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Menschenliebe

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Selbstlosigkeit ist auch die Voraussetzung um lieben zu können. Dabei verstehe ich hier Selbstlosigkeit so, dass ich ein Selbst als Ich ausgebildet haben muss, welches ich zurückstelle, um bei dem anderen zu sein, ja vielleicht in seinen Dienst stelle, damit er durch mich werden kann, z.B. gesund. Dazu wieder ein Christuswort: „Liebe deinen Nächsten so wie dich selbst“ (Luk.10,25–28). Wer sich nicht selbst zu lieben lernte, wird auch nicht andere/anderes lieben können. Deshalb ist die Kindheit und Jugend auch eine so wichtige Zeit, das Selbst auszubilden und zu lernen, Ja zu sich zu sagen. Von außen angeschaut eine Zeit starker Egoität. Ich habe meine fünf Kinder in deren Kindheit oft liebevoll „meine kleinen Egoistentierchen“ genannt, denn dieser Egoismus ist noch nicht seelengebunden oder Ich-geprägt, sondern leibbildend. Der von Eltern und Vorfahren gebildete und vererbte – ich könnte auch sagen geschenkte – Leib (den Steiner auch so anschaulich Modell-Leib nennt), muss ja über zwei Jahrzehnte zu einem Individual-Leib werden, einem Leib, in dem jeder Ort, jede Flüssigkeit, alle Bewegung vom Ich ergriffen und einzigartig, unverwechselbar wird. Ein Geschehen, das wir dann abstrakt Immunsystem oder erworbene Immunität nennen. In den allerersten Anfängen meiner Lehrzeit zum Arzt, noch als Medizinalassistent vor der eigentlichen Approbation, durchfuhr mich beim Zuschauen einer äußerst ruppigen Blutentnahme aus einer Armbeugenvene, die der Chefarzt selbst durchführte (es war eine Privatpatientin), der fragende Gedanke: „Liebst du eigentlich den Menschen“? Womit mir schlagartig bewusst wurde, dass ich Arzt nur sein kann, wenn ich den Menschen liebe. Nicht den Einzelnen, sondern den einzelnen Menschen als göttliche Schöpfung. Da hatte ich Steiners Aussage noch nicht gelesen. Später las ich bei Carl Gustav Carus: „Jeder Mensch, ja jede Kreatur ist eine Idee Gottes. Und alle sind gleich wert“.15 Und damit sind wir bei der ethisch-moralischen Seite der Medizin, die heute nicht mehr vermittelt wird, die jedem selbst überlassen bleibt, die aber eine der beiden Hauptwurzeln einer christlichen Medizin ist.

Es war kein Ritual, wenn man den Arzt vor der Erlaubnis, den Beruf ausüben zu dürfen, den Hippokratischen Eid sprechen ließ. Es war ein Gelöbnis und zugleich Handlungsanweisung. Und es war das alle Ärzte verbindende ethisch-moralische Element. Mit Auslöschen der Hippokratischen Medizin, die zur Humoralpathologie verkommen war, wurde auch dieser Eid nicht mehr gesprochen. Heute kennt ihn wohl kaum noch jemand. Und nichts anderes, gemeinsam Verbindliches ist an seine Stelle getreten. Es ist erschütternd auszusprechen, dass sich die Medizin seit dem 20. Jahrhundert zunehmend in einem ethikfreien Raum bewegt. Tauchen ethische Fragen auf, wie z.B. die Definition des Hirntodes als endgültiger Tod des Menschen auch beim Fehlen „sicherer“ Todeszeichen (wie sie jeder Arzt im Studium lernte), werden für eine solche Einzelfrage Ethik-Kommissionen gebildet, in der keineswegs nur Ärzte, sondern auch andere Berufe, vor allem Juristen, mitwirken.

Eine Medizin ohne verbindende Ethik ist unchristlich. Denn das ganze Christentum ist getragen von einer Ethik, welche die zehn Gebote, die Moses vermittelte, zusammenfasst und übergreift in dem einen Gebot, das Christus uns gibt: „Liebet einander“ (Joh.15,12–13). So einfach das klingt, so unerfüllbar scheint dieses Gebot seit 2000 Jahren, heute mehr denn je, wo die apokalyptische Zeit des „Krieges Jeder gegen Jeden“ angebrochen scheint. Und dennoch: gerade weil es so aussichtslos scheint, muss an besonderen Stellen mit der Umsetzung dieses Gebots begonnen werden. Und wo wäre das naheliegender als in der Medizin? Vielleicht noch in der Pädagogik, viel unvorstellbarer dagegen in der Wirtschaft. Weil es so grundsätzlich ist, möchte ich einige Zeitphänomene erwähnen, um zu verdeutlichen, wo der Medizin eine verbindende Ethik fehlt bzw. welche Handlungsweisen sich in einem ethikfreien Raum einstellen.

Die Wiedergewinnung des Heilens

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