Читать книгу 10 Mythen der Geldanlage - Volker Gerding - Страница 5

Der 2. Mythos: Immer Stopp-Kurse setzen oder „Verluste begrenzen, Gewinne laufen lassen“

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Eine plausible, unumstößlich erscheinende Regel, die hilft erfolgreich an der Börse zu sein? Für einen wirklichen Händler, der möglicherweise täglich Werte kauft, verkauft, auf steigende und fallende Kurse setzt, ist es vor dem Handel überlebensnotwendig (natürlich nur auf sein Leben als Händler bezogen) sein Risiko genau festzulegen.

Wenn er z.B. über ein Handelskonto von 100.000 Euro verfügt, könnte er festlegen, dass keine Handelsposition (z.B. eine einzelne Aktie) 10.000 Euro übersteigt und dass er als max. Verlust 1000 Euro akzeptiert. Dies wäre 1 % seiner Gesamtsumme und mit dieser Verlustbegrenzung kann er auch längere Durststrecken überwinden.

Aber hilft dieses Vorgehen auch Siegfried, der zwar nicht über 100.000 Euro verfügt, aber über 80.000 Euro? Wäre dies eine Strategie, um die mageren Zinsangebote seiner Stadtsparkasse aufzupeppen?

Der Stopp-Kurs-Praxistest

Siegfried vertraut dem Siemens Konzern, den kennt er, er verwendet viele Produkte dieses Konzerns, zudem lassen große Zeitungsannoncen das Unternehmen modern und aktiv erscheinen.

Siegfried kauft in der Woche vom 08.07.2007 für ca. 8000 Euro Siemens Aktien zum Preis von 110 €/Aktie.

Er erhält dafür 72 Stück und setzt einen Stopp bei 93,5 €. Dieser Stoppkurs ist 15 % vom Einstiegskurs entfernt und sollte einen ausreichenden Puffer darstellen, um nicht gleich bei den ersten Schwankungen des Aktienkurses verkaufen zu müssen. Außerdem ist Siegfried zwar optimistisch, aber mehr als 1200 € möchte er nicht verlieren. Da dieser Betrag jedoch nur 1,5 % seines Gesamtvermögens darstellt, ist er bereit das Risiko des Aktienkaufs einzugehen. Schließlich ist sein Verlust von Anfang an bekannt, der mögliche Gewinn jedoch ist erst mal nicht begrenzt. Das Chance-Risiko-Verhältnis ist somit aus Siegfrieds Sicht vorerst ganz gut.

Warum, so könnte Siegfried gefragt werden, kauft er Siemens-Aktien zu einem Preis von 110 €/Aktie? Warum steigt er jetzt ein, warum zu diesem Preis? Vielleicht hat er einen Bericht in der Zeitung zur zukünftigen Entwicklung der Siemens-Aktie gelesen, oder er ist unzufrieden mit der möglichen Rendite einer Festgeldanlage. Er ist es einfach leid mit niedrigen Zinsen abgespeist zu werden und trifft eine Entscheidung. Siegfried fühlt sich aber bei Abgabe der Kauforder wohl, weil er gleichzeitig seiner Bank den Stopp-Kurs mitteilt und somit den möglichen verlustbehafteten Verkauf von jeglicher Emotion befreit und sein Risiko begrenzt hat. Er hängt zudem der Theorie an, dass der Einstiegskurs irrelevant für den Börsenerfolg ist, nur der Ausstieg muss klar sein.

Bei dieser vernünftig klingenden Strategie ist in der Woche vom 29.07.2007 das Spiel allerdings schon vorbei. Das Unternehmen verliert kräftig an Wert und Siegfried wird ausgestoppt. Es verbleiben ihm jetzt nur noch 6732 €, da er für seine 72 Aktien jeweils 93,5 € erhält. Bankgebühren bleiben bei diesem Beispiel unberücksichtigt, es geht lediglich ums Prinzip.



Abb.6: Wöchentlicher Verlauf der Siemens-Aktie

Ob Siegfried mit seiner Einschätzung, dass der Kurs von 110 € für die Siemens Aktie akzeptabel ist, einen realistischen Blick auf den Wert des Unternehmens Siemens hat, ist völlig unerheblich. Die Akteure an der Börse sind zu dem beobachteten Zeitpunkt nicht bereit einen höheren Preis zu bezahlen – das ist alles.

Da Siegfried meinte, dass der Preis von 110 € für eine Siemens Aktie ganz in Ordnung war, er mit dieser Meinung aber leider falsch lag, lastet jetzt der Druck auf ihn, den erlittenen Verlust wieder auszugleichen und zu beweisen, dass er doch recht hat. So ist es verständlich, dass er in der Woche vom 23.12.2007 einen weiteren Versuch startet, zumal die Aktie jetzt „nur noch“ 105 € wert ist. Aus Siegfrieds Sicht ist sein Chance-Risiko-Verhältnis jetzt noch günstiger als beim ersten Versuch.

Er steigt somit bei 105 €/Aktie ein und ordert 64 Stück, da er jetzt nur noch 6732 Euro zum Spekulieren zur Verfügung hat.

Der Stopp wird bei 89 € gesetzt (rund 15 %) und leider hat er wieder Pech.

In der Woche vom 27.01.2008 unterschreitet der Kurs diese Stoppmarke und Siegfried erhält für seine 64 Aktien nur noch 5696 Euro.



Abb.7: Einstieg und Ausstieg am Beispiel der Siemens-Aktie

Was passiert jetzt mit Siegfried? Der Verlust lastet schwer auf ihn. Wie wir von D. Kahneman wissen, ist die Reaktion auf Verluste stärker als die Reaktion auf entsprechende Gewinne. Wir gewinnen einfach gern und verlieren ungern. Um dieser Verlustaversion zu begegnen und sein tatsächliches, aber insbesondere auch emotionales Konto wieder auszugleichen, sucht Siegried nach einer neuen Möglichkeit. Noch hat er Geld auf seinem Konto und im Grunde versteht er gar nicht, warum „seine“ Aktie gefallen ist.

Siegfried lässt sich also nicht entmutigen und erwirbt in der Woche vom 30.08.2008 insgesamt 76 Aktien zu je 75 €. Dieser Kauf hat für ihn verstärkenden Effekt, dass die Aktie jetzt optisch sehr günstig erscheint. Hielt Siegfried den Siemens Konzern beim ersten Kauf mit 110 € für niedrig bewertet (sonst hätte er ja nicht auf Kurssteigerungen gehofft), so erscheint ihm die jetzige Kursnotierung geradezu als Sonderpreis. Ohne das es ihm bewusst ist, sind die 110 € des ersten Kaufs für ihn der Anker, auf den er alle weiteren Entscheidungen bezieht. Bei einem professionellen Händler, der tagtäglich Aktien kauft und verkauft besteht keine Beziehung zu einem Wert, er beurteilt jeden Kauf für sich. Aber Siegfried ist kein Händler, er ist ein Anleger, der sich Sorgen um seine finanzielle Zukunft macht und versucht den Ertrag seiner Investments etwas zu steigern. Er hat möglicherweise kaum Erfahrung mit dem Aktienhandel und klammert sich an diese ihm bekannte Regel als Richtschnur für sein Handeln.

Der Stopp wird bei 64 € platziert.

Wieder nichts! Die Stopp-Marke wird am 05.10.2008 gerissen, Siegfried verbleiben jetzt lediglich 4864 €.


Abb.8: Weiter Einstieg und Ausstieg bei Siemens

Bisher hat Siegfried sein Börsendilemma vor seiner Frau geheim halten können, doch so langsam greift Panik um sich und Siegfried schwört sich, dass er nur noch ein einziges Mal zu dieser verdammten Aktie greift, schließlich muss die doch mal steigen, geht doch nicht mit rechten Dingen zu….

Neues Jahr, neues Glück, Siegfried hat zwischen den Jahren viel Zeit mit dem Studium der einschlägigen Wirtschaftspresse verbracht und Hoffungsvolles von den Profis vernommen.

„Nach den starken Zahlen aus dem laufenden Geschäft haben viele Investmentbanken ihre Kursziele für die Siemens-Aktie angehoben. So erhöhte die US-Investmentbank JP Morgan das Ziel für Siemens-Aktien von 84 auf 89 Euro. Die Aktie werde sich in den kommenden sechs bis zwölf Monaten deutlich besser entwickeln als die Branche. Die Citigroup geht wegen erwarteter höherer Gewinne 2007 und 2008 von 95 Euro aus. Die Société Générale erhöhte ihr Kursziel sogar auf 100 Euro. Die Restrukturierung nähere sich nach besseren Ergebnissen angeschlagener Sparten dem Ende, erklärte Analyst Simon J. Smith“. (Süddeutsche.de 20.11.2008, 11:15)

Siegfried tappt in eine neue Falle. „Privatanleger wenden sich vorhersehbarerweise in Scharen Unternehmen zu, die ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen, weil sie Schlagzeigen machen“ (D. Kahneman). Er fühlt sich wieder bestätigt, er wusste ja von Anfang an, dass Siemens ein gutes Unternehmen ist und selbst der Profi gibt ein Kursziel von 100 Euro an, ganz in der Nähe von Siegfrieds imaginärem Anker des ersten Kaufs.

Siegfried ordert in der Woche vom 04.01.2009 zum Kurs von 55 € abermals Siemens Aktien und erhält für sein verbliebenes Geld 88 Aktien.

Er setzt den Stopp bei 47 €.

Mala suerte, mierda und was der sprachgewandte Siegfried sonst noch so vor sich hin flucht, er ist jedenfalls am Boden zerstört, gesteht seiner Frau, dass er fast 4000 € vom Erbe für nichts und wieder nichts verbraten hat, obwohl er doch so diszipliniert war. Na ja, nach zwei Wochen eisigen Schweigens und dem Schwur nie wieder Aktien zu kaufen, kommt dann langsam wieder die Zeit des Tauwetters.

Fast überflüssig zu sagen, dass Siemens ab März 2009 zu einer Bilderbuch-Rally startete, die den Kurs bis April 2009 auf fast 100 Euro steigen ließ…


Abb.9: Beeindruckende Kursentwicklung der Siemens-Aktie

Sind Stopp-Kurse entbehrlich?

Zeigt uns diese Geschichte von Siegfried, dass Stopps unsinnig sind? Natürlich nicht. Stopps können dazu dienen, das Risiko sinnvoll zu reduzieren, aber sie schützen auch nicht immer vor erheblichen Verlusten.

Es stellen sich an dieser Stelle einige grundsätzliche Fragen:

- Ist es für Siegfried überhaupt sinnvoll in eine Einzelaktie zu investieren?

- Nach welchen nachvollziehbaren, objektiv ermittelten Annahmen, Analysen, Regeln erfolgte der Einstieg in die Aktie?

- Kann das „Bauchgefühl“, die subjektiv wahrgenommene Bedeutung einer Firma, Kriterium für eine Geldanlage sein, welche die Versorgung im Alter sicherstellen soll?

- Gibt es überhaupt objektiv ermittelte Annahmen und Analysen, auf die man sich verlassen kann? Erinnern Sie sich an den Enron-Skandal oder das zu Beginn aufgeführt Beispiel der Sino-Forest-Aktie oder nehmen Sie einfach den Kursverlauf der Commerzbank-Aktie…

- Wenn, wie im weiteren Verlauf des Buches noch ausgeführt wird, selbst Profis nur selten ein glückliches „Händchen“ bei der Aktienauswahl haben, warum soll dann ausgerechnet Siegfried in die richtige Firma investieren?

- Ist der eigene Einstiegskurs ein relevanter Punkt für das Setzen eines Stopps oder sollte der Stopp nicht eher an objektiven Kriterien des Kursverlaufes orientiert sein?

- Werden Stopps überhaupt vom Anleger eingehalten oder im letzten Moment doch wieder missachtet, weil der Kurs ja wieder steigen könnte?


Tipp: Zur Frage der Verlustaversion bitte unbedingt vertiefend Daniel Kahnemans Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ lesen!


Fazit

Auch die „goldene“ Regel des Stopps bewahrt den Anleger nicht vor herben Verlusten.

Einzelaktien sind mit hohen Chancen, aber auch mit großen Risiken behaftet. Für die Alterssicherung oder die Ausbildung der Kinder sind sie nur bedingt geeignet und dürfen nur einen geringen Teil des zur Verfügung stehenden Geldes einnehmen.

Übrigens:

Ganz nebenbei haben wir auch den Mythos „Der Einstiegszeitpunkt ist egal, Hauptsache die Stopps werden eingehalten“ entzaubert, zumindest als generelle Regel. Für einen Tageshändler (auch Daytrader genannt), der morgens einsteigt und spätestens am Abend wieder alles verkauft hat, kann die Welt anders aussehen. Diese Welt ist aber von der Realität Ann-Kathrins, Marcels und Siegfrieds weit, sehr weit entfernt.

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