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Die erste Woche im Freiwilligen Sozialen Jahr

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Die ersten Tage während der sogenannten Einführungswoche sollte Max mit neun anderen FSJlern zunächst verschiedene Behinderte und Stationen kennen lernen, hinsichtlich der rechtlichen Aspekte des Freiwilligen Sozialen Jahres unterrichtet und erst in der zweiten Woche einer Station bzw. einer behinderten Person zugeordnet werden. Die Einführungswoche verlief sehr ereignisreich und kurzweilig, aber auch anstrengend und fordernd. Letzteres lag vor allem an verschiedenen Rollenspielen, welche die zehn neuen FSJler als Vorbereitung für den Dienst zu absolvieren hatten. Ein Rollenspiel bestand etwa darin, die Perspektive eines körperlich Behinderten einzunehmen. So erhielten die zehn künftigen Pfleger fünf Rollstühle, in denen sie sich abwechselnd mehrere Stunden lang durch die Münchner Innenstadt schieben sollten. Nicht so schnell würde Max die neugierigen, irritierten, bemitleidenden oder manchmal auch angewiderten Blicke der Passanten vergessen, die ihn trafen, als er über die Kaufingerstraße und den Marienplatz geschoben wurde. Nicht viel angenehmer empfand er die Fahrt in der U-Bahn, in der mehrere Fahrgäste eher unwillig den fünf Rollstuhlfahrern Platz machten. Anerkennend konnte Max aber feststellen, dass viele U-Bahnstationen behindertengerecht ausgestattet waren.

Besonders emotional fordernd empfand Max die ersten Begegnungen auf verschiedenen Stationen des Behindertenzentrums. Er sah Menschen mit unterschiedlichen Lebensschicksalen, die eines einte: ein beklemmender Mangel an Beweglichkeit und Eigenständigkeit. Einige waren schon mit einem Handicap geboren worden, andere litten unter einer unheilbaren Erkrankung wie der multiplen Sklerose. Die weitaus meisten aber hatte ein schrecklicher Unfall an den Rollstuhl gefesselt. Sie hatten eine kurze Unaufmerksamkeit auf der Autobahn oder ein Unfall während einer sonntäglichen Spazierfahrt auf dem Motorrad in eine Lebenslage gebracht, die irreversibel war. Nie mehr würden sie allein Fahrrad fahren, ins Kino gehen oder schnell in eine S- oder U-Bahn eilen können. Nie mehr würden sie sich im öffentlichen Raum problemlos und weithin unbemerkt fortbewegen können. Nicht einmal das Banalste der menschlichen Existenz vollzog sich privat und unkompliziert: der Toilettengang. Vom Sex ganz zu schweigen. Max, der viele dieser Menschen gesehen, manche auch etwas kennen gelernt hatte, war jeweils sehr bewegt und eingeschüchtert. Dies galt insbesondere für das Lebensschicksal eines jungen Rollstuhlfahrers seines Alters, der sich erst im Frühjahr durch einen Sprung in zu seichtes Wasser den Nacken und damit auch die Lebenszuversicht gebrochen hatte. Er war vom Hals ab gelähmt – ein im FSJler-Sprech sogenannter „oberer Querschnitt“ – und damit fast vollständig auf fremde Hilfe angewiesen. Dieser begegnete er aber bislang nur missmutig und abwehrend, teils auch aggressiv. `Fass mich nicht an, du Arsch!´ gehörte noch zu seinen freundlicheren Worten, die er den jungen, ungeschickten und unerfahrenen FSJlern bei einem Wutausbruch entgegenschleudern konnte. Max, der bisher nicht mit Behinderten zu tun gehabt hatte, fühlte sich angesichts derartiger Konfrontationen anfangs völlig überfordert. Neben seiner Betroffenheit spürte er daher auch immer wieder den Impuls, das Leid gerade junger Menschen nicht zu sehr an sich herankommen zu lassen. Außerdem empfand er ein gewisses Unbehagen an der Vorstellung, auf einer größeren Station zu arbeiten, auf der man sich um mehrere Behinderte gleichzeitig kümmern musste. Aus diesen Gründen war er erleichtert, dass er seinen Dienst im Privathaushalt von Frau Blume versehen konnte. Bei ihr handelte es sich um eine rund 60-jährige Frau, die im Rahmen einer ISB, also einer individuellen Schwerstbehindertenbetreuung, rund um die Uhr versorgt wurde. Sie saß seit einem Verkehrsunfall im Jahre 2002 gelähmt im Rollstuhl. Max hatte Frau Blume im Martinusstift während der Einführungswoche kurz kennen gelernt und sympathisch gefunden. Zwar würde er künftig die U- und S-Bahnen nutzen müssen, weil Frau Blume im Münchner Stadtteil Berg-am-Laim wohnte. Aber das empfand er nicht als Nachteil. Max überzeugte Christians Einschätzung, dass eine lokale Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsplatz die Möglichkeit bot, besser abschalten und entspannen zu können.

Max mit Sartre im Freiwilligen Sozialen Jahr

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