Читать книгу Die Wiedergewinnung des Heilens - Volker Fintelmann - Страница 8
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Was ist mit „christlicher Medizin“ gemeint?
ОглавлениеDas für dieses Buch gewählte Motto ist ein Meditationstext aus dem Kurs zur Pastoralmedizin1, den Rudolf Steiner im Herbst 1924 in Dornach für Ärzte und Priester der noch jungen Bewegung zur Erneuerung einer christlich-sakramen talen Religion, der „Christengemeinschaft“ hielt. Die Ärzte wiederum waren Mitglieder der auch gerade erst begründeten Medizinischen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum in Dornach. Die Texte der neun Vorträge wurden lange Jahre nur auf Anfrage persönlich übergeben, ehe sie im Rahmen der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) der Öffentlichkeit zugänglich wurden. Dieser Pastoralmedizinische Kurs (GA 318), wie er in Kurzform genannt wird, war Steiners Grundlegung für eine zukünftige Medizin, deren Grundkomponenten er mit den Begriffen „spiritualisiert“ und „durchchristet“ bezeichnete. Trotz Anerkennung einer zu dieser Zeit neu gefassten, ganz auf die modernen Naturwissenschaften gestützten Medizin, die alles sinnlich Beobachtbare zum ausschließlichen Gegenstand ihrer Wissenschaftsmethodik machte, sah Steiner die unverzichtbare Notwendigkeit einer Ergänzung durch eine Geisteswissenschaft, die er „Anthroposophie“ nannte. Deren Hauptanliegen ist die bewusste Verbindung des Geistigen im Menschen mit dem Geistigen im Weltall. Anthroposophie kann so auch als Wissenschaft des Unsichtbaren in Ergänzung der Wissenschaften einer sinnlich-erfassbaren, „sichtbaren“ Welt bezeichnet werden, die wir gemeinhin Naturwissenschaften nennen. Dieser auch von mir erlebten gedanklichen Verbindung von dualen Erkenntniswegen bzw. -methoden, das Miteinander von Stoff und Geist oder – wie es im vorangestellten Meditationstext heißt – „Erdenmensch und Geistesmensch“ begegnete ich in einem Vortrag des schon hochbetagten Thure von Uexküll im Ärztlichen Verein der Ärztekammer Hamburg in dessen Worten: „Die Medizin hat im 20. Jahrhundert den Geist aus sich herausgetrieben. Und es wird höchste Zeit, dass sie ihn wieder hereinbittet“.2
In dem umfangreichen Werk Rudolf Steiners bin ich einer Christologie oder auch Christosophie begegnet, die mir immer deutlicher verstehbar machte, was ich in mir als „christlich“ erlebte, das mich jedoch in große Schwierigkeiten mit den verschiedenen christlichen Konfessionen brachte. Mein zunächst kindlich-jugendlich erlebtes Christsein fand keinen Widerhall im Protestantismus, in den ich durch meine Eltern hineingeboren wurde und in dessen Rahmen ich auch in der Dahlemer Dorfkirche in Berlin christlich getauft wurde. Schon im Vorkonfirmandenunterricht rieb ich mich an der weitgehend gedanklich vermittelten Hinführung zur göttlichen Trinität, am Katechismus, an der Mittelpunktorientierung auf die Kreuzigung und das Karfreitagsgeschehen hin und an dem Mangel, Ostern und die Auferstehung als das Zentralereignis real zu erfassen. Stattdessen wurden gerade durch einige Berliner Theologen die Evangelien entmythologisiert, es wurde das Bild vom einfachen Menschen Jesus von Nazareth gezeichnet und die göttliche Einwohnung in diesem durch Christus mit der Jordantaufe wie an den Rand gedrängt.
Noch schwerer hatte ich es mit dem Katholizismus, insbesondere mit dem dort gelebten Dogmatismus, der grauenvollen Geschichte der Christianisierung heidnischer Völker und der Inquisition. Dostojewskis Geschichte vom Großinquisitor, eingefügt in sein Monumentalwerk „Die Brüder Karamasow“, bestätigte mich in meiner inneren Distanz, auch, was ich als Flüchtling im Sudetenland an meinen überwiegend katholischen Klassenkameraden erlebte, die mich zum Beispiel baten, ihnen zu helfen, für die allfälligen Beichten Ideen zu entwickeln, die sie dem Beichtvater vortragen könnten. Und von beiden Konfessionen entfernte mich das Erleben der ihnen gemeinsamen, mächtigen Intoleranz sowohl untereinander als auch gegenüber Nichtchristen und Andersdenkenden, ebenso wie ihre Toleranz gegenüber dem Nationalsozialismus oder auch anderen Diktaturen. Die Diskriminierung der Frau in der Katholischen Kirche, der Einfluss der Psychoanalyse in der Protestantischen, die Glaubenskriege – alle diese Elemente erlebte ich als Kontrast zu dem, was in mir als Empfindung eines Christentums lebte, für das Toleranz, Mitgefühl (Empathie), der Blick auf meinen Nächsten und seine Bedürfnisse, vor allem jedoch Wahrheitssuche und Freiheit so entscheidende Elemente bilden, dass ihr Fehlen oder Negieren mich denken ließ: „Ohne sie kein Christentum“!
In der modernen Medizin, der ich zunächst im Studium und dann in den Lehrjahren des Arztberufes täglich begegnete und deren Teil ich zunehmend wurde, begegneten mir viele der Verhaltensweisen und Auffassungen, die ich eben mit Blick auf die christlichen Konfessionen schilderte:
– die Dogmatik einer Wissenschaft, in der nur akzeptiert wurde und wird, was sie zu denken oder praktizieren erlaubt („wissenschaftlich anerkannt“);
– die Aussonderung anderer medizinischer Systeme, die oft getragen sind von jahrhunderte-, ja jahrtausende alten Traditionen und als Alternative oder Glaubensmedizin, ja zum Teil auch als Paramedizin diskriminiert wurden;
– eine immer analytischere Auffassung vom Menschen als Zusammensetzung unglaublich vieler Teile, also ein Puzzle bild statt eines Gemäldes seiner Ganzheit;
– der immer deutlichere Verlust verbindlicher Ethik, beispielhaft gekennzeichnet am Ablegen des „Nil nocere“, dieser wesentlichen Aussage im Eid des Hippokrates, der einmal für den Arztberuf verbindlich war: „Du darfst deinen Patienten keinen Schaden zufügen“.
Dazu zählt auch die immer sichtbarere Haltung, an der Krankheit eines Menschen so viel als möglich zu verdienen, die Medizin also als Markt (miss-) zu verstehen; und schließlich auch die immer größere Distanz des Arztes zum Kranken, sein Verdrängtwerden durch Apparate. Das alles erlebte ich als ein zunehmendes Erkalten und ein ungeheures Missverständnis meiner Wahl des Arztberufes.
Ivan Illich, Jesuitenpater und Soziologe, hat die oben genannten Elemente einer aus seiner Sicht zur Kirche gewordenen medizinischen Wissenschaft mit größter gedanklicher Schärfe und zum Teil beißender Kritik in seinem Buch „Die Enteignung der Gesundheit“ ausführlich dargestellt.3
Ich schreibe das alles, um deutlich zu machen, was in mir im Gegensatz dazu durch Steiners Forderung einer „Durchchristung der Medizin“ angeregt und belebt wurde – und um anzudeuten, was ich mit „christlicher Medizin“ meine. Es geht mir dabei gerade nicht um eine konfessionelle Medizin, sondern um eine durch und durch freiheitliche, in der die Einzigartigkeit jedes Menschen erfahren und zum Ausgangspunkt allen Handelns gemacht wird. Eine weitere Aussage Steiners, wonach „Christus unabhängig von konfessionellen Religionen für alle Menschen gekommen ist“ wurde mir Leitbild: ER hat helfend in die Evolution der Menschheit eingewirkt, sie neu belebend und mit dem Freiheitsimpuls verbindend. Es ging ihm nicht um die Stiftung einer neuen Religion – das haben Menschen aus seinem Wirken gemacht – es ging ihm um das Heil der Menschen in ihrer Begegnung mit dem Göttlichen und den Gegenkräften, auch das Böse genannt (Steiner sprach auch von Widersachern). Christus begründete ein Menschenbild, indem er sich selber zum Bild des Menschen machte. Pontius Pilatus hat das in seinem „Ecce homo“ wahrgenommen, kaum vollbewusst, eher ahnend-intuitiv. Christliche Medizin beginnt daher aus meiner Sicht mit dem Schaffen eines Menschenbildes, das die Gliederung in Leib, Seele und Geist neu entdeckt, differenziert beschreibt und zugleich die göttliche Schöpfung in ihm erlebt.
Der erste Schritt ist somit ein Erkenntnisakt. Steiner nannte das in Vorträgen über „Die Geheimnisse der menschlichen Organisation“ „Menschenverständnis“. Christliche Medizin begründet jedoch auch eine ethisch-moralische Handlungswelt. Diese nannte Steiner an gleicher Stelle „Menschenliebe“. „Es gilt als die eigentliche Quelle des Moralisch-Geistigen in der Menschheit nur dasjenige, was man Menschenverständnis nennen kann, gegenseitiges Menschenverständnis, und die auf dieses Verständnis der Menschen gebaute Menschenliebe.“4
Achtmal habe ich zusammen mit meinem Freund Johannes Lenz, Pfarrer der Christengemeinschaft, ein dreitägiges Seminar „Wege zu einer Christlichen Medizin“ kontinuierlich Jahr für Jahr in der Carl Gustav Carus Akademie Hamburg durchgeführt. Die dort vorgetragenen Inhalte und das in Gesprächen aller Teilnehmer erlebte Verbindende bilden die Grundlage dieses Buchs. Es ist ein sehr bewusst persönlich gehaltenes Buch, es birgt die Essenzen meines eigenen Weges als Arzt, wo ich immer im Austausch mit Pfarrern oder Priestern stand, also ganz im Sinne von Steiners Pastoralmedizin. Es möchte den Leser Fragen erleben lassen, die vielleicht auch in ihm existieren, bewusst oder noch unbewusst. Es möchte Denkanstöße statt fertiger Antworten vermitteln und es möchte Wege aufzeigen, auf welchen die Medizin den Menschen in seiner Ganzheit wiederfindet, den sie methodisch durch ihr zergliederndes Denken aus dem Blick verloren hat. Und es möchte vor allem auch wieder eine Perspektive des Heilens eröffnen, das der modernen Medizin ebenso wie die Ganzheit Mensch verlorenging. Der Kardiologe Bernard Lown, der die Klassifikation der Herzrhythmusstörungen schuf und die Elektrostimulation des Herzens (Kardioversion) entwickelte, hat diesen Aspekt in seinem Buch „Die verlorene Kunst des Heilens“5 ausführlich und auch sehr persönlich beschrieben. Denn Heilen ist mehr und auch etwas anderes als Gesundmachen. Eine Orientierung sollen dafür die Heilungsgeschichten der Evangelien geben, verbunden mit dem Blick auf die Entwicklungsgeschichte, in welcher die Menschen das Heilsein verloren haben.
Christliche Medizin ist also eine begriffliche Benennung eines Wegs, der die Medizin und vor allem alle in ihr beruflich Tätigen aus der Sackgasse führen möchte, in die sie durch die einseitige Festlegung auf eine rein naturwissenschaftliche, „objektivierende“ Wissenschaft geraten sind. Das wird natürlich auch große Konsequenzen für alle Menschen haben, die sich der Medizin anvertrauen oder oft auch ausliefern müssen, für jene Menschen, die wir im Allgemeinen „unsere Patienten“ nennen. Deshalb hoffe ich, dass dieses Buch auch von letzteren gelesen wird. Denn meine Hoffnung auf eine veränderte, „menschengerechtere“ Medizin ruht darauf, dass sie aus den Forderungen der Patienten entsteht. Es ist in der gegenwärtigen Zeit schwer vorstellbar, dass sich das festgefahrene System der Medizin aus sich heraus metamorphosiert. Zu stark scheinen mir die selbstangelegten Fesseln, als dass nicht Hilfe von außen kommen müsste, um sie zu lösen. Zu schwach sind auch Einsicht und Wille der Ärzte, im Blick auf die Bedürfnisse ihrer Patienten etwas zu ändern. Wenn die Ärzte rebellierten, was selten genug geschah, dann eigentlich immer nur, wenn es um die Neufassung ihrer Gebührenordnung und eine befürchtete Schmälerung ihrer Einkommen ging. Ich habe nicht erlebt, dass Ärzte einmal für ihre Patienten auf die Straße gingen, zum Beispiel dann, als weitgehend alle Arzneimittel der Komplementärmedizin von der Erstattung gesetzlicher Krankenkassen ausgeschlossen wurden. Wie anders das einmal gedacht wurde, zeigt die 1982 bei der Generalversammlung des Weltärztebundes in Lissabon verabschiedete Deklaration:
„Ein Arzt sollte immer, auch angesichts faktischer, ethischer und rechtlicher Schwierigkeiten, seinem Gewissen folgen und nur dem Wohle des Patienten dienen. Die folgende Deklaration enthält einige der wesentlichen Grundrechte, welche die Ärzte für die Patienten sicherstellen wollen. Wenn die Gesetze oder die Regierung eines Landes dem Patienten diese Rechte durch Maßnahmen vorenthalten, sind die Ärzte gehalten, geeignete Mittel und Wege zu suchen, diese Mittel dennoch zu gewähren.
– Der Patient hat das Recht auf freie Arztwahl.
– Der Patient hat das Recht, von einem Arzt behandelt zu werden, der seine klinischen und ethischen Entscheidungen frei und ohne Einfluss von außen treffen kann.
– Der Patient hat das Recht, einer Behandlung nach angemessener Aufklärung zuzustimmen oder sie abzulehnen.
– Der Patient hat das Recht, zu erwarten, dass der Arzt über seine medizinischen und persönlichen Daten Schweigen bewahrt.
– Der Patient hat das Recht, in Würde zu sterben.
– Der Patient hat das Recht auf geistige und moralische Unterstützung, die er auch ablehnen kann; das schließt das Recht auf den Beistand eines Geistlichen seiner Religion ein“.