichend Zeit blieb, Lucie von Drewitz näher kennenzulernen, war das vielleicht nicht so schlimm …
Eberhard Hagedorn erschien, um ihn willkommen zu heißen, und damit war sein Gespräch mit Lucie erst einmal beendet. Er bedauerte das, aber das Wochenende war ja noch lang – es würde reichlich Gelegenheit zu weiteren Gesprächen geben. Und dann waren sie ja auch noch zu einem Ausritt verabre-
det …
*
»Was soll das heißen: Sie ist weg?«, schrie Michael von Angern.
Sein Assistent zog unwillkürlich den Kopf ein. »Sie ist nicht in ihrer Wohnung, Boss. Und in ihrer Firma hat sie jetzt doch Urlaub genommen …«
»Und wohin ist sie gefahren?«, herrschte Michael von Angern den bereits vor Angst schlotternden Mann an.
»Das weiß niemand, sie hat es offenbar keinem gesagt.«
»Dann findet es heraus, verdammt noch mal. Sie kann sich ja schließlich nicht in Luft aufgelöst haben! Wieso fährt sie überhaupt weg – jetzt, wo wir uns gerade näherkommen?« Wie ein gefangenes Raubtier lief Michael von Angern durch sein riesiges Büro: von einer Wand zu anderen, dann wieder zurück.
»Es könnte ja sein«, hob sein Assistent zaghaft an, »dass sie nur kurz weg ist, übers Wochenende. Dann wäre es doch normal, dass sie das nicht erwähnt hat, oder?«
Er wartete mit angehaltenem Atem auf eine Reaktion, die auch nicht lange auf sich warten ließ. Offenbar hatte er die richtigen Worte gefunden, denn sein Chef blieb wie angewurzelt stehen, starrte ihn an und rief schließlich: »Warum sagen Sie das nicht gleich?«
»Ich war nicht sicher«, erklärte der Assistent.
»Aber so muss es sein. Wir kennen uns ja noch nicht so gut, dass sie mich in all ihre Pläne einweiht. Natürlich wird sie am Sonntag zurück sein …« Er wandte sich ab, stellte sich ans Fenster und blickte eine Weile auf die unter ihm liegende Straße. »Schicken Sie ihr am Sonntag einen Rosenstrauß – rote Rosen. Blutrote Rosen.«
»In Ordnung, wird gemacht.« Verstohlen wischte sich der Assis-tent ein paar Schweißtropfen von der Stirn.
»Verschwinden Sie«, brummte Michael von Angern, und mit einem nur mühsam unterdrückten Seufzer der Erleichterung befolgte der Assistent diese Aufforderung.
Das war gerade noch einmal gut gegangen. Aber er wusste schon jetzt, was ihm blühte, wenn seine Vermutung sich am Sonntagabend als falsch erwiesen hatte. Sollte Lara von Kessel dann nicht in ihre Wohnung zurückkehren, konnte er sich vermutlich einen neuen Job suchen – falls jemand bereit war, ihm einen zu geben. Wer bei Mi-chael von Angern rausflog, so hieß es hinter vorgehaltener Hand, mit dem wollte niemand mehr zusammenarbeiten.
Aber vielleicht hatte er ja Glück, und es kam gar nicht so weit.
*
»Was ist das für ein Kerl?«, fragte Friedhelm Karl und tippte mit seinem schwieligen Zeigefinger auf das Bild von Lara und Michael von Angern.
Lorenz’ Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: »Ein Verbrecher, Herr Karl.«
Der alte Bauer kniff die Augen zusammen. »Ein Verbrecher?«, wiederholte er in seiner bedächtigen Art.
»Ja«, bestätigte Lorenz mit harter Stimme.
»Hat er etwas mit Ihrem Verhalten in der Kirche zu tun?«
»Ja. Fragen Sie mich bitte nicht weiter, ich habe versprechen müssen, über diesen Vorfall Stillschweigen zu bewahren. Tue ich das nicht, kommt jemand zu Schaden.«
Friedhelm Karl dachte eine Weile über diese Worte nach. »So aber auch«, sagte er dann.
»Was meinen Sie damit?«
»Wenn Sie Stillschweigen bewahren, kommt auch jemand zu Schaden – mindestens zwei Menschen, wenn nicht noch mehr, würde ich mal sagen.«
»Wen meinen Sie?«
»Ihre Braut und Sie selbst meine ich. Sie sind unglücklich, Ihre Braut ist es sicher auch. Ist es das wert?«
»Diese Frage stellt sich nicht, Herr Karl. Ich konnte nicht anders handeln.«
»Ich glaube, heute brauchen wir einen Schnaps zum Bier«, brummte der alte Bauer, stemmte sich mühsam in die Höhe und ging zu einem alten Eichenschrank, hinter dessen Glastüren er seinen ›Selbstgebrannten‹ aufbewahrte. »Mirabelle«, sagte er, als er an den Tisch zurückkehrte. »So was Gutes kriegen Sie nirgends zu kaufen.«
Er hatte nicht übertrieben, stellte Lorenz fest, als ihm die klare Flüssigkeit sanft die Kehle hinunterlief. Nachdem sie jeder ein Glas getrunken hatten, stellte Friedhelm Karl die Flasche zurück in den Schrank. Er trank abends sein Bier, manchmal auch zwei, und nur zu besonderen Gelegenheiten seinen Selbstgebrannten – mehr nicht. Lorenz hatte bereits festgestellt, dass er ein sehr genügsamer Mann war.
»Man kann immer anders handeln«, sagte er nun in die entstandene Stille hinein. »Wenn dieser Mann ein Verbrecher ist, wie Sie sagen, und wenn er sich jetzt an Ihre Braut heranmacht, dann können Sie nicht einfach tatenlos zusehen, Herr zu Hirtenberg.«
»Sie wird nicht auf ihn hereinfallen«, erklärte Lorenz. »Allerdings weiß ich nicht, was passiert, wenn er nicht bekommt, was er haben will.« Er stand auf. »Ich sollte mit Ihnen nicht über diese Geschichte reden – es kann sein, dass Sie sonst auch noch Schwierigkeiten bekommen, Herr Karl.«
»So schnell geht das bei mir nicht«, erwiderte der Alte gemütlich. »Setzen Sie sich wieder hin, wenn Sie drüben in Ihrer Wohnung sind, grübeln Sie ja doch nur. Da können Sie sich besser mit mir unterhalten. Wenn Sie wollen, reden wir über etwas anderes.«
Lorenz setzte sich tatsächlich wieder, denn Friedhelm Karl hatte Recht: In dieser Küche hielt er sich bedeutend lieber auf als in der kleinen, gemieteten Wohnung, wo er sich nicht selten vorkam wie ein Gefangener, obwohl er sich frei bewegen und sie jederzeit verlassen konnte.
Aber was nützte alle Freiheit, wenn der einzige Ort, an dem man sein wollte, unerreichbar war?
*
»Mir ist jetzt erst klar geworden, was ich angerichtet habe, Maria«, sagte Moritz zu Hirtenberg. »Wenn ich nur wüsste, wo Lorenz ist, damit ich ihm sagen könnte, wie leid mir alles tut. Wenn er sich wenigstens einmal bei uns melden wür-
de …«
»Das wird er nicht tun«, erwiderte seine Frau. »Und du weißt, warum, Moritz.«
»Ja«, bestätigte er mit grauem Gesicht. »Ich weiß, warum. Ich muss das wieder in Ordnung bringen, diese ganze vertrackte Geschichte.«
Sie nickte nur, wartete darauf, dass er weitersprach.
»Gestern habe ich mit dem Arzt gesprochen. Weißt du, was er mir geraten hat?«
»Nein. Was denn?«
»Dass ich zur Polizei gehe. Aber damit würde alles öffentlich …« Moritz brach ab, starrte vor sich hin. »Ich weiß nicht, ob ich das ertragen könnte. Es ist so schon schwer genug. Und wir wären ja gar nicht hier, wenn nicht …« Erneut brach er ab.
»Wenn du es nicht ertragen kannst, hat es wenig Sinn, Moritz«, sagte Maria mit beherrschter Stimme. »Dann wären wir bald wieder an dem Punkt, an dem wir vorher waren. Das wäre nicht in Lorenz’ Sinn, denn dann hätte sein … sein Opfer ja nichts bewirkt.«
»Wie soll ich dem Jungen jemals wieder in die Augen sehen, kannst du mir das mal sagen?«, murmelte Moritz. »Es ist furchtbar, was ich ihm angetan habe.«
»Es ist furchtbar, und trotzdem hat er dir geholfen«, stellte sie fest.
Er schlug beide Hände vors Gesicht. »Ich schäme mich so, Maria.«
Sie streichelte unbeholfen seinen Arm. Seit Tagen ging das nun schon so: Die Gemütslage ihres Mannes wechselte ständig. Mal war er voller Hoffnung, dann wieder sah er alles grau in grau. Mal erdrückten ihn seine Schuldgefühle förmlich, im nächsten Augenblick konnte er bereits überzeugt davon sein, den richtigen Weg beschritten zu haben und alles wieder gutmachen zu können.
Für sie selbst bedeutete dieser ständige Wechsel pausenlose Anspannung und Stress, und bereits jetzt, nach wenigen Tagen an diesem Ort, fühlte sie sich erschöpft und ausgelaugt. Die Ärzte hatten ihr das vorhergesagt, aber sie war davon überzeugt gewesen, dass ihre Kräfte reichen würden. Jetzt jedoch zweifelte sie manchmal daran, auch wenn sie sich gegen solche Momente der Schwäche immer heftig zur Wehr setzte.
Moritz ließ die Hände sinken und sah sie an. »Ich mache das«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich gehe zur Polizei, Maria.«
»Nur, wenn du ganz sicher bist«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Ich glaube auch, dass es das einzig Richtige wäre.«
»Aber du weißt, was das bedeutet«, murmelte er. »Wir wären ruiniert.«
»Finanziell, ja. Aber nicht moralisch, Moritz. Wir könnten wieder in den Spiegel sehen, ohne uns zu schämen.«
Er wandte den Blick ab. »Das konnte ich schon sehr, sehr lange nicht mehr«, sagte er. »In den letzten Jahren habe ich mich bei jedem Blick in den Spiegel geschämt.«
Sie umarmte ihn. »Wir schaffen das, Moritz«, flüsterte sie. »Irgendwie schaffen wir das.«
Er nickte, ein kleines Lächeln stahl sich in seine Augen. »Das wäre schön«, sagte er sehnsüchtig.
*
»Er gefällt mir, Lara«, sagte Lucie, als sie von ihrem Ausritt mit Ulrich zurückkehrte. Sie ließ sich der Länge nach auf ein Sofa fallen. »Er gefällt mir sogar sehr.« Die beiden Freundinnen bewohnten gemeinsam eine der großen Gästesuiten von Schloss Sternberg – jede hatte ihr eigenes Schlafzimmer und ein Bad, es fehlte an nichts.
»Stell dir vor, das ist mir sogar schon aufgefallen«, stellte Lara fest. »Du gefällst ihm übrigens auch.«
Lucie richtete sich wieder auf und fragte: »Woher willst du das wissen?«
»Ich habe Augen im Kopf«, erklärte Lara trocken.
»Und? Wie findest du ihn?«
»Außerordentlich sympathisch, charmant und klug«, antwortete Lara.
Lucie sprang auf und umarmte sie stürmisch. »Ich bin verliebt, Lara, ich bin verliebt!«
»Leider ist der Mann Kriminalbeamter«, versuchte Lara ihre Begeisterung ein wenig zu dämpfen. »Das heißt, er ist praktisch ständig im Dienst – ich habe mich ein biss-chen umgehört. Sofia und Friedrich sind des Lobes voll über ihren Freund, aber sie haben keinen Hehl daraus gemacht, dass er ein Ar-
beitstier ist und dass seine bisherigen Beziehungen allesamt an diesem Punkt gescheitert sind.«
»Unsere nicht!«, erklärte Lucie mit fester Stimme. »Ich arbeite selbst sehr gern, das wird also kein Problem sein.«
»Lern ihn erst einmal ein biss-chen besser kennen«, riet Lara ihr.
Lucie richtete sich wieder auf. »Das habe ich auch vor«, erklärte sie strahlend. »Stell dir mal vor, ich hätte dich nicht begleitet, Lara. Dann hätte ich diesen Mann vermutlich niemals kennengelernt!«
Lara setzte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. »Schön, dass du glücklich bist«, sagte sie leise.
»Du wirst auch wieder glücklich sein.« Lucie ließ ihren Kopf auf die Schulter ihrer Freundin sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Da muss ich erst nach Sternberg reisen, um mich zu verlieben. Ist das nicht verrückt?«
»Nein, ist es nicht. Sternberg ist ein … wie soll ich das sagen? Ein magischer Ort. Hier verlieben sich die Menschen leichter als anderswo – oder sie klären ihre Missverständnisse und finden wieder zueinander. Ich habe mich schon oft gefragt, woran das liegen mag, aber eine Antwort habe ich bisher nicht gefunden. Frag mal die Sternberger, die werden dir bestätigen, dass hier die Liebe zu Hause ist.«
»Wie das klingt«, murmelte Lucie und wiederholte: »Hier ist die Liebe zu Hause.« Sie dachte eine Weile darüber nach, dann fragte sie: »Wolltest du deshalb hierher?«
»Vielleicht auch, aber nicht nur. Ich mag die Sternberger einfach sehr gern, mit ihnen kann ich über alles reden, ich vertraue ihnen. Und du? Du hast doch auch Sternberg vorgeschlagen als Ort, an dem ich mich gut vor Herrn von Angern verstecken könnte.«
»Den Grund kann ich dir nicht sagen. Die Idee kam mir spontan, und ich fand sie einfach gut.« Lucie richtete sich auf. »Und das war sie doch auch, oder?«
Lara sah die glänzenden Augen ihrer Freundin, das Lächeln in ihren Mundwinkeln, das sich fest dort eingenistet zu haben schien, und sie nickte. »Ja, es war eine sehr, sehr gute Idee, Lucie.«
Lucie sprang auf und verschwand in ihrem Bad, während Lara noch sitzen blieb. Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Lorenz, dachte sie, wo bist du?
*
Während Lucie ihrer Freundin mit leuchtenden Augen von Ulrich vorschwärmte, führte dieser ein Gespräch mit Anna und Christian, in dem die beiden Teenager ihm einiges vortrugen, was ihn gleichermaßen elektrisierte wie verblüffte.
»Wir müssen mit dir reden, Uli, unter vier Augen« – mit diesem Satz des kleinen Fürsten hatte die Unterhaltung begonnen.
»Etwas Wichtiges also«, hatte Ulrich festgestellt. »Dann lasst uns doch bei einem Spaziergang miteinander sprechen, was haltet ihr davon?«
»Wenn du nicht zu müde bist? Immerhin seit ihr ja ziemlich lange ausgeritten, Lucie und du.«
»He, ich bin noch kein alter Mann, Chris!«
»Das habe ich doch auch nicht gemeint.«
Sie drängten ihn förmlich in den Schlosspark, wo Anna sofort zum Kern dessen kam, was ihr und
Christian auf der Seele lag. »Wir glauben, dass dieser Michael von Angern etwas mit Lorenz’ Verschwinden zu tun hat, Uli.«
Er blieb stehen. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass die beiden das Thema anschneiden würden, das ihn selbst derzeit so sehr beschäftigte. »Wie kommt ihr darauf?«
»Erstens: Er war bei der Hochzeit, obwohl ihn niemand kannte. Zweitens: Er hat sich an Lara herangemacht. Wir haben sie danach gefragt, weil wir ja dieses Foto in der Zeitung gesehen haben …«
»Und was hat sie gesagt?«, fragte Ulrich gespannt. Er selbst hatte sich vorgenommen, noch im Laufe des Tages ein Gespräch mit Lara zu führen. Bisher hatte er sich zurückgehalten, schließlich hielten sie sich alle privat auf Schloss Sternberg auf, und er hatte Lara soeben erst kennengelernt. Es war ihm unpassend erschienen, sie sofort mit Fragen zu belästigen. Aber nun waren ihm Anna und Christian offenbar bereits zuvorgekommen – und sie schienen sogar die richtigen Fragen gestellt zu haben. Einmal mehr bewunderte er ihren Scharfsinn und ihre gute Beobachtungsgabe.
»Sie glaubt auch, dass es einen Zusammenhang gibt, aber sie weiß nicht, welchen. Und weil du doch bei der Polizei bist, könntest du es vielleicht herausfinden.«
»Der Kerl ist schwer zu fassen«, murmelte Ulrich. »Wir haben doch bei meinem letzten Besuch schon über ihn gesprochen – man hat ihm bisher keine kriminellen Taten nachweisen können. Und ich finde einfach keine Erklärung dafür, wie ein Mensch wie dieser Angern es geschafft haben könnte, dass ein verliebter junger Mann vor dem Traualtar ›nein‹ statt ›ja‹ sagt.«
»Erpressung?«, fragte der kleine Fürst.
»Daran haben wir natürlich auch schon gedacht, aber euer Freund Lorenz scheint absolut nichts zu verbergen zu haben«, erklärte Ulrich. »Es sei denn, es ging nicht um ihn, sondern um jemanden, der ihm nahesteht. Seine Eltern beispielsweise.«
»Seine Eltern?«, fragte Anna verwundert. »Habt ihr da schon nachgeforscht?«
»Nein, es gab bisher keinen Grund. Niemand vermutet, dass Lorenz zu Hirtenberg entführt wurde oder einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel, Anna. Da kann man nicht einfach das Privatleben seiner Eltern ausspionieren.«
»Aber was habt ihr denn gegen diesen Michael von Angern in der Hand?«
»So gut wie nichts«, gestand Ulrich. »Wir verdächtigen ihn zahlreicher Verbrechen, aber uns fehlen die Beweise. Und übrigens dürfte ich mit euch gar nicht darüber reden.«
»Bleibt alles unter uns«, versicherte der kleine Fürst. »Du solltest noch mal mit Lara reden – bestimmt kann sie dir noch viel mehr erzählen als wir.«
»Das habe ich auch vor«, erklärte Ulrich. »Ihr habt mir sehr geholfen, wisst ihr das? Wollt ihr nicht später mal zur Kriminalpolizei gehen und dort die Aufklärungsrate erhöhen?«
Sie lachten, aber er sah, dass sie sich über seine Komplimente freuten.
»Wisst ihr was? Ich gehe zurück und mache mir ein paar Notizen, um meine Gedanken zu ordnen. Vielleicht ergibt sich heute ja noch eine Gelegenheit für mich, mit Frau von Kessel zu reden.«
»Spätestens heute Abend«, meinte Anna.
»Kommt ihr mit?«
Anna und Christian verständigten sich durch einen kurzen Blick. »Wir laufen noch ein bisschen, Uli, bis später.«
»Ja, bis später, und nochmals vie-len Dank für eure Unterstützung.«
Sie setzten also ihren Weg alleine fort. Nachdenklich murmelte der kleine Fürst: »Das mit Lorenz’ Eltern …, darauf wäre ich gar nicht gekommen. Ich habe immer nur darüber nachgedacht, was er selbst getan haben könnte, um erpressbar zu sein.«
Anna blieb stehen, er merkte es erst nach einigen Metern. Erstaunt drehte er sich um. »Was hast du denn?«
»Lass uns zurückgehen!«, sagte sie. »Vielleicht finden wir bei den alten Ansichtskarten etwas – da gibt es doch in einem der Schränke eine ganze Sammlung, es muss auch welche von Lorenz’ Eltern geben.«
»Bestimmt sogar, ich erinnere mich daran. Sie sind ja früher oft gereist.« Christian folgte seiner Cousine zwar, die jetzt eilig zum Schloss zurücklief, aber er fragte dennoch: »Und was versprichst du dir davon? Was sollen uns denn Ansichtskarten schon für Hinweise geben? Da steht doch nie etwas Wichtiges drauf. Immer nur: ›Das Wetter ist schön, uns geht es gut, leider sind die Ferien bald vorüber‹ – oder etwas in der Art.«
»Kann sein, dass es nichts bringt, aber wir finden ja sonst nirgends einen Hinweis.«
»Na schön, einen Versuch ist es wert.«
Sie betraten das Schloss über einen der Hintereingänge, um von niemandem aufgehalten zu werden und näherten sich zielstrebig dem alten Schrank, in dem alte Ansichtskarten, Fotos und andere Erinnerungsschätze aufbewahrt wurden. Jemand hatte sich einmal die Mühe gemacht, alles zu ordnen – die Ansichtskarten waren nach Jahren sortiert, was ihre Suche erheblich vereinfachte.
Es dauerte nicht lange, bis sie die erste Karte, geschrieben von Maria zu Hirtenberg, gefunden hatten. Der Inhalt war, wie von Christian befürchtet, eher nichtssagend. Sie suchten weiter, lasen mehrere Karten, alle von Maria geschrieben und von Moritz höchstens mit einer flüchtigen Unterschrift versehen, bis Christian ausrief: »Diese Karte hier ist anders. Sie ist vom letzten Jahr, Anna.«
»Und was steht drauf?«
Er las es ihr vor, langsam, jedes Wort betonend. Sie nahm ihm die Karte aus der Hand, las sie selbst noch einmal, dann sagte sie: »Das könnte es sein, oder?«
»Ja«, bestätigte der kleine Fürst, »das könnte es sein.«
*
»Ein Herr von Angern bittet darum, empfangen zu werden, Frau von Kessel«, sagte die Haushälterin der Familie. Mit gedämpfter Stimme setzte sie hinzu: »Das ist der von dem Foto in der Zeitung.«
»Ja, ich weiß, Frau Brede«, erwiderte Bettina nervös. Das recht intime Foto von Lara und einem Mann, der ihnen zwar namentlich, nicht aber persönlich bekannt war, hatte sie in helle Aufregung versetzt. Aber jeder Versuch, Lara zu kontaktieren, scheiterte daran, dass sie ihr Handy ausgeschaltet hatte. »Wo ist mein Mann?«
»Hier bin ich«, erklärte Otto,
der in diesem Augenblick zur Tür hereinkam. »Was gibt’s denn, mein Schatz?«
Sie teilte ihm mit leiser Stimme mit, welcher Besucher vor der Tür stand, und er fällte eine rasche Entscheidung: »Führen Sie ihn herein, Frau Brede.«
Die Haushälterin nickte und zog sich zurück, während Bettina aufgeregt fragte: »Aber wieso …?«
»Vielleicht erfahren wir etwas Interessantes, Tina. Es scheint ja eine Verbindung zwischen Herrn von Angern und unserer Tochter zu geben, von der wir bisher nichts wussten. Und da sie uns offensichtlich nichts darüber erzählen will, tut er es ja vielleicht.«
»Aber du weißt, was er für einen Ruf hat …« Mehr konnte Bettina nicht sagen, denn in diesem Augenblick führte die Haushälterin den Besucher bereits herein.
Sie begrüßten Michael von Angern höflich, aber mit der gebotenen Distanz. Er war kein Mann, mit dem man zu tun haben wollte. Zwar gab es keine konkreten Vorwürfe gegen ihn, aber es waren allerlei Gerüchte im Umlauf, und ihm haftete der Ruch des Emporkömmlings an, der sich seine feinen Umgangsformen nur mühsam angeeignet hatte und bei jeder sich bietenden Gelegenheit sofort wieder aus der Rolle fiel. Sein sagenhafter Reichtum hatte ihm allerdings trotzdem verschiedene Türen geöffnet, und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis er sich endgültig Zugang zur »feinen Gesellschaft« verschafft hatte.
Er stellte sich höflich vor, kam dann aber umgehend zum Zweck seines Besuchs. »Sie wissen sicher«, sagte er, »dass Ihre Tochter und ich uns nähergekommen sind.«
»Das wussten wir bisher nicht«, erklärte Otto von Kessel reserviert.
»Nun Sie haben ja das Foto in der Zeitung gesehen.« Michael von Angern lächelte breit und selbstgefällig.
»Wir waren darüber verwundert, immerhin war Lara bis vor kurzem noch mit Baron zu Hirtenberg verlobt.«
»Ein Irrtum«, winkte der Besucher lässig ab. »Wir werden sobald wie möglich heiraten, Lara und ich. Sie hat Ihnen also noch nichts von uns erzählt?«
»Nein, hat sie nicht«, erklärte Bettina. Ihre Nervosität wuchs. Was redete dieser Mann denn da? Nie im Leben konnte sie glauben, dass Lara sich in ihn verliebt hatte – Lara liebte Lorenz, nach wie vor. Aber warum war sie dann – und das war ja offensichtlich – mit Michael von Angern ausgegangen?
»Das holt sie bestimmt bald nach.«
Otto fiel auf, dass der Besucher den Raum, in dem sie saßen, gründlich mit Blicken absuchte. Was wollte er? Die Einrichtung taxieren? Oder suchte er etwas? Plötzlich kam ihm die Erleuchtung. »Wissen Sie, wo Lara sich zurzeit aufhält, Herr von Angern?«
»Ich hoffte, dass Sie mir das sagen könnten«, gestand der Besucher mit schmalem Lächeln. »Sie ist ja etwas überstürzt aufgebrochen …«
»Wir wissen es auch nicht«, erklärte Otto. »Seltsam, dass sie es auch Ihnen nicht gesagt hat, wo Sie einander doch so nahegekommen sind.«
Deutlicher wollte er seinen Zweifel an Michael von Angerns Darstellung seiner Beziehung zu Lara nicht äußern, aber das war auch nicht nötig. Sobald klar geworden war, dass er die Information, die er haben wollte, nicht bekommen würde, verabschiedete sich der Mann so schnell wieder, wie er gekommen war. Er blieb höflich und verbindlich, dennoch lag etwas Drohendes und Unheilverkündendes in seiner Haltung.
»Was für ein schrecklicher Mensch«, sagte Bettina leise, als er gegangen war. »Was hat Lara mit ihm zu tun, Otto?«
»Jedenfalls nicht das, was er behauptet. Weißt du, was ich glaube, Tina? Sie ist seinetwegen weggefahren – sie wollte sich vor ihm in Sicherheit bringen.«
»Aber warum denn nur, Otto?«
Auf diese Frage fanden sie auch im weiteren Verlauf des Abends keine Antwort.
*
»Dieses Wochenende hatten Sie sich wohl auch anders vorgestellt, was?«, fragte Friedhelm Karl.
»Kann man so sagen«, gab Lorenz zu.
Sie saßen wieder einmal in der Küche des alten Bauernhauses – Lorenz hatte darauf bestanden, ein einfaches Essen für sie beide zuzubereiten, das sie bereits zu sich genommen hatten. »Ist es Ihnen nicht manchmal zu einsam, Herr Karl – ganz allein auf Ihrem Hof?«
»Dafür habe ich gelegentlich Feriengäste – und während der Woche habe ich ja Hilfe hier. Nein, ich komme gut allein zurecht, das war schon früher so.«
»Ich bin lieber mit Menschen zusammen, die mir nahestehen. Für mich sind Sie ein Glücksfall, wissen Sie das? Wenn Sie nicht gewesen wären in den letzten Tagen – ich weiß gar nicht, was ich dann gemacht hätte.«
»Sie hätten das schon gepackt«, brummte der Bauer. »Ich habe noch eine gute Nachricht für Sie. Zumindest denke ich, dass es eine gute Nachricht ist.«
»Ja?«, fragte Lorenz gespannt.
»Ihre Braut ist verschwunden.«
Lorenz’ Augen weiteten sich. »Verschwunden? Und wieso soll das eine gute Nachricht sein?« Er wirkte höchst beunruhigt. »Woher wissen Sie das überhaupt?«
Gemütlich stellte Friedhelm Karl zwei weitere Bierflaschen auf den Tisch. »Sie ist seit gestern unauffindbar für die Reporter – und wohl auch für diesen Mann, mit dem sie in einem Restaurant fotografiert wurde und den Sie für einen Verbrecher halten. Jedenfalls ist sie nicht bei ihm. Habe ich in der Abendzeitung gelesen.«
»Ich weiß immer noch nicht, wo die gute Nachricht sein soll«, murmelte Lorenz.
»Sie hat sich abgesetzt, schätze ich, und da sie offenbar weiß, was sie will, halte ich das für ein gutes Zeichen. Vielleicht stellt sie von sich aus ein paar Nachforschungen an.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich mir das wünschen soll, Herr Karl. Dieser Kerl hat mich in der Hand.«
»Wenn er ein Verbrecher ist, wie Sie neulich gesagt haben, dann können wir uns nur wünschen, dass es gelingt, ihm seine Verbrechen nachzuweisen. Und wenn er erst einmal verurteilt ist, kann er auch Ihnen und Ihrer Braut nicht mehr gefährlich werden.«
»Ganz so einfach ist das leider nicht«, sagte Lorenz. »Es geht nämlich weniger um uns beide – wir sind da nur hineingeraten, weil Herr von Angern Lara haben wollte …« Er brach erschrocken ab. »Reden wir über etwas anderes.«
Doch dieses Mal reagierte Friedhelm Karl mit unerwartetem Widerstand. »Nein!«, sagte er entschieden. »Im Gegenteil, erzählen Sie mir endlich Ihre Geschichte, Herr zu Hirtenberg. Sie brauchen Hilfe, und die kann nur von jemandem kommen, der nichts mit der ganzen Sache zu tun hat. Ich kann schweigen wie ein Grab, wenn es nötig ist, aber Sie müssen endlich reden – und zwar hier und jetzt.«
Etwas Seltsames geschah mit Lorenz: Seine tief sitzende Anspannung löste sich, und er begriff mit einem Schlag, dass der alte Bauer Recht hatte. Er musste reden, hier und jetzt, und genau das tat er auch.
*
»Was habt ihr beiden nur?«, wunderte sich die Baronin, der es während des Abendessens auffiel, wie nervös Anna und Christian auf ihren Stühlen herumrutschten.
»Kleine Kinder können eben nicht lange stillsitzen«, spottete Konrad, hatte aber mit seiner Provokation keinen Erfolg. Anna reagierte nicht einmal.
»Es geht um Lara«, platzte der kleine Fürst heraus.
»Um mich?«, fragte Lara verwundert. »Ich mache euch nervös? Das tut mir aber wirklich leid, es lag nicht in meiner Absicht.«
»Du machst uns nicht nervös, aber wir haben vorhin mit Uli
über …, na ja, über deine Geschichte gesprochen, und …«
»Chris!«, sagte die Baronin streng. »Ihr wollt uns doch hoffentlich nicht die Stimmung verderben? Was ist denn nur in euch gefahren?«
»Lass nur, Sofia«, warf Lara rasch ein, »ich habe gar nichts dagegen, über ›meine Geschichte‹ zu reden – wenn ihr meint, dass wir gemeinsam vielleicht etwas herausfinden könnten, das Licht ins Dunkel bringt.«
Anna und Christian strahlten. Ulrich, den sie mit ihrem Vorstoß in Verlegenheit gebracht hatten, weil auch er der Ansicht gewesen war, es sei besser, einen geeigneten Zeitpunkt abzuwarten, um das geplante Gespräch dann unter vier Augen zu führen, spürte nun plötzlich lauter fragende Blicke auf sich, was seine Verlegenheit noch steigerte. »Warum guckt ihr jetzt alle mich an?«, rief er in komischer Verzweiflung.
»Frag sie, Uli!«, drängte Anna. »Lara hat gesagt, sie hat nichts dagegen!«
»Was wollen Sie denn wissen?«, fragte Lara, um dem Hin und Her ein Ende zu bereiten.
»Sie haben Anna und Chris erzählt, dass Sie Michael von Angerns Auftauchen bei Ihrer Hochzeit nicht für einen Zufall halten.«
»Das stimmt«, gab Lara zu. »Erst ist er in der Kirche aufgetaucht, wie mir erzählt wurde, dann fährt er angeblich mein Auto an. Ich habe den Kratzer überprüfen lassen – er hat das Auto nicht angefahren, wie zunächst behauptet, sondern der Kratzer stammt eindeutig von einem Schlüssel. Das hatte ich schon vermutet. Er hat also einen Vorwand gebraucht, um mich anzusprechen. Das hat er dann übrigens auch zugegeben, aber ich wollte ganz sicher sein, deshalb die Überprüfung.«
»Interessant!«, stellte Ulrich fest.
Sofia, Friedrich und Konrad folgten dem Gespräch mit wachsender Verwunderung – noch konnten sie sich nicht vorstellen, worauf es hinauslaufen sollte. Nur Lucie widmete sich weiter inbrünstig dem köstlichen Essen. Sie kannte Laras Überlegungen natürlich, schließlich hatte sie stundenlang selbst Theorien zu den Hintergründen von Lorenz’ »Nein« aufgestellt und wieder verworfen.
»Ja, nicht wahr? Und er scheint keinerlei Zweifel daran zu haben, dass ich seinem Werben nachgebe. Er muss etwas gegen Lorenz in der Hand haben – und damit hat er ihn unter Druck gesetzt. Das jedenfalls denke ich, nachdem ich länger darüber nachgedacht habe. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Schlüssel für Lorenz’ Verhalten bei Herrn von Angern zu suchen ist.«
»Aber Lara!«, rief die Baronin. »Das höre ich ja jetzt zum ersten Mal!«
Lara lächelte entschuldigend. »Ich hätte noch mit euch darüber gesprochen, aber ich wollte zuerst Klarheit in meinen Gedanken schaffen. Zuerst herrschte da nämlich nur Durcheinander, aber Lucie und ich haben jetzt so oft und so lange darüber geredet, dass sich dieses Durcheinander allmählich lichtet. Also, wir denken beide, dass Herr von Angern seine Hände im Spiel hat. Nicht, Lucie?«
Lucie nickte nachdrücklich.
»Angern«, korrigierte Ulrich. »Den Adelstitel hat er sich selbst verliehen. Ich stimme Ihnen in allem, was Sie gesagt haben, zu, Frau von Kessel. Leider fehlt uns jeglicher Beweis.«
»Wir haben eine Idee«, warf der kleine Fürst zaghaft ein.
Ulrich sah ihn erstaunt an. »Wann ist euch die denn gekommen? Vorhin waren wir doch alle drei noch ziemlich ratlos.«
»Ja, aber wir haben doch überlegt, ob dieser Mann vielleicht nichts gegen Lorenz in der Hand hat, sondern gegen seine Eltern …«
»Gegen seine Eltern?«, rief Lara. »Aber das ist doch …« Sie brach ab. »Gegen seine Eltern«, wiederholte sie. »Aber was sollte das denn sein?«
Nun endlich war auch Lucies Interesse geweckt. Sie hörte auf zu essen.
»Ja, was sollte das sein?«, wiederholte Ulrich, während er die beiden Teenager gespannt ansah. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht dazu neigten, sich wichtig zu machen. Wenn sie also sagten, dass sie eine Idee hatten, dann war es ihnen vielleicht gelungen, eine hoffnungsvolle Spur zu finden. Er traute ihnen das auf jeden Fall zu.
Christian hielt eine Ansichtskarte hoch. »Anna hatte die Idee, dass wir mal die alten Ansichtskarten durchsehen, ob wir da vielleicht einen Hinweis finden. Ich dachte zuerst, dass da bestimmt nichts zu finden ist. Die ersten Karten von Lorenz’ Eltern – oder genauer gesagt von seiner Mutter – waren auch so, wie ich mir das vorgestellt hatte. Dann haben wir diese Karte gefunden.« Er drehte sie um und las vor: »Liebe Sternberger, schöne Grüße aus Baden-Baden. Das Wetter lässt uns im Stich, deshalb würde ich lieber heute als morgen abreisen, aber Moritz hat sich hier mit einem Herrn von Angern angefreundet, und die beiden verbringen viel Zeit miteinander – unter anderem im hiesigen Spielcasino. Moritz spielt natürlich nicht, aber er findet die Atmosphäre sehr interessant. Zum Glück bin auch ich nicht allein …«
Christian sah auf. Am Tisch herrschte jetzt absolute Stille, die endlich von Ulrich gebrochen wurde: »Das ist es! Das muss es sein!«
*
»Jetzt, am Sonntag, wollen Sie eine Aussage machen?«, fragte Andreas Wolle entgeistert. »Aber mein Chef ist nicht da – wir bearbeiten diese Sache eigentlich gemeinsam, und …«
»Es war schwer genug für meinen Mann, sich zu diesem Schritt zu entschließen«, erklärte Maria zu Hirtenberg. »Wenn Sie seine Aussage jetzt nicht aufnehmen, kann ich nicht dafür garantieren, dass er die Kraft noch einmal findet, sich an die Polizei zu wenden. Er ist spielsüchtig und deshalb in Behandlung, verstehen Sie? Seine Krankheit hat unseren Sohn die Liebe seines Lebens gekostet, und wir werden am Rande des Ruins stehen, wenn es zum Prozess kommt. Denn die Schulden meines Mannes hat ja jetzt Herr von Angern bezahlt – dafür hat er von unserem Sohn verlangt, dass er in der Kirche, vor den Augen und Ohren aller Anwesenden, ›nein‹ sagt. Das hat mein Mann mir ja erst erzählt, als es bereits passiert war. Und jetzt wollen Sie uns wegschicken, nur weil Sonntag ist?« Sie hatte während dieser langen Rede nicht ein einziges Mal Luft geholt.
Der junge Kriminalbeamte betrachtete den zusammengesunkenen Mann, der neben seiner Frau saß und bis dahin noch kein Wort gesagt hatte. »Nein«, erklärte er, »ich will Sie nicht wegschicken. Ich werde Ihre Aussage aufnehmen und dann alles Erforderliche in die Wege leiten.«
Moritz zu Hirtenberg richtete sich auf, ein schwaches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Ich werde froh sein, wenn ich mir alles von der Seele geredet habe«, sagte er mit leiser Stimme.
Andreas Wolle nahm die Personalien auf, notierte Ort und Zeit und fragte dann: »Wie hat das angefangen mit Ihrer Spielsucht?«
»Vor einem Jahr, als ich Herrn von Angern in Baden-Baden kennenlernte. Er ging im Spielcasino ein und aus und hat mich mitgenommen. Mir gefiel die Atmosphäre dort, alle waren zuvorkommend und liebenswürdig, und er hat mich animiert zu spielen. Am Anfang habe ich ständig gewonnen – heute weiß ich, dass man das Anfängerglück nennt und dass jemand kräftig nachgeholfen hat. Ich sollte erst einmal anbeißen und richtig auf den Appetit kommen. Jedenfalls konnte ich schon bald das Spielen nicht mehr lassen. Michael war sehr großzügig – als ich in Schwierigkeiten geraten war, hat er mir Geld geliehen, zuerst nur ein biss-chen, dann ein bisschen mehr und irgendwann wirklich große Summen. Ich war immer davon überzeugt, es ihm bald zurückzahlen zu können, aber es war wie verhext: Plötzlich habe ich nur noch verloren. Meine Schulden wuchsen und wuchsen, aber ich hatte längst die Übersicht verloren. Ich glaube, so genau wollte ich es auch gar nicht wissen. Für mich war die Hauptsache, dass ich weiterhin spielen konnte.«
»Und er hat Ihnen weiterhin Geld geliehen? Sind Sie nicht miss-trauisch geworden?«
»Überhaupt nicht, ich dachte doch, er ist mein Freund. Bis mir irgendwann auffiel, wie sehr er sich für Lara interessierte, die Verlobte unseres Sohnes. Aber den Gedanken, dass er sich zielstrebig an mich herangemacht hat, weil er schon damals den Plan hatte, Lorenz durch Erpressung dazu zu bringen, die Hochzeit platzen zu lassen – ehrlich, auf diese Idee bin ich erst jetzt gekommen. Dass ein Mensch sich überhaupt so verhalten kann, hätte ich niemals für möglich gehalten. Er muss uns länger beobachtet haben, und er hat genau erkannt, dass man mich relativ leicht verführen kann. Unser Sohn ist viel stärker als ich. Michael hat mich als Schwachstelle der Familie ausgemacht, und genau da hat er angesetzt.«
Moritz zu Hirtenberg brach ab, Maria griff nach seiner Hand und drückte sie.
Andreas Wolle stellte noch viele Fragen. Längst war ihm klar, dass diese Aussage eine Sensation war und dass sie ihnen helfen würde, einen Mann dingfest zu machen, den sie seit langem für kriminell hielten, ohne ihm etwas nachweisen zu können. Er freute sich schon auf das Gespräch mit seinem Chef – der würde Augen machen!
Als sich die Hirtenbergs verabschiedet hatten, las er die Aussage noch einmal sorgfältig durch, dann griff er zum Telefon.
*
»Ich muss zurück«, sagte Ulrich zu Lucie, mit der er an diesem Sonntagmorgen durch den Schloss-park spazierte. »Das bedauere ich sehr, aber ich muss unsere Vermutungen überprüfen, damit uns dieser Kerl nicht in letzter Sekunde noch entwischt.«
»Das war mir gestern Abend schon klar«, erwiderte Lucie. »Ich habe mich sogar ein bisschen gewundert, dass Sie nicht noch mitten in der Nacht aufgebrochen sind nach den aufregenden Entdeckungen von Anna und Chris.«
Er lachte leise. »Ich hatte Wein getrunken – und müde war ich auch. Außerdem wollte ich mir um nichts in der Welt diesen Spaziergang mit Ihnen entgehen lassen, Lucie.«
Ihre Blicke begegneten sich. »Sehen wir uns wieder?«, fragte er.
»Ich bin dafür«, erwiderte sie mit ihrem spitzbübischen Lächeln, das ihn vom ersten Moment an bezaubert hatte.
Ohne weiter nachzudenken umarmte er sie. Als sich ihre Lippen zum ersten Kuss fanden, geriet selbst die Tatsache, dass er vielleicht bald einen lang gesuchten Kriminellen würde verhaften lassen können, zur Nebensache. Lucie schmiegte sich an ihn und erwiderte seinen Kuss so leidenschaftlich, dass er kurz darüber nachdachte, ob er nicht doch lieber bis zum nächsten Tag bleiben sollte.
Nur widerwillig löste er sich von ihr. »Ich würde lieber bleiben, Lucie.«
»Ich hätte es auch lieber, wenn du bliebst, aber das kannst du nicht machen. Außerdem ist es mir wichtig, dass Lara schnell wieder mit ihrem Lorenz vereint wird. Mach die beiden glücklich, Uli.«
Er lachte. »Ihr Wunsch ist mir Befehl, gnädige Frau! Dann lass uns zurückgehen.«
Im selben Augenblick meldete sich sein Handy. »Ich muss drangehen«, sagte er entschuldigend, »das ist mein Kollege, der mich an diesem Wochenende vertritt.«
»Soll ich dich alleinlassen?«, fragte sie.
Er hielt ihre Hand fest. »Bloß nicht, ich bekomme sofort Sehnsucht nach dir! Hallo?«
»Chef«, sagte Andreas Wolle, »wir haben den Angern am Wickel.«
»Ich weiß«, erwiderte Ulrich, »diese Spielcasinogeschichte in Baden-Baden. Aber woher wissen Sie denn davon?«
Andreas Wolle berichtete ihm von der Aussage des Ehepaars Hirtenberg, und danach gab es für Ulrich kein Halten mehr: Nach einem langen Abschiedskuss ließ er Lucie auf Sternberg zurück.
*
»Sitzen wir heute nicht in der Küche?«, fragte Lorenz verwundert.
»Nein, wir müssen ins Wohnzimmer, weil der Fernsehapparat dort steht«, erklärte Friedhelm Karl.
»Sie haben einen Fernseher, Herr Karl? Ich dachte, Sie gehörten zu den Menschen, die ohne auskommen.«
»Meistens, aber nicht immer. Heute müssen wir die Nachrichten ansehen.«
»Warum?«
»Das werden Sie dann schon sehen«, lautete die geheimnisvolle Antwort.
Neugierig folgte Lorenz dem Alten in sein bescheidenes, blitzsauberes Wohnzimmer, das er zuvor noch nie betreten hatte. Friedhelm Karl schaltete den Fernseher ein, kurz darauf kamen die Nachrichten.
Die Verhaftung Michael Angerns war die Hauptmeldung. Fassungslos verfolgte Lorenz den Bericht, in dem detailliert aufgelistet wurde, welchen kriminellen Geschäften der Mann seit Jahren nachging. Dass er auch zahlreiche Spielcasinos kontrolliert hatte, war eine neue Erkenntnis, die erst im Zuge aktueller Ermittlungen hatte gewonnen werden können. Möglich geworden war seine Überführung durch die Aussage eines Mannes, den er zuerst spielsüchtig gemacht und dann erpresst hatte. Die Identität dieses Mannes wurde nicht preisgegeben, aber Lorenz wusste auch so, von wem die Rede war.
»Mein Vater«, sagte er tonlos. »mein Vater ist zur Polizei gegangen. Das bedeutet, er und meine Mutter sind ruiniert. Er hatte so hohe Schulden bei diesem Kerl …«
Friedhelm Karl lächelte breit. »Die hatte er, weil in den Casinos, die Herr Angern kontrolliert hat, betrogen wurde. Manipulierte Roulettescheiben, gezinkte Karten, manchmal sogar Drogen in Drinks, damit die Leute jegliche Hemmungen verloren – der Mann hat mit allen Mitteln gearbeitet. Mit anderen Worten: Ihr Vater hat überhaupt keine Schulden, Herr zu Hirtenberg!«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe schon ein paar Mal Nachrichten gesehen heute und dazu noch ein paar Hintergrundberichte. Das ist ein richtig dicker Fisch, der der Polizei da ins Netz gegangen ist, und dafür schuldet sie Ihrem Vater großen Dank.« Der alte Bauer schaltete den Fernsehapparat aus und schenkte Lorenz ein etwas wehmütiges Lächeln. »Ich schätze mal, damit ist unse-
re gemeinsame Zeit zu Ende«, brummte er.
»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll«, murmelte Lorenz. »Mit dieser Entwicklung hatte ich nicht gerechnet.«
»Packen Sie Ihre Sachen und fahren Sie zu Ihrer Braut, Baron zu Hirtenberg! Und wenn Sie mal wieder hier in der Gegend sind, dann wäre es mir eine Freude, wenn Sie die Zeit für einen kurzen Besuch fänden. Wenn ich ehrlich sein soll: Ich würde Ihre Braut gern kennenlernen.«
»Das werden Sie, Herr Karl, das werden Sie auf jeden Fall!«
*
Lara hatte es nicht länger im Schloss gehalten. Seit sie wusste, dass Lorenz auf dem Weg nach Sternberg war, konnte sie keine Sekunde lang stillsitzen. Im Wendland war er gewesen – von dort war es ein weiter Weg nach Süddeutschland, sie wusste also, dass er etliche Stunden brauchen würde. Dennoch sah sie immer wieder auf die Uhr und konnte es nicht fassen, wenn sie feststellen musste, dass die Zeiger seit dem letzten Blick offenbar nur vorangekrochen waren.
Togo war ihr gefolgt. Da Anna, Christian und Konrad in der Schule waren, hegte der junge Boxer offenbar die Hoffnung, sie werde nun für ihn die Stöckchen werfen und ihm auf diese Weise einen schönen Tag bereiten.
»Warum nicht, Togo?«, murmelte sie. »Irgendwie muss ich die Zeit ja herumbringen, bis Lorenz kommt. Ja, er kommt, stell dir das vor! Er hat mich sofort angerufen, als er die Nachrichten gehört hatte – zum Glück hatte ich mein Handy wieder eingeschaltet.« Sie schleuderte einen kleinen Ast weit von sich, und Togo stürzte begeistert hinterher. Dieses Spiel spielten sie über eine halbe Stunde lang, ohne dass der Hund Anzeichen von Ermüdung zeigte – und ohne dass ein Auto die Anhöhe heraufkam.
»Mein Arm tut weh, Togo«, erklärte Lara. »Lauf ein bisschen allein herum, ja? Ich kann nicht mehr.«
Zu ihrem Erstaunen folgte Togo ihrer Aufforderung. Sie spazierte also in Gedanken versunken durch den Schlosspark, bis sie dann doch endlich einen Motor brummen hörte. Sie blieb wie angewurzelt stehen und spähte zur Auffahrt. Das Auto, das dort erschien, kannte sie nicht – und war es nicht vielleicht doch noch zu früh für Lorenz?
Dennoch folgte sie dem Wagen mit den Blicken bis zum Schlossplatz und wartete darauf, dass der Fahrer ausstieg. Als er es tat, machte ihr Herz einen gewaltigen Satz, dann fing sie auch schon an zu laufen. »Lorenz!«, rief sie. »Lorenz, hier bin ich.«
Er drehte sich um und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Als sie ihn erreicht hatte, fing er sie auf und schwenkte sie übermütig herum. »Lara, endlich habe ich dich wieder!«, sagte er, bevor er sie behutsam absetzte und ihr den Mund mit einem langen Kuss verschloss. Dieser Kuss löschte die Erinnerung an jene Sekunden vor dem Traualtar aus, als er »nein« statt »ja« gesagt hatte und dann geflohen war.
»Ich liebe dich, Lara.«
»Ich liebe dich auch, Lorenz.«
»Und du hast nicht an mir gezweifelt?«
»Nein, das habe ich nicht. Ich wusste, dass du einen triftigen Grund für dein Verhalten haben musstest.«
»Das hatte ich gehofft«, murmelte er, bevor er sie erneut küsste. »Ich hatte es gehofft, aber dieser Angern war vollkommen davon überzeugt, dass du ihm und seinem Reichtum nicht würdest widerstehen können. Ich dachte, ich muss meinem Vater helfen, weil er es allein unmöglich schaffen konnte – und nun stellt sich heraus, dass er gar keine Schulden hat, weil die Spiele alle manipuliert waren.«
»Er ist dir zu großem Dank verpflichtet, Lorenz. Und ich hoffe, er betritt in seinem Leben kein Spielcasino mehr.«
»Er hat es jedenfalls versprochen. Und wenn er sein Versprechen hält, waren diese schrecklichen Tage ohne dich wenigstens nicht ganz umsonst.«
Erneut küssten sie sich, versicherten einander ihre Liebe und konnten ihr Glück noch immer nicht recht fassen.
»Und wann heiraten wir jetzt?«, fragte Lara endlich.
»Wann immer du willst – ich sage bestimmt kein zweites Mal ›nein‹!«
Sie lachte übermütig, dann zog sie ihn mit sich. »Lass uns zu den anderen gehen – und vergiss nicht, dich bei Anna und Chris zu bedanken.«
»Bestimmt nicht.«
Als sie das Hauptportal erreichten, wurde es von Eberhard Hagedorn geöffnet. »Willkommen auf Schloss Sternberg, Baron zu Hirtenberg. Wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf: Sie sind schon sehnsüchtig erwartet worden.«
»Danke, Herr Hagedorn, es tut mir gut, das zu hören.«
Lächelnd schloss der alte Butler das Portal, während Lorenz Sofia und Friedrich begrüßte. Es kam ihm vor, als wäre er nach Hause gekommen.
*
»Jetzt sind auch Laras und Lorenz’ Eltern hier – und Uli ist gekommen, wegen Lucie«, berichtete der kleine Fürst seinen Eltern einige Tage später. »Jeden Tag stehen neue Geschichten über Michael Angern in der Zeitung – sie nennen ihn jetzt ›den deutschen Mafia-Paten‹. Für Uli ist seine Festnahme ein Riesenerfolg, ständig muss er Interviews geben. Es wird erst allmählich bekannt, was für eine große Nummer dieser Angern war. Ihr könnt euch das bestimmt gar nicht vorstellen. Na ja, Anna und ich freuen uns natürlich auch, weil wir ganz allein die richtige Spur gefunden haben.«
Er sammelte sich, bevor er seinen Gedanken-Bericht fortsetzte. »Es ist im Augenblick sehr schön auf Sternberg, weil Lara und Lorenz so glücklich sind – und Lucie und Uli sind es auch. Ihr Glück strahlt auch auf uns ab, so könnte man das vielleicht sagen. Noch schöner wäre es nur, wenn ihr auch hier wärt und es selbst erleben könntet. Aber von dort, wo ihr seid, könnt ihr es euch ja wenigstens ansehen.«
Wie eine Antwort auf seine nicht ausgesprochene Frage begann in der Nähe ein Kuckuck zu rufen. Der kleine Fürst lächelte und wandte sich zum Gehen. Seine Eltern hatten ihn gehört – das war die Hauptsache.
*
Wieder war die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt, als die Orgel zu spielen begann und die Braut am Arm ihres Vaters langsam nach vorn zum Altar schritt. Und wieder seufzten die Gäste über Laras Schönheit, und man sah die ersten Taschentücher, mit denen sich die Damen die Augen betupften.
Als die Orgelmusik verklungen war, wurde es stiller in der Kirche als sonst. Dieses war eine besondere Trauung, und das war allen Anwesenden bewusst. Und obwohl niemand mit einer Wiederholung von Lorenz’ »Nein« rechnete, ging doch ein allgemeines, hörbares Aufatmen durch das große Kirchenschiff, als er mit klarer, auch in den hinteren Bänken gut vernehmbarer Stimme auf die entscheidende Frage mit »ja« geantwortet hatte.
Anna und der kleine Fürst wechselten einen kurzen Blick. Sie hatten ja gleich gewusst, dass diese Liebesgeschichte gut ausgehen würde!
– E N D E –