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Оглавление1. Kapitel
Kurze Beine lügen nicht
Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde, die ganze Welt.
Auf der Erde war es wüst und leer.
Es herrschte Finsternis und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.
Gott rief: Es werde Licht! Da wurde es hell.
Da nannte Gott das Licht Tag und die Finsternis Nacht.
Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.
Montag
Blindlings griff sie nach dem passenden Schlüssel an dem Ring. Nicht nur ein beträchtliches Gewicht hing an dem Metallring, der mindestens die Größe eines Armreifs besaß und eine Vielzahl von Sicherheitsschlüsseln zusammenhielt. Für sie wog auch das Vertrauen, das man ihr mit diesem Ring in die Hände gelegt hatte. Damit hatte sie Zugang zu sämtlichen Arzt- und Patientenzimmern der psychosomatischen Station, auf der sie schon seit mehreren Jahren als Reinigungsfachkraft arbeitete. Hoch oben in der vierten Etage des städtischen Klinikums. Sie genoß es, von den Ärzten und Pflegekräften ausnahmslos als Reinigungskraft angesprochen zu werden. Besonders der Chefarzt, dessen Büro sie gerade aufschloss, hatte niemals in ihrem Beisein von ihr als Putzfrau gesprochen, so wie sie es bei ihrer vorigen Stelle in der evangelischen Kirchengemeinde noch manchmal erlebt hatte. Sie war froh, diese Stelle im Krankenhaus bekommen zu haben. Hatte sie doch schon gleich nach dem Schulabschluss ihre Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin begonnen. War aber sehr jung Mutter von Zwillingen geworden, während ihr Mann sich noch in der Ausbildung zum Rechtsanwaltsfachangestellten befand. Damals hatte sie die Reinigungsarbeiten im Gemeindehaus der Stadtkirche übernommen, damit die junge Familie finanziell über die Runden kam. Mit dem dritten Kind war dann die Entscheidung gegen die Wiederaufnahme ihrer Ausbildung gefallen, ohne dass sie diese bewusst getroffen hätte. Als junge Mutter war sie gerne bei ihrer Arbeit für die Kirchengemeinde geblieben. Auch deshalb, weil sie dort auf Wohlwollen und Verständnis stieß, wenn eines ihrer Kinder einmal krank war, und sie zu einem anderen Zeitpunkt ihre Arbeitsstunden nachholen konnte. Inzwischen waren ihre Kinder längst zu Hause ausgezogen. Und da sie sich - nun Mitte vierzig - noch einmal nach einem Neuanfang oder zumindest nach einer Veränderung sehnte, kam es ihr sehr entgegen, mehr arbeiten und mehr verdienen zu können. Aber nicht nur das. Es war vor allem die Atmosphäre in einem Krankenhaus, die sie schon immer fasziniert hatte. Ein großes Haus, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, liebevoll für die Schwachen und die Kranken zu sorgen, das war eindeutig der richtige Ort für sie. Und der Chefarzt, der ihrer Station vorstand, der Herr Professor Doktor Hell, war in ihren Augen der Inbegriff eines einfühlsamen Menschen. Immer wieder nahm er sich Zeit für sie, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, und interessierte sich besonders für den Werdegang ihrer Kinder. Seine kleinen Augen, die eng beieinander standen, waren dann ganz auf sie gerichtet. Dabei neigte er sich ihr freundlich entgegen. Seine kurz geschorenen Haare, die einem grauschwarzen Stoppelfeld glichen, und die eigenwillige Krümmung seiner großen Nase verliehen ihm etwas Markantes.
Sie mochte diese stille Morgenstunde, in der sie ganz allein im Bürotrakt war, der am Ende des Stationsflurs lag. In der niemand ihr im Weg war und in der ganz allein sie bestimmte, was als Nächstes passieren würde. Sie mochte es, den Dingen, die sie umgaben, nah zu sein. Sich auszumalen, welche Rolle sie für ihren Besitzer spielen könnten. Sie zu berühren, ihre Temperatur zu fühlen, mit ihren Händen Form und Oberfläche zu ertasten.
Mit dem rechten Ellenbogen streifte sie gekonnt den Lichtschalter, während sie ihren Putzwagen halb vor dem äußeren Türrahmen positionierte und ihr Schlüsselbund in die rechte Kitteltasche gleiten ließ. Die langgezogenen Lampen begannen zu summen und verteilten mit ihren Lamellen das künstliche Licht. Das Chefarztzimmer war etwas geräumiger als die anderen Arztzimmer und unterschied sich vor allem dadurch, dass es noch eine Verbindungstür gab, die in das Sekretariat des Herrn Professor führte.
Heute war Montag - Zeit, den Wandkalender abzunehmen und die vergangene Woche nach hinten zu wenden. Der großformatige Kunstkalender füllte das Weiß der Wand über den beiden Clubsesseln. Rechts von der Verbindungstür standen sie. Über Eck und zwischen ihnen ein Glastisch auf einem farbenreichen Flickenteppich, der mit seiner schneckenartigen Machart den Blick des Betrachters in sein Zentrum leitete oder ihn in Richtung Peripherie entließ. Der vordere Sessel neben der Eingangstür war augenscheinlich dem Professor vorbehalten. Ein Taschenkalender und ein jederzeit angespitzter Bleistift lagen für den Herrn Professor auf dem Glastisch bereit. Der Sessel unter dem Wandkalender war für die Patienten bestimmt. So wechselten die Gesichter vor der weißen Wand mehrfach am Tag. Das Kalenderblatt über ihnen aber blieb von Montag bis Sonntag dasselbe.
Sie nahm den Kalender von der Wand und schaute noch einmal auf das in Rottönen gehaltene Gesicht in ihren Händen. Der Sonntag, mit dem die Wochenleiste unterhalb des Bildes endete, enthielt noch den Zusatz „Volkstrauertag“.
Die Lebendigkeit des Gesichts drückte sich in seinen warmen Farben aus. So rund und leuchtend, dass darin auch das Glühen der Sonne oder das Licht des vollen Mondes hätten liegen können. Sie konnte nicht entscheiden, ob es das Gesicht einer Frau oder eines Mannes, ein junges oder altes Gesicht war. Neutrale, fast geometrische Figuren formten es. Die Augäpfel wie zwei Feuerbälle. Über dem einen Auge eine klar abgegrenzte schwarze Braue. Das einzig wirklich Dunkle an diesem Bild. Über dem anderen Auge erstreckte sich ein weiß geschminktes dreieckiges Lid. Es ließ sie kurz an einen Harlekin denken. Anstelle des Mundes zwei winzige Würfel, die sich sprachlos aneinander drängten. Nach einer Andeutung der Ohren suchte sie vergeblich. Die Asymmetrie der beiden Gesichtshälften war vereinigt im Rund eines Kreises. Zwei Gesichter in einem, dachte sie. Der schmale Hals weitete sich zu einem kleinen Podest, auf dem der Kopf ruhte. Zur Betrachtung freigegeben. So wie die Patienten vor der weißen Wand, die montags bis freitags den Professor in ihren Gesichtern lesen ließen. Dieses Gesicht schien das Wort und auch das Zuhören verweigern zu wollen. Aber trotzdem konnte sie ein Gespräch mit ihm führen.
Was erzählten die Gesichtszüge eines Menschen über ihn, was gaben sie von ihm preis? Oder sah der Professor die Formen und Farben seiner eigenen Gedanken in das Gesicht des Patienten hinein? War das Bild, das man sich von einem Gegenüber machte, nur eine Maske, die genauso gut auf ein anderes Gesicht passen würde?