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Katerstimmung in München

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Seine Großmutter hatte ihm geraten, genau diese Situationen zu genießen. Aber Max fühlte sich im Augenblick nicht in der Lage, Genuss zu empfinden. Den gestrigen Abend hatte er mit seinem älteren Bruder Jan in einem Münchener Biergarten verbracht. Dabei wäre er viel lieber abends im Hotel geblieben und früh zu Bett gegangen. Er ärgerte sich sehr, Jan nachgegeben zu haben, der ihn wortreich zu einem `Symposion´ gedrängt hatte: Man befände sich schließlich in der Hauptstadt des Bieres und Fußballs! Außerdem stünde ein prächtiger Sommerabend bevor! Und überhaupt: Er habe ihn knapp 1000 Kilometer durch die Republik gefahren, da könne er ihm doch etwas Gesellschaft leisten und ein Bier mittrinken! Max´ halbherzig vorgebrachtem Einwand, dass am nächsten Tag sein Dienst beginne, war Jan strahlend mit dem Hinweis begegnet, dass er am ersten Tag noch nicht richtig arbeiten müsse. Und so hatten die Brüder den Abend zusammen mit zwei Bekannten in einer Art und Weise verbracht, wie gesellige Abende ohne weibliche Begleitung unter jungen Männern oft verlaufen. Nun saß Max in Jans Auto und litt noch immer unter heftigen Kopfschmerzen, trotz der bereits vor zwei Stunden eingenommenen Schmerztabletten. Mehrmals nahm er Kaugummis zu sich, weil er fürchtete nach Alkohol zu riechen. Kurzum: Max war aufgrund seines Katers viel zu abgelenkt, um die Situation zu genießen. Der von der Großmutter empfohlene Genuss war freilich kein körperlich-triebhafter, sondern ein geistig-seelischer. Sie meinte, man solle Lebenssituationen, in denen man Unbekanntes und Unbequemes erfahre, genießen, d.h. bewusst erleben, gerade dann, wenn man eingeschüchtert, ängstlich oder nervös sei. Denn in derartigen Momenten könne man viel über sich und seinen Umgang mit anderen lernen. Altmodisch formuliert: einen Reifeprozess durchlaufen, Souveränität gewinnen und seinen Platz in der Welt finden. Max dachte an die Initiationsromane, die er in der Jugend bzw. Schule hatte lesen müssen. Aber nun galt es nicht, Handlungsabläufe und Personenkonstellationen eines Romans in einer Deutschklausur begriffsklar zu durchleuchten. Eine Form der Initiation stand Max vielmehr persönlich bevor. Denn während viele seiner ehemaligen Mitschüler eine Ausbildung absolvierten oder studierten und damit die ersten Sprossen einer wie auch immer gearteten Karriereleiter betraten, hatte sich Max für ein FSJ, ein `Freiwilliges Soziales Jahr´ entschieden. Und dieses Jahr wollte er weit entfernt von seiner Heimat verbringen. Daher hatte er sich beim Martinusstift beworben, einem Rehabilitationszentrum für körperlich Behinderte in München. Max sehnte sich abseits von Schule und Hochschule nach etwas grundsätzlich `Neuem´, auch wenn er dieses Sehnen nicht immer auf den Begriff bringen konnte. In München hoffte er der Enge seiner Heimatstadt und vor allem der steten Erinnerung an den Suizid eines alten Schulfreundes entfliehen zu können. Hier lockten Weite, Weltläufigkeit, prächtige Bauten, Cafés, Discos, die nahen Alpen und mit attraktiven Frauen auch das vage Versprechen auf männliches Glück. In Max pulsierte also die neugierige, lebensbejahende und vorwärtstreibende Kraft, die wohl nur der Jugend innewohnt. Im Moment pulsierten aber - wie gesagt - nur die Schmerzen in seiner Stirn. Seine Großmutter hätte voller Unverständnis und Missbilligung den Kopf geschüttelt.

Jan riss ihn aus seinen trüben Gedanken, als er mit dem Auto am Martinusstift hielt und mit sarkastischem Tonfall bemerkte, Max´ erste `Kundschaft´ erblicken zu können. Max schaute irritiert um sich und sah mehrere Rollstuhlfahrer, die offenbar gerade das Rehabilitationszentrum verlassen hatten. Sie fuhren auf dem Bürgersteig und bewegten mit ihren muskulösen Oberarmen erstaunlich schnell die Räder ihrer Rollstühle. Über Jans Gleichsetzung von körperlich Behinderten und Kunden konnte Max allerdings nicht lachen. Eine lockere Tätigkeit stand ihm jedenfalls nicht bevor. Dies wurde ihm auch klar, als er eine ältere Frau sah, die ohne den Einsatz ihrer reglosen Arme lediglich mithilfe eines Mundstücks ihren Rollstuhl sehr langsam in Bewegung setzte. Max mied eine längere Betrachtung der Frau, weil er sie nicht wie ein Voyeur anstarren wollte. Außerdem fühlte er sich in einer solch miserablen Verfassung, dass er sich im Augenblick nicht noch weiter herunterziehen lassen wollte. Er hielt lieber mit Jan nach einer Parklücke Ausschau. Als sie fündig geworden waren, stiegen die Brüder aus dem Auto und standen vor einem großen Gebäudekomplex, der das Martinusstift umfasste. Max atmete tief ein. Die Kühle und frische Luft, die seinen Kater etwas linderten, taten ihm gut. Sie ließen die Koffer zunächst im Wagen, durchschritten die Toreinfahrt und standen in einem Innenhof, der einen kleinen Park mit Laubbäumen, mehreren Sitzbänken und einem Springbrunnen enthielt. Eingerahmt wurde der Park von verschiedenen Gebäuden, in denen sich Wohnungen, eine Wäscherei, Verwaltungsräume und Pflegeeinrichtungen befanden. Schräg gegenüber der Toreinfahrt erstreckte sich eine Behindertenwerkstatt, in der Möbel hergestellt wurden. Als die Brüder den Eingang des Verwaltungstraktes erblickt hatten, traten sie ein und standen kurz darauf vor dem Personalbüro von Frau Müller, die für die FSJler zuständig war. Jan amüsierte sich über die Nervosität seines Bruders, der vor der Begegnung mit der Personalchefin nochmals den Geruch seines Atems kontrollierte. Er neckte ihn mit der Aufforderung, sich zusammenzureißen, endlich hineinzugehen und möglichst keinen schlechten ersten Eindruck zu hinterlassen. Max ärgerte sich über Jans Stichelei, sagte aber nichts, sondern klopfte an die Tür. Unmittelbar darauf vernahm er eine Stimme, die ihn mit bayerischem Dialekt hereinbat. Max betrat ein großes, mit zahlreichen Blumen und Pflanzen geschmücktes Zimmer. Hinter einem mit Mappen, Aktenordnern und Notizzetteln beladenen Schreibtisch saß eine Frau mittleren Alters, die aufstand und ihn freundlich begrüßte:

„Griaß God, san Sie Max Niemo?“

„Guten Morgen! Sagten Sie Max Niemann?“

„Jo freilich meine i des.“

„Ja, das bin ich.“

„Des hob i ma dachd. Sonst san nämlich de andern FSJler scho do. Mei Name is Elena Mülla. I bin fia olle Personalfrong zuaständig. Herzlich wuikomma in Minga!“

Frau Müller erkundigte sich nach Max´ Befinden und drückte ihre Verwunderung aus, dass kaum gebürtige Münchner zu den FSJlern gehörten. Sie erläuterte verschiedene verwaltungstechnische Details und händigte ihm dann seinen Zimmerschlüssel sowie einen Ablaufplan der ersten Woche aus.

„So, und jetz zeig i Ihna Ihre Wohnung. Sie hom´s narrisch nett ogetroffa.“

Max tat so, als ob er alles verstanden habe. Er folgte Frau Müller, die ihn in ein etwas abgelegenes, am Rande des Rehabilitationszentrums befindliches Gebäude führte, das erst in den 90er Jahren gebaut worden war. Es enthielt sechs Wohnungen, in dem jeweils drei FSJler bzw. FSJlerinnen untergebracht waren. Seine Wohnung befand sich im 1. Stock. Unter ihm wohnten drei junge Frauen, die schon seit Anfang Januar ihr FSJ absolvierten. Aus ihrer Wohnung drang laute Musik.

„Mia san da“, sagte Frau Müller. „De Madl san aba wieda laut! Do mua i gleich moi leidn und schimpfa. Jetz probian Sie seibsd de Schlüssl aus. Des könna Sie jo scho.“

Max hatte das Wort `Schlüssel´ verstanden, Frau Müllers Blick auf das Türschloss bemerkt und folglich den Schlüssel ins Schloss gesteckt. Aus Höflichkeit betätigte er aber kurz zuvor die Türklingel. Bevor Max den Schlüssel umdrehen konnte, öffnete ihm ein schlanker, schwarzhaariger junger Mann, der mit Sakko, modischem T-Shirt und Jeans auffallend gut gekleidet war. Max war angenehm überrascht, da der neue Bekannte nicht dem klischeehaften Erscheinungsbild entsprach, das er sich von einem `typischen´ FSJ-ler gemacht hatte. Jedenfalls glich er keineswegs einem Mann, der mit ungewaschenen Haaren und schmuddeligen Klamotten auf Jesuslatschen durch die Wohnung schlurft.

„Du musst Max sein.“

Als Max dies bejahte und Christian die Hand gab, fuhr letzterer fort:

„Ich heiße Christian und bin dein neuer Mitbewohner. Wir haben schon auf dich gewartet. Mit dir ist unsere neue WG komplett.“

Frau Müller blieb vor der Wohnung stehen und verabschiedete sich:

„Ihre Mitbewohna könna Ihna jo de Wohnung zeign. Mia seng uns um 11 Uah zua easdn Voastäiungsrunde im Vawoidungstrakt. Bitte keman Sie pünktlich!“

„Is scho recht, Frau Müller“, antwortete Christian.

Als sich Frau Müller wieder im Erdgeschoss befand und erbost bei den lärmenden Mädchen klingelte, fragte Max leise: „Was hat sie zum Schluss gesagt?“

„Frau Müller meinte, dass wir uns um 11 Uhr zur Vorstellungsrunde im Verwaltungstrakt pünktlich treffen wollen.“

„Ich glaube“, sagte Max“, dass ich hier erst einmal eine neue Sprache lernen muss.“

„Mach dir keine Sorgen“, entgegnete Christian, „du wirst dich sehr schnell an die bayerische Mundart gewöhnen. Komm, ich zeige dir erst einmal dein neues Zuhause.“

Max folgte Christian in eine helle, weiß gestrichene Wohnung, die mit einem graufarbigen Teppich ausgelegt war. An den Wänden des Flurs hingen Poster mit Abbildungen schottischer Landschaften. In der geräumigen Küche fiel Max vor allem ein orangefarbenes Telefon auf, das eine Drehscheibe besaß und offenbar noch aus den 80er Jahren stammte. Er fragte sich, ob sich dieses Telefon als Zeichen avantgardistischer Lässigkeit oder biederer Gleichgültigkeit deuten ließ. Das Bad war erstaunlich sauber sowie mit Waschmaschine und Wäschetrockner ausgestattet. Außerdem gab es drei Einzelzimmer mit unterschiedlicher Größe. Max bezog das kleinste Zimmer, mit dem er aber sehr zufrieden war. Er freute sich darüber, dass zum Zimmer ein kleiner Balkon gehörte, weil er auf ihm rauchen konnte. Außerdem lag das Zimmer zum Innenhof heraus, was den Stadtlärm dämpfte und die Aussicht auf ruhige Nächte bot. Während der Besichtigung der Wohnung trat Jonas ein, der Max als zweiter Mitbewohner vorgestellt wurde. Er war von kleiner Statur, etwas untersetzt und trug ein buntes Holzfällerhemd. Mit einem gelangweilten, leicht arrogant wirkenden Gesichtsausdruck trug Jonas einen Gitarrenkasten sowie einen Notenständer in sein Zimmer und legte beides auf das Bett. Christian konnte sich einen bissigen Kommentar nicht verkneifen. So bat er Jonas, seine Übungszeiten vorzugsweise nur dann einzulegen, wenn niemand anderes zuhause sei. Jonas fand das aber nicht witzig. Er lächelte gequält und schlurfte in die Küche. Christian zuckte die Schultern und verließ mit den Brüdern die Wohnung, um Max´ Taschen und Koffer aus dem Auto zu holen. Als sie alles in dessen Zimmer abgestellt hatten, bat Jan seinen Bruder, später auszupacken, da er angesichts der langen Wegstrecke möglichst schnell aufbrechen müsse. Zuvor wolle er aber noch einen Kaffee trinken. Als die vier jungen Männer kurz darauf in der Küche zusammensaßen, entwickelte sich zunächst kein Gespräch. Jan tippte eifrig Nachrichten in sein Smartphone, während Max und Jonas wortkarg in ihren Tassen rührten. Daher erzählte Christian von seiner Heimatstadt Düsseldorf und schwärmte vor allem vom Stadtviertel Flehe, wo man am Rhein entlang bis in den Hafen skaten könne. Jonas, der diese Form der Unterhaltung offenbar für oberflächlich oder schlicht überflüssig hielt, fragte mürrisch:

„Warum bisd du denn ned im Rheinland gebliabn, wenn 's do so grousartig is?“

Christian reagierte gereizt: „Seid ihr in Altötting alle so muffig? Das kann ja was mit dir werden!“

Jonas ließ diese Worte unbeeindruckt an sich abprallen. Jan konnte sein Grinsen kaum verbergen. Max aber schwieg betreten. Das war nicht gerade ein harmonischer Auftakt in der neuen Wohngemeinschaft! Christian und Jonas schienen einander nicht sonderlich zu mögen. Max fragte sich, ob seiner Ankunft ein Streit zwischen beiden vorausgegangen war. Vielleicht würde er das später erfahren. Im Augenblick jedenfalls wollte er sich aus dem Konflikt heraushalten. Christians aufgeräumte Stimmung war allerdings verflogen. Abrupt wechselte er das Thema und unterbreitete einige Vorschläge zur gemeinsamen Nutzung des Bades, zur Aufteilung der Küchenfächer und zur Einrichtung einer Gemeinschaftskasse für Kaffee, Tee, Zucker, Gewürze und andere Lebensmittel. Max und Jonas nickten zustimmend. Darauf stand Christian auf und mahnte zum Aufbruch, da die Einführungsveranstaltung bevorstand.

Max begleitete Jan zum Auto und verabschiedete ihn mit einer kurzen Umarmung. Als der Volvo des Bruders um die Ecke bog und nicht mehr zu sehen war, wurde Max erst richtig bewusst, dass er sich nun zum ersten Mal allein fern seiner Freunde und Verwandten dauerhaft in einer fremden Stadt befand. Trotz seiner etwas melancholischen Stimmung fand er in der Feststellung Trost, dass zumindest seine Kopfschmerzen spürbar nachgelassen hatten.

Max mit Sartre im Freiwilligen Sozialen Jahr

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