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Kurze Beine lügen nicht

Eine merkwürdige Verdrehung der Tatsachen, dachte sie. Was konnte damit gemeint sein? Sie stellte den Papierkorb neben dem Putzwagen ab, lehnte sich an den Türrahmen und begann zu lesen. Sie war schon fast bis zur dritten Seite angelangt. Da hörte sie das erste Klacken des automatischen Türöffners am Ende des Stationsflurs, dann das Summen und das zweite Klacken. Sie vernahm entschiedene Schritte, die sich näherten. Die Sekretärin, die manchmal früher kam, konnte es nicht sein. Schon fühlte sie sich ertappt. Obwohl sie am Klang der Schritte ziemlich gut hätte abschätzen können, dass noch genügend Zeit dafür geblieben wäre, die Blätter im Müll zu entsorgen, ohne dass derjenige, dessen Schritte immer lauter wurden, hätte erkennen können, was sie zu lange in ihren Händen gehalten hatte. Sie faltete die Papiere notdürftig zusammen, damit sie Platz in ihrer Kitteltasche fanden, und ließ sie darin verschwinden. Sie wusste selbst nicht, warum sie so handelte. Warum sie gerade heute etwas tat, was sie sich eher von anderen, aber nicht von sich selbst hatte vorstellen können.

Die Schritte kamen näher und schon stand der Professor vor ihrem Putzwagen: „Ach, Frau Baselitz, guten Morgen! Immer so früh auf den Beinen. Was würde ich nur ohne Sie anfangen!? Ich bin heute etwas früher dran. Weil - ich muss noch etwas Dringendes schreiben. Lassen Sie es gut sein für heute. Und machen Sie einfach ein bisschen eher Schluss mit ihrer Morgenschicht - das haben Sie sich verdient.“

Sie dachte nur an die Röte, die ihr möglicherweise ins Gesicht gestiegen war. Mit einem halben Lächeln auf den Lippen und einem kurzen Nicken griff sie nach ihrem Putzwagen und rollte ihn beiseite, um dem Chefarzt den Weg frei zu machen. „Tschüss, bis morgen“, rief er ihr noch zu, ehe er die Tür hinter sich zuzog. „Tschüss, Herr Professor“, erwiderte sie. Dabei klang ihre Stimme weitaus höher als sonst. Sie stemmte sich hinter ihren Putzwagen, als ob sie ein schweres Hindernis überwinden müsste. Aber der Wagen ließ sich nicht so leise und zügig rollen, wie sie es sich wünschte. Sie war erleichtert, sich im Keller des Krankenhauses endlich von diesem sperrigen Teil trennen zu können.

Kaum war sie bei ihrem Spind angelangt, um aus dem blauen Kittel in ihren Mantel zu wechseln, blickte sie sich kurz um, zog dann die Papiere vorsichtig aus der Kitteltasche, strich sie glatt und ließ sie in das verstärkte Rückenfach ihres Rucksacks gleiten.

Die Unruhe im Gepäck - so kam sie nach ihrer Frühschicht zuhause an. Sie konnte kaum entscheiden, was mehr auf ihren Schultern wog: Ihr Gefühl, knapp einer peinlichen Situation entkommen zu sein, für die sie so schnell keine Erklärung hätte finden können, vielleicht sogar auch gar keine hätte abgeben müssen? Oder überwog das Unfassbare, das sich schon zu Beginn dieser Geschichte andeutete.

Sie machte es sich im Wohnzimmer bequem. Zog ihre Hausschuhe aus und kuschelte sich in den Ohrensessel, wobei sie ihre Beine anwinkelte und die Füße unter ihrem Gesäß wärmte. Den weichen Samt des Bezugs zu spüren, das brauchte sie jetzt, um weiterlesen zu können. An die Armlehne des Sessels grenzte ein Sideboard. Darauf stellte ihr Mann für sie jeden Morgen ein kleines Tablett bereit, bevor er ins Büro aufbrach. Die dünnwandige Teetasse und die zarte Untertasse bildeten ein fein aufeinander abgestimmten Paar. Darum gruppierten sich als kleines Ensemble der filigrane Teelöffel, das Milchkännchen und die Zuckerdose. Daneben die bauchige Kanne, von der sie jetzt die wattierte Mütze abnahm. Sie hielt die Tülle so lange in Schräglage, bis sie an dem Plätschern des Tees hören konnte, dass die Tasse bis zum Rand gefüllt war. Die Kanne verschwand wieder unter der Mütze. Der Zucker rieselte vom Löffel hinab in den dampfenden Tee. Nun tauchte sie ihn ein. Und jedes Mal, wenn sie umrührte, klingelte die Tasse. Danach noch der kleine Schuss Milch, die sich langsam mit dem Tee vermischte und den aufsteigenden Dampf beruhigte. Schon bevor sie die Tasse zum Mund geführt hatte, lag der Geschmack des Tees auf ihrer Zunge.

Es war nicht nur die Ruhe in ihren Handbewegungen, nicht nur die wohlmeinende Geste ihres Mannes, die zu diesem Zeremoniell gehörten. Es waren auch die gerahmten Familienfotos, die wie ein Bilderwald den größten Raum auf dem Sideboard einnahmen und neben die ihr Mann das Tablett zu platzieren pflegte. All dies zusammen schenkte ihr ein Gefühl von Geborgensein.

Nach dem ersten Schluck Tee, der so heiß war, dass sie ihn nur schlürfen konnte, nahm sie die handschriftliche Geschichte wieder zur Hand: Ganz andere Sätze waren das. Ganz anders als jene auf den Papieren, die manchmal aus den Aktenmappen des Herrn Professor hervorlugten oder die zuoberst in der Ablage auf seinem Schreibtisch lagen. Überhaupt kein holpriges Amtsdeutsch. Und auch keine endlosen Ketten von medizinischen Fachwörtern. Sie begann noch einmal von vorne:

Kurze Beine lügen nicht

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