Читать книгу Kurze Beine lügen nicht - Viola Schubert - Страница 7

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Sie ließ die Blätter auf den Schoß sinken, während ihre Augen sich nicht von dem letzten Satz lösen konnten. - Die Wahrheit. Eine unaussprechliche Wahrheit. Unaussprechlich - schon für einen Erwachsenen, dachte sie.

Wie sollte erst ein Kind nach Hilfe rufen, wenn es dafür keine Worte gab? Wie konnte sie überleben, diese kindliche Wahrheit - zu Eis erstarrt? -

Was für eine Wahrheit hatte wohl in der Mutter gelebt, die ihr Kind so allein gelassen hatte? Und wer kannte sie wirklich, die ganze Wahrheit? Oder gab es nur die eigene Wahrheit? Und die der Anderen war eine andere? Dann würde es mehrere, vielleicht sogar viele Wahrheiten geben?

Sie wusste es nicht. Doch etwas wusste sie. An etwas erinnerte sie sich jetzt: Als sie heute nach der Morgenschicht, den Rucksack schon auf dem Rücken, nach Hause radeln wollte, hatte sie bemerkt, dass sie ihre Strickjacke in der Stationsküche hatte liegen lassen. Daher war sie noch einmal mit dem Fahrstuhl hochgefahren. Der Chefarzt hatte gerade halb auf dem Gang gestanden, die Türklinke in der einen Hand und den Drahtbügel der aufgeklappten Lesebrille in der anderen. Er hatte seiner Sekretärin noch zugerufen: „Ach, und bitte, Frau Blaginova, denken Sie daran, der Brief an die Mutter von Herrn Thomas. Na, Sie wissen schon, unser Sänger im Rollstuhl... hab ihn gerade diktiert. Der sollte heute unbedingt mit der Mittagspost raus.“

Hatte er Sänger gesagt? Sänger im Rollstuhl? Merkwürdig - dachte sie. Ja, sie hatte in der letzten Woche einen kleinen Zusammenstoß gehabt, bei dem sich ihr Putzwagen und der Rollstuhl jenes Patienten ineinander verhakt hatten. Sie erinnerte sich noch an sein Lachen, das gleich den gesamten Flur zum Klingen gebracht hatte. Gerne hatte sie mit einer Entschuldigung darauf geantwortet. Ehe er sich geschickt aus der Verwicklung herausmanövriert hatte und in seinem Zimmer neben dem Fahrstuhl verschwunden war.

Der Sänger im Rollstuhl, war er es? War er der Erstklässler von damals? Sie versenkte sich noch einmal in die letzten Zeilen, als ob sie noch etwas finden könnte, was ihre Vermutung widerlegen würde. Da erst entdeckte sie die Initialen am Ende der Geschichte. R wie Roman und T wie Tordok. War das etwa…? Sie schaute noch einmal auf die Schrift. So klein, so bescheiden. Vielleicht gab es doch in den Schwüngen mancher Buchstaben eine Ähnlichkeit mit der Schrift auf den Notizzetteln des Professors. Sie waren gewöhnlich mit einem dickeren Filzstift beschrieben. In klaren Druckbuchstaben. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte.

Ach was, viel wichtiger war doch dieser kleine Sängerknabe. Sie konnte sich noch nicht von ihm trennen. Sah noch einmal die vagen Bilder, die seine Geschichte in ihr hatte aufsteigen lassen. Innere Bilder, vor denen sie hatte fliehen müssen, weil sie unvorstellbar waren. Und sie floh ein zweites Mal vor ihnen. Sie flüchtete sich zu den vielen Gesichtern auf den Familienfotos, die ihr von dem Sideboard entgegenblickten. Schnell fand sie das Gesicht, nach dem sie suchte. Sie griff nach einer gerahmten Fotografie. Nach ihrem Sohn, wie er mit seiner bunten Schultüte im Arm neben einer alten Eiche auf dem Gehsteig stand. Um den Baumstamm herum war ein vom Asphalt ausgesparter Kreis mit schwarzer Erde. Ihr kleiner Junge und der große Baum standen beisammen. Im Hintergrund ein tiefblauer Himmel, einige weiße Wolken. Die Füße ihres Jungen ein wenig nach innen gedreht. Ein schüchternes Lächeln auf dem Gesicht. Viele Jahre war das her. Inzwischen war aus ihm ein fröhlicher junger Mann geworden. Vor einigen Jahren war er ausgezogen, um zu studieren. Jener Patient im Rollstuhl mochte im gleichen Alter sein wie er. Vielleicht war er sogar in demselben Jahr eingeschult worden?

Sie blickte lange auf das Foto - in die Augen ihres Jungen. Suchte in seinen zarten Gesichtszügen. Verfolgte den Ausdruck seiner Haltung von Kopf bis Fuß. Dann drehte sie langsam das Bild. Um jede Perspektive zu studieren. Um jeden Blickwinkel einzunehmen. Als sie auf diese Weise das Bild um 180 Grad gedreht hatte, erschrak sie:

Ihr Junge. Den Kopf im tiefblauen Wasser. Das Lächeln ertrunken. Weiße Schaumkronen schwebten geisterhaft auf dem Wasser. Grünbraune Wasserschlangen wanden sich unter ihm. Seine kleinen, dünnen Erstklässlerbeine formten ein „V“. Darüber die drohend schwarze Finsternis, die er ab heute tragen, stemmen, halten - hochhalten sollte. Nur eine stand ihm bei. Der kräftige Stamm der ehrwürdigen Eiche, die schon um 300 Jahre alt war. Den Himmel aber gab es nicht mehr.

Es bedurfte nur einer kleinen Handbewegung. Sie könnte das Foto wieder umdrehen. Als sie es aber getan hatte, trat nicht die erwartete Erleichterung ein, sondern etwas von der Finsternis blieb in ihr. Und sie fing an, darüber nachzudenken, ob sie die Geschichte, die immer noch auf ihrem Schoß lag, aufbewahren oder vernichten sollte.

Kurze Beine lügen nicht

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