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Menschenverständnis

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Um seinen diagnostischen und therapeutischen Blick für den Menschen zu schulen, muss der Arzt sein Erkennen methodisch erweitern. Er kann nicht bei dem stehenbleiben, was ihn die universitäre Medizin lehrt. Deren Methode ist eine analytisch-beweisende, die misst, zählt und wägt, die Objektivierbarkeit anstrebt und alles Subjektive ausschließen will. Dabei bemerkt sie nicht, wie sehr sie den Menschen zu einem Objekt macht. Und sie nimmt ihn immer weniger direkt mit den menschlich zur Verfügung stehenden Sinnesorganen wahr, sondern delegiert das Wahrnehmen an Apparate, deren Mitteilungen sie als Ergebnisse registriert und vor allem interpretiert. Womit die scheinbar reine Objektivität oft schon verlassen wird und sich die Subjektivität des Interpretierenden einmischt. Es gibt viele Untersuchungen, wonach ein objektiver Befund von verschiedenen Ärzten unterschiedlich bewertet wird. Auch scheint die jeweilige Befindlichkeit und Gestimmtheit des Beurteilenden die Interpretation der Ergebnisse zu beeinflussen. In meinem Spezialgebiet etwa, der Gastroenterologie, kamen verschiedene Spezialisten bei der Beurteilung eines gastroenterologischen Befundes am gleichen Patienten nur zu einer Übereinstimmung von maximal 80 Prozent, oft lag die Übereinstimmung aber niedriger. Auch das durchaus objektiv gemessene und aufgezeichnete Elektrokardiogramm (EKG) kann bis heute nicht rein maschinell bewertet werden, stets ist es der Arzt, der das Ergebnis interpretiert. Dennoch sind diese diagnostischen Maßnahmen nicht falsch oder gar überflüssig, doch sind sie einseitig und unvollständig zum Verständnis eines konkreten Menschen.

Einen ergänzenden Schritt habe ich die anschauend-vergleichende Methode genannt. Sie erfasst vor allem alle Lebensvorgänge und die mit ihnen verbundene Funktionalität. Ein einfaches Beispiel hierfür sei der Unterschied des einmalig bestimmten Nüchtern-Blutzuckers im Verhältnis zum Blutzucker-Tagesprofil. Noch aussagekräftiger jedoch ist ein Glukose-Belastungs-Test. Ähnlich sehe ich das Verhältnis vom Einzelwert des Kreatinins zur Kreatinin-Clearance. Die noch außerhalb des Menschen messbaren Vergleiche müssen jedoch gesteigert werden zu einer unmittelbaren Anschauung des anderen Menschen. Früher nannte man das auch den klinischen Blick, und es gab Lehrvisiten oder auch Atlanten, die einen lehrten, die Veränderungen in der unmittelbaren Anschauung des erkrankten Menschen gegenüber dem gesunden aufzufassen. Ich will hier nicht in Einzelheiten gehen, doch ist es für mich eindeutig, dass der geschulte Arzt Wesentliches am Patienten exakter wahrnimmt als jeder Apparat. Das war im Übrigen vor 50 Jahren auch gemeinsame Überzeugung erfahrener Ärzte. Nach Einführung der Ultraschalldiagnostik in der Gastroenterologie fragte ich den damals mit dieser Methode erfahrenen Prof. Rettenmaier von der Universität Erlangen, wie hoch er denn selber den Anteil der Aussagekraft seiner Befundung in der eigenen klinischen Erfahrung sähe? Er lächelte und antwortete: „Mehr als 90 Prozent“!

Wir bleiben der naturwissenschaftlichen Methode treu, sinnlich Erfahrbares über die geschulte Beobachtung wahrzunehmen. Doch macht das so Wahrgenommene etwas mit mir als Wahrnehmenden, das über die einfache Registrierung oder Interpretation hinausgeht. Ich bemerke an mir, wie in mir Gefühle, z.B. der Empathie, des Mitfühlens oder auch des Mitleids geweckt werden, und damit unmittelbar verbunden der aufkommende Wille, hier helfend eingreifen zu wollen. Diesen Impuls nannte Steiner den Heilwillen.

Und ich gehe noch einen methodischen Schritt des Erkennens weiter. Ich trete dem Patienten physiognomisch-beschreibend gegenüber. Hier nun verbleibe ich nicht mehr nur in reiner Sinneswahrnehmung, sondern hier greift meine Intuitionsfähigkeit ein, die mich Wirklichkeiten erkennen lässt, die über das hinausgehen, was meine Augen unmittelbar sehen, meine Ohren hören oder mein Geruchssinn riecht. So wurde mir auch verstehbar, was in den Evangelien angesprochen wird, wenn es heißt „Wer Ohren hat zu hören, der höre“ oder auch „Wer Augen hat zu sehen, der sehe“. Ich kann auch das Bild nehmen, sozusagen zwischen den Zeilen zu lesen oder in einer Anamnese das vom Patienten Nichtgesagte zu hören. Intuition ist ein vielfach und unterschiedlich gebrauchter Begriff. Für mich wurde Intuition die erlebte Fähigkeit, innerlich etwas wahrzunehmen oder aufzufassen, was äußerlich nicht in Erscheinung tritt. Diese Intuitionsfähigkeit erfasst grundsätzlich Ganzheiten, sie ist nicht aufs Detail gerichtet. Ich kann sie lernen bzw. schulen, vor allem durch sorgfältige Beobachtung und die daraus gewonnene Erfahrung und ständige Wiederholung (Reproduktion) beider. Steiners Untertitel seiner „Philosophie der Freiheit“ wurde mir dafür Leitbild: „Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode“. In der Intuition erlebe ich den Unterschied von Abstraktion und Anschauung, und ich war immer wieder fasziniert, welche Sicherheit mir eine intuitiv gefasste Wahrnehmung oder auch Diagnose gab.

Ein Beispiel hierfür soll eine charakteristische Krankengeschichte eingefügt werden. Ein gut 60-jähriger Mann wurde auf Intervention seines väterlichen Freundes, der mein Patient war, aus einer anderen Klinik in unser Krankenhaus und die von mir geführte Innere Abteilung verlegt. Er war schwer krank, tendenziell kachektisch (unterernährt), vor allem physisch kraftlos. Alle bisherigen Versuche der körperlichen Erkräftigung vor allem mit Infusionen waren erfolglos geblieben. Wir fanden schnell heraus, dass ein großer Nebennierentumor und zahlreiche Rundherde in beiden Lungen existierten. Was den intuitiven Menschen in mir aber geradezu ansprang, war die unglaubliche Finsternis, die von diesem Menschen abstrahlte. Das war umso auffälliger, als er ein warmherziger, sensibler, für mich sehr liebenswerter Mensch war. Aus meinem Verständnis war diese Ausstrahlung von Finsternis ein unmittelbarer Hinweis auf eine Tuberkulose.12 Nun war der Patient Jurist und Vorstandsmitglied eines Großunternehmens. Ich konsultierte deshalb auch zu meiner Kontrolle einen der besten Hamburger Lungenfachärzte und teilte ihm meine Vermutungsdiagnose mit. Er untersuchte den Patienten gründlich einschließlich Bronchoskopie und Gewebsproben. Er war sicher, dass es sich um einen Nebennierenkrebs mit Lungenmetastasen handelte und schlug eine entsprechende Therapie mit Operation und Zytostatika vor. Er blieb auch bei seiner Diagnose, als sich in den Gewebs proben kein Krebs zeigte, was nach einigen Tagen feststand. Ich hatte mittlerweile mit dem Patienten gesprochen und ihm beide Diagnosen mitgeteilt und auch mein Dilemma gesagt, dass ich intuitiv sicher sei, dass es eine Tuberkulose sei und ich ihm den dafür notwendigen Weg der Therapie führen könnte, der Spezialist allerdings von Krebs ausging. Was von außen geschaut auch viel wahrscheinlicher war, denn Tuberkulose war zu der Zeit bei uns äußerst selten, Krebs dagegen häufig. Der Patient allerdings vertraute mir und meiner Diagnose und wir machten uns auf den therapeutischen Weg. Und die rasch folgende Besserung seines Befindens gab uns recht, mehr noch die nach etwa sechs Wochen folgende Nachricht, dass in einem durch den Lungenfacharzt sicherheitshalber angesetzten Tierversuch tatsächlich Tuberkelbakterien nachgewiesen wurden. Der Patient wurde gesund bis auf eine Einschränkung der Nebennierenfunktion, hier mussten wir in geringer Dosierung Hormone substituieren. Wir konnten die Therapie ganz auf eine Konzeption der anthroposophischen Medizin aufbauen und brauchten dazu keine chemisch-definierten Tuberkulostatika.

Finsternis und Licht sind Elemente des ersten Tages der Schöpfung (Mos.1,1). Sie waren eins, ehe Gott das Licht von der Finsternis trennte und selbstständig machte. Seither bilden Licht und Finsternis eine Polarität. Letztere bewirkt alle Schwere, auch die Schwerkraft der Physik ist Ausdruck der Finsterniskraft. Das Licht dagegen bewirkt „Leichte“, es führt in die Weite, während die Finsternis alles verdichtet und auf einen Mittelpunkt zuführt.

Da es sich um Kraftwirkungen handelt, können wir auch von peripherisierenden und zentralisierenden Kräften sprechen. Beide wirken auch in uns, die Schwere mehr im Körper, die Leichte mehr in der Seele. Wir brauchen beides. Diese geistigen Wirkkräfte innerlich zu erfahren und zur Anschauung zu bringen, braucht meditative Schulung und fördert die Befähigung zur Intuition. Steiner hat einen berufsspezifischen Meditationstext vermittelt, in welchem die Schweremacht des Körpers und die Leichtekraft der Seele in ihren harmonischgöttlichen Zusammenhang gestellt werden. Sie müssen sich im Menschen begegnen, dürfen sich aber nicht verbinden oder durchmischen („ergreifen und durchdringen“ heißt es im Text). Tun sie es, entsteht Krankheit.13 Überwältigt die Finsternis das Licht, bildet sich das Milieu für die Tuberkulose oder auch die Depression.14 Das Bild des Arztes kann auch sein, dass die Gesetzmäßigkeit des Körpers die der Seele überwältigt. Der Leser kann erahnen, welche therapeutische Intuitionen durch diese Bilder in uns entstehen können, das Licht zu intensivieren, die Seele zu befreien, ein ganz anderes inneres Erlebnis jedenfalls als die leitliniengerechte Verordnung von Tuberkulostatika oder Antidepressiva. Was wiederum erfordert, auch die Besonderheiten der Erdenstoffe zu studieren und zur inneren Anschauung zu bringen, z.B. Phosphorus als Lichtträger, Magnesium als metallgebundenes, hellstes Licht. Hier verstehen wir Paracelsus in seinem Anruf, der Arzt müsse „durch der Natur Examen gehen“.

Auch die Erde wurde durch das Geschehen von Golgatha und Ostern mit der Christuskraft durchdrungen, sowohl mit Leib und Blut als auch durch das Eindringen bis zum Erdmittelpunkt in der sogenannten Höllenfahrt am Karsamstag. Darüber werde ich später in einem eigenen Kapitel schreiben, denn das Verständnis der Arznei aus Natursubstanzen braucht ebenso die Durchchristung wie das Verständnis vom Menschen und seiner vielgegliederten Ganzheit in Leib, Seele und Geist.

Menschenverständnis, wie es hier als Anteil einer christlichen oder eben durchchristeten Medizin gemeint ist, braucht die geschulte Wahrnehmung durch alle Sinne, deren Zwölfheit Rudolf Steiner ausarbeitete, braucht Exaktheit im Beobachten, Vorurteilslosigkeit im Begriffebilden, geduldiges Wiederholen immer gleicher Erkenntnisbemühungen und Selbstlosigkeit gegenüber dem anderen Menschen bzw. der Natur. Diese soll sich ihm aussprechen, nicht ich soll sie aus dem Eigenen beurteilen oder gar interpretieren. So kann man Steiner verstehen, der die Medizin eine großartige Erziehung zur Selbstlosigkeit nannte, was doch mit Blick auf unsere Gegen wart geradezu als paradox oder sogar widerlegt erscheint. Doch ist die von Steiner gemeinte Selbstlosigkeit unverzichtbare Voraussetzung einer christlichen Medizin, oder wie Paulus es aussprach „Nicht Ich, der Christus in mir“ (Galater 2,20) oder – wie ich es sehe, statt „in mir“ – „in meinem Ich“, das ja auch mein Selbst beschreibt. Sehen mit Christi Augen, hören mit Christi Herz bzw. Ohren setzt Selbstlosigkeit voraus (siehe Kapitel 10).

Die Wiedergewinnung des Heilens

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