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Senecio - Paul Klee - 1922

Der Name Paul Klee ließ inzwischen einige Bilder vor ihrem inneren Auge entstehen. Denn es waren schon die meisten Wochen des Jahres vergangen. Und mit jeder Woche gab es ein neues Kleeblatt, wie sie es inzwischen scherzhaft zu sich selber zu sagen pflegte.

Senecio? Senecio? Darüber hatte sie mal etwas in ihrer Gartenzeitschrift gelesen. War es nicht das Greiskraut, das sie auch als Unkraut aus ihrem eigenen Garten kannte? Sogar giftig sollte es sein. Die kleinen Früchte hatten tatsächlich etwas von einem Greis - mit ihren schlohweißen Haarkronen. Aber dieses Gesicht auf dem Kalender hatte für sie gar nichts Greisenhaftes.

Wie dem auch sei. Sie klappte das Bild mit dem vieldeutigen Gesicht nach hinten und hängte den Kalender wieder an seinen Platz. Nahm den Glasreiniger von ihrem Putzwagen und besprühte die Glasplatte des niedrigen Tisches zwischen den beiden Clubsesseln. Anschließend wischte sie mit einem weichen Tuch darüber, bis sich in der glänzenden Oberfläche das Kalenderbild der angebrochenen Woche zu spiegeln begann. Sie drehte ihren Kopf noch einmal zu dem neuen Bild. Sie würde es sich gut einprägen. Hatte sie doch die Erfahrung gemacht, dass an jedem der sieben Tage ein anderes Licht darauf fallen würde.

Mit neuem Schwung wandte sie sich der großzügigen Arbeitsfläche des Schreibtisches zu, auf der sie nur wenig verrücken musste, um sie säubern zu können. Geleitet von der geometrischen Sichtweise Paul Klees, wanderten ihre Augen den Raum ab, während ihre Hände weiter ihren Montags-Verrichtungen folgten. Wie eckige Münder erschienen ihr heute die Fächer des Regals, das die ganze Wand hinter dem Schreibtisch ausfüllte und bis an die Decke reichte. Vollgestopft und immer noch wissensdurstig. Als ob es nicht genug bekommen konnte von diesen weißblauen medizinischen Fachbüchern, die sie auch aus den anderen Arztzimmern kannte.

Fast auf Fußhöhe aber gab es ein Fach, das mit gänzlich anderen Büchern bestückt war. Kaum einsehbar. Davor stand kein typischer Chefsessel, die übliche drehbare Kombination aus Chromgestänge und Kunstleder. Vielmehr verdeckte ein antiker Armlehnstuhl aus dunklem Holz die Sicht auf diesen Teil des Regals. Wohl ein Erbstück des Herrn Professor. Das braune Leder des Sitzpolsters war wie eine alte, spröde Haut, auf der sich die Altersflecken versammelt hatten. Gegerbt von Schweiß und Säuernis. Von den Vorvätern, die diesen Stuhl wortwörtlich besessen hatten, um zu formulieren, zu redigieren und zu korrigieren. Um zu kalkulieren, zu investieren und zu spekulieren. Um zu skizzieren, zu diktieren und zu fabulieren.

Das schmale Fach hinter diesem geschichtsträchtigen Stuhl mutete fast wie ein kleines Versteck an. Zumindest wie etwas, das aus dem Rahmen fiel, aber nicht auffallen sollte. Es lagerten dort etwa 15 bis 20 quer gestapelte Bücher. Sie hatte den Eindruck, dass mit den Jahren mehr und mehr hinzukamen. Sie hatte die Andersartigkeit dieser Bücher zum ersten Mal wahrgenommen, als sie einmal beim Staubwischen an einen der Buchrücken gestoßen war, der ein wenig herausragte. Daraufhin war der kleine Bücherturm aus dem Bord gerutscht und hatte sich wie eine Ziehharmonika vor ihr auf dem Teppichboden aufgefächert:

Jedes der schmalen Bändchen besaß die gleiche Aufmachung: Buchdeckel und Buchrücken waren in anthrazitfarbenes Leinen gebunden. Davon setzte sich der mattgolden eingefärbte Buchschnitt ab, was den Büchern etwas Unberührbares, geradezu Sakrales gab. Dazu der erhabene Schriftzug auf dem vorderen Buchdeckel, mit hellem Grau nachgezeichnet. Auch ein Blinder hätte nicht nur den jeweiligen Titel, sondern auch den Namen des Verfassers ertasten können: Roman Tordok. Alle Bücher von ein und demselben Autor. Es klang nach einem östlichen Namen. Aber heutzutage konnte man gar nicht mehr sagen, woher jemand stammte. Auch auf dem Stationsflur begegnete sie mit den Jahren immer mehr fremdländisch aussehenden Menschen. Weder wegen dieser Patienten noch wegen der andersartigen Bücher hätte sie den Professor anzusprechen gewagt. Das Fragenstellen war sein Part in ihrer eingespielten Kommunikation. Aber offensichtlich mochte der Chefarzt diesen Autor sehr, dessen Initialen am unteren Ende des Buchrückens noch einmal wie ein Siegel platziert waren.

Nachdem sie alle Flächen im Zimmer vom Staub der letzten Woche befreit hatte, griff sie nach dem Papierkorb, um ihn in den aufgespannten Müllsack an ihrem Putzwagen zu leeren. Etwas steckte im Papierkorb fest. Sie griff mit der freien Hand danach und zog daran. Ein Stapel Papiere kam zum Vorschein. Kopien eines in Handschrift niedergeschriebenen Textes. Die Schrift im blassen Anthrazit eines fein gespitzten Bleistiftes. Sie las die Überschrift.

Kurze Beine lügen nicht

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