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Dienstbeginn bei Frau Blume

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Am folgenden Montag trat Max, der das Wochenende schlafend, lesend und Musik hörend verbracht hatte, seinen Dienst bei Iris Blume an. Sie wurde von insgesamt vier Pflegern betreut. In der ersten Woche sollte Max den erfahrenen Pfleger Tobias begleiten und von diesem in seine Arbeit eingewiesen werden. Tobias wohnte nicht im Martinusstift. Deshalb traf er sich mit ihm am Ostbahnhof, von wo sie gemeinsam mit der S-Bahn weiterfuhren und in Berg-am-Laim ausstiegen. Tobias führte Max zu einer hübschen Reihenhaussiedlung, in der viele moderne, weiß verputzte Häuser standen. Die Wohngegend wirkte sehr gepflegt und wohlhabend. Autos der Mittel- und Oberklasse standen auf den Parkplätzen. Sportlich-lässig gekleidete Mütter und einige Väter mit uniformen Hipsterbärtchen betreuten auf einem Spielplatz ihre Kleinkinder. Tobias steuerte auf ein Endreihenhaus zu und betätigte die Türklingel. Herr Blume, ein grauhaariger Mann um die 70, öffnete die Tür, begrüßte Max mit einem kräftigen Händedruck und bat ihn herein. Als Max die Diele betrat, erblickte er Frau Blume, die ihm freundlich zunickte. Anschließend umfasste sie mit ihrer rechten Hand langsam den Steuerknüppel ihres Rollstuhls und fuhr in das Wohnzimmer. Max folgte ihr und nahm am Wohnzimmertisch Platz, wo ihm Herr Blume einen Kaffee und etwas Gebäck anbot. Das folgende Gespräch verlief recht unkompliziert, wie dies wohl immer der Fall ist, wenn Menschen bereit sind, bei ihrer ersten Begegnung offen und zuvorkommend miteinander zu kommunizieren. Herr Blume befragte Max nach seiner Person und Herkunft und dieser berichtete artig: Ja, er sei 18 Jahre alt und fühle sich in München wohl. Er wohne zum ersten Mal in einer WG mit zwei weiteren jungen Männern. Und wirklich, er komme tatsächlich aus dem hohen Norden, nämlich aus Heiligenhafen. Er habe in Oldenburg (in Holstein) Abitur gemacht und sei nun froh, in einer größeren Stadt zu wohnen. Herr Blume vermochte Max´ Heimatstadt geographisch zunächst nicht einzuordnen:

„Eine Kleinstadt direkt gegenüber Fehmarn? Diese Insel kenne ich natürlich. Zählt man dort nicht deutschlandweit die meisten Sonnenstunden im Jahr?“

Max bejahte dies nicht ohne Stolz.

„Vermisst du denn nicht Norddeutschland und die Ostsee?“

„Ach, vermissen ist so ein Wort“, antwortete Max um Abgeklärtheit im Ton bemüht. „Heiligenhafen ist zwar eine wirklich hübsche Kleinstadt. Ich bin aber erst einmal froh, dieses Provinznest verlassen zu haben.“

„Ich stelle mir diesen Ort wie ein kleines Idyll vor: das Meer, kreischende Möwen, Sandstrände, erfrischende Salzluft, Segelboote, kräftiger Wind, Ruhe und Entspannung …“

„Das gilt“, unterbracht ihn Max, „nur für die Nebensaison. Von Juni bis August tummeln sich dort unzählige Touristen, die in den wenigen Cafés sitzen, alle Parkplätze blockieren sowie Radwege und Fußgängerwege verstopfen. Und ich sagen Ihnen: Nicht alle sind nett. Ich könnte Ihnen einige deftige Geschichten von Bekannten erzählen, die dort ihre Ferienwohnungen vermieten. Und wie sich manche anziehen bzw. nicht anziehen und dann einkaufen gehen: Schön sieht das oft nicht aus!“

„Ja, der Sommer steht nicht jedem. Und ich habe gemessen an der ganz Piercing- und Tätowierungsbarbarei sogar den Eindruck, dass der Sommer vielen Menschen Jahr um Jahr weniger steht.“

Da diese Bemerkung niemanden zum Lachen, aber das Gespräch zum Stocken gebracht hatte, schlug Herr Blume vor, gemeinsam durch das Haus zu gehen, um Max mit dem neuen Arbeitsplatz vertraut zu machen. Sie erhoben sich von den Stühlen. Frau Blume blieb allein im Wohnzimmer zurück. Max besichtigte ein Haus, das den Erfordernissen einer Querschnittsgelähmten in vollem Umfang entsprach: Extra breite Türen sowie überall Teppichböden, auf denen der Rollstuhl sanft entlanggleiten konnte. Von dem geräumigen Wohnzimmer führte eine Wandeltreppe zum Arbeits- und Schlafzimmer von Herrn Blume. Seine Frau besaß ein eigenes Zimmer im Erdgeschoss, in dessen Mitte ein Bett stand, das sich in beliebige Höhen stellen ließ. Das Zimmer besaß auch all das, was man - abgesehen von dem Geruch von Hygieneartikeln, Desinfektionsmitteln und Urin - bei einem Rollstuhlfahrer erwartet. Dort befanden sich u.a. ein sogenannter „Lifter“ mit Tragesack zum Heben des Körpers in Bett oder Rollstuhl, eine Klingel, ein Schrank mit allerlei Windeln, Handschuhen, Desinfektionsmitteln, Unterlagen, Verbänden, Abführmitteln, Tabletten, Spritzen gegen Thrombosen usw.; dazu eine Stereoanlage, ein CD-Player und natürlich ein Fernseher gegen die Langeweile, Schlaflosigkeit und Eintönigkeit des Daseins. Direkt neben Frau Blumes Zimmer befand sich ein Raum, in dem die Pfleger nicht nur pausieren und lesen konnten, sondern auch die Nachtschichten verbrachten und auf das Läuten der Klingel warteten. Gegenüber diesem Zimmer befand sich ein großes Badezimmer, in dem man Frau Blume baden konnte. Dort stand auch ihr `Schiffchen´, ein Plastikschälchen zum Urinlassen. Das Haus besaß sogar einen eigens für den Rollstuhl installierten Aufzug, sodass Frau Blume in den Keller gelangen konnte.

Nach der Hausbesichtigung sagte Tobias zu Max:

„Lass uns in die Küche gehen. Dort werden wir das Essen für Frau Blume zubereiten. Danach bringen wir sie ins Bett.“

„Ist für den Küchendienst denn nicht Herr Blume zuständig?“

„Nein. Frau Blume wird mit dir kochen. Sie wird dir bei der Zubereitung eines jeden Gerichts genaue Anweisungen geben, was du zu tun hast. Frau Blume hat sehr gerne gekocht, als sie sich noch bewegen konnte.“

„Aber davon war bislang nicht die Rede gewesen. Sehen wir mal, ob das klappt.“

„Da braucht man gar nichts zu sehen. Das wird klappen. Du musst nur aufmerksam zuhören.“

„Was willst du damit sagen?“

„Was ich sagen will? Du bist in gewisser Weise Frau Blumes Handlanger! Frau Blume wird dir auftragen, wie viele Kartoffeln, wieviel Gramm Reis oder Nudeln, wieviel Löffel Zucker oder Salz verwendet werden. Damit hat ganz unter uns“ – Tobias wurde leise - „auch Frau Blume noch das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Also sei nicht so empfindlich! Außerdem lernst du dabei kochen. Das ist so, als wenn du damals beim Bund einen LKW-Führerschein gemacht hättest.“

Max schwieg. Tobias´ ruppige Worte missfielen ihm. Allerdings hatte er nicht ganz Unrecht. Max´ Kochkünste beschränkten sich bislang auf das Aufwärmen von Dosen, das Kochen von Nudeln oder das Braten von Spiegeleiern. Seine Großmutter hatte bis zu ihrer Herzoperation für ihn gekocht, gewaschen, gebügelt und eingekauft. Trotzdem fand er es etwas merkwürdig, nun auch für die Küchenarbeiten zuständig zu sein. Max riss sich aber zusammen und sah dabei zu, wie Tobias zwei Brote zubereitete und in Stücke schnitt.

„Leberwurstbrote mag Frau Blume besonders gern. Dazu trinkt sie abends Kamillentee.“

„Isst Herr Blume denn nicht mit seiner Frau zusammen?“

„In der Regel schon. Heute aber war einer der Söhne zu Besuch, mit dem Herr Blume bereits gegessen hat. Der Alte ist Diabetiker und muss auf seine Figur achten. Daher wird er vermutlich auch nicht mehr viel essen. Seinen Sohn wirst du übrigens gleich kennen lernen. Er ist soeben gekommen.“

„Isst Frau Blume auch manchmal auswärts?“

„Natürlich!“

„Und wie schaffen sie das? Ich meine, wie kommen sie in ein Restaurant?“

„Natürlich könnte sie die U-Bahn benutzen. Aber die mag Frau Blume nicht so gerne, was nicht nur an den oft vollen Wagen, sondern auch an den Leuten liegt, die sich nicht immer respektvoll verhalten. Da sitzt manchmal ein ignorantes Pack herum, dass man es nicht glauben mag. Die Blumes besitzen einen Transporter, in dessen hinterem Teil der Rollstuhl festgemacht werden kann. Im Wagen gibt es sogar eine Liege, auf der sie sich gelegentlich ausruht. Hast du den gelben Mercedes draußen gesehen? Er stand auf einem der Parkplätze. Gefahren wird er von Herrn Blume und den Helfern. Du wirst dies wohl auch machen dürfen, wenn du einen Führerschein besitzt.“

Tobias stellte einen Becher Tee sowie den Brotteller auf ein Tablett. Darauf ging er mit Max in das Zimmer von Frau Blume, die sich mit ihrem Sohn unterhielt. Als dieser Max und Tobias sah, stand er auf und ging einen Schritt auf Max zu.

„Herzlich willkommen! Ich freue mich, dich kennen zu lernen. Ich heiße Gernot. Es ist schön, dass du meine Mutter pflegen wirst.“

Max imponierte die herzliche Offenheit des Sohnes, dessen Alter er auf Mitte 30 schätzte. Mindestens ebenso imponierend empfand er Gernots Äußeres, da er fast zwei Meter maß und sicher über zwei Zentner wog.

„Ich unterhalte mich gerade mit meiner Mutter über den Urlaub, den sie seit vielen Jahren verbringen möchte. Sie wünscht sich, noch einmal zu den Schlössern der Loire sowie auf einen Nudistencampingplatz an der Atlantikküste südlich von Bordeaux zu fahren. Wir haben dort in meiner Kindheit und Jugend viele Sommerurlaube verbracht. Vielleicht bietet sich hierzu irgendwann eine passende Gelegenheit.“

Gernot hatte sich bereit erklärt, den bevorstehenden Nachtdienst bei seiner Mutter selbst zu übernehmen. Dies geschah gelegentlich, wenn er in München seine Eltern besuchte. Gernot war mit allen Pflegeabläufen vertraut, weil er seinen Zivildienst im Jahre 2005 bei seiner Mutter geleistet hatte. Mittlerweile arbeitete er als Anästhesist in Kempten, wo er mit seiner Freundin wohnte. Trotz seines vollen Terminkalenders versuchte er aber mindestens einmal im Monat nach München zu kommen. Max schaute noch zu, wie Gernot seine Mutter auskleidete und zu Bett brachte. Anschließend verabschiedete er sich und verließ das Haus. Er atmete die Nachtluft ein und zündete sich auf dem Weg zur S-Bahn eine Zigarette an. Zufrieden resümierte er, dass der vergangene Arbeitstag ein gelungener Einstieg gewesen war. Frau Blume wirkte freundlich und zuvorkommend. Auch Herr Blume verhielt sich höflich und besaß gute Umgangsformen. Beide wirkten kultiviert und weltoffen. Das Haus war geräumig, modern eingerichtet und noch wichtiger: Es strahlte eine Wärme aus, die dem 18-jährigen jungen Mann, der aus der Provinz in diese große, anonyme Stadt gekommen war, sehr gut tat. Es hätte wahrlich anders kommen können. Auf ihn warteten daheim ein oder zwei Dosen Bier und ein Fußballspiel im Fernsehen.

Als Max nach Hause kam, verflog allerdings seine Freude. Beim Betreten seiner Wohnung stieg ihm ein unangenehmer Knoblauchgeruch in die Nase. Jonas hatte einige Bekannte eingeladen, die die Küche und das Wohnzimmer belagerten und offensichtlich jede Menge dieser aufdringlich riechenden Wunderknolle zum Kochen benutzt hatten. Die Türen standen offen, eine junge Frau spielte auf Jonas´ Gitarre. Ein ungestörter Abend stand Max leider nicht bevor. Weil der Fernseher in der Küche stand, konnte er auch das Fußballspiel nicht sehen. Christian schien sich rechtzeitig aus dem Staub gemacht zu haben. Max ärgerte sich, weil er allein sein wollte. Nicht immer gestaltete sich das Leben in einer WG angenehm. Er betrat die Küche, um sich eine Dose Bier zu holen, plauderte etwas angestrengt und hastig mit Jonas und den Gästen und ging dann in sein Zimmer. Er schloss die Tür, steckte sich auf dem Balkon eine Zigarette an und hörte noch etwas Musik.

Am nächsten Morgen klingelte der Wecker sehr früh. Nach einer heißen Dusche und einer Tasse Kaffee verließ Max das Haus und rannte zum Petuelring, wo er sich eine Brezel kaufte und dann in die U-Bahn stieg. Beim Marienplatz musste er in die S-Bahn umsteigen. Max´ schlechte Laune des Vorabends war verflogen. Er fühlte sich an diesem Morgen weltläufig und weltmännisch. München und nicht Heiligenhafen! Endlich der Provinz entkommen! Keine Landbusse mehr und Haltestellen, bei denen es nach dem Öffnen der Türen nach Landluft roch. Keine Shanty-Chöre und Feuerwehrübungen bei überfüllten Hafengeburtstagen! Keine aufgedunsenen und tätowierten Touristen, die sich mit ihren blondierten und gepiercten Frauen durch die kleine Heiligenhafener Innenstadt schoben, immer auf der Suche nach einem Imbiss oder Schnäppchen. Keine neureichen, aufgeblasenen, arroganten Segler, die vielfach kaum segelten, sondern zumeist im Hafen blieben und ihre Zeit kramend zwischen Tauen, Kaffeetassen und Sitzkissen verlebten. Stattdessen ein Gewirr verschiedener Mundarten und Sprachen und vor allem viele attraktive Frauen. Wenn ihn doch seine alten Freunde sehen könnten, vor allem Kathrin, die ihn bei seiner Abfahrt nach München nicht verabschiedet, sondern den Kontakt mit ihm abgebrochen hatte! Sie hätte er gerne beeindruckt. Was hatte er ihr nur getan, dass sie nach dem Suizid ihres gemeinsamen Freundes nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte? Schließlich war er ja nicht für das Unglück im Frühsommer verantwortlich.

Als Max das Zimmer von Frau Blume betrat, roch es nach Urin, Waschmitteln und Desinfektionsmitteln, dem charakteristischen `Odeur´ eines Pflege- und Krankenzimmers. Max erschien rechtzeitig zur Morgentoilette. Frau Blume hob den Kopf, nickte ihm zu und ließ dann ruhig das Waschen über sich ergehen. Max empfand keinen Ekel, was zumindest nicht abwegig gewesen wäre. Schließlich lag auf dem Bett eine über 60-jährige Frau, deren Körper nicht nur jede Beweglichkeit, sondern auch Spannkraft verloren hatte. Max war fasziniert, wie unaufgeregt und entspannt sich die Pflegetätigkeit vollzog. Während Gernot den Waschlappen behutsam über Gesicht, Hals, Brüste, Bauch, Rücken, Gesäß und Geschlecht des welkenden Körpers gleiten ließ, erzählte er irgendeine recht belanglose, amüsante Begebenheit, an der seine Mutter offenkundig ihre Freude hatte. Unterbrochen wurde diese Erzählung durch kurze Ratschläge Gernots an Max, auf verschiedene Aspekte während des Waschvorgangs in besonderer Weise zu achten. Nach dem Eincremen des vom permanenten Liegen wunden Gesäßes und einer Spritze gegen eine Thrombose wurde Frau Blume angekleidet und mittels eines Tragesacks und Lifters in den Rollstuhl gehoben. Die linke Hand, die gelegentlich zu einem Spasmus neigte, wurde mit einem Gurt an der Armlehne befestigt. „Fertig“ konstatierte Gernot nach der rund 45 Minuten dauernden Pflege. Darauf ging er in die Küche, um seiner Mutter einen Becher Kaffee zu holen. Max blieb mit ihr im Raum zurück und wartete etwas verlegen. Frau Blume schien ihm etwas sagen zu wollen, sank aber ermattet zurück. Sie zeigte aber mit ihrem Finger auf das Rollstuhltischchen. Max staunte: Dort war ein Alphabet abgedruckt! Frau Blume zeigte auf verschiedene Buchstaben in folgender Reihenfolge: G-U-T-E-N M-O-R-G-E-N. In diesem Moment betrat Gernot wieder das Zimmer:

„Wie schön, meine Mutter benutzt also wieder ihr Morsesystem. Hast du herausgefunden, was sie dir mitgeteilt hat?“

„Ja, natürlich.“

„Prima! Wenn meiner Mutter mal die Puste beim Sprechen ausgeht, kann sie dir auf diese Weise schnell etwas mitteilen.“

Darauf führte Gernot den Becher an den Mund seiner Mutter, gab ihr behutsam zu trinken und hielt dabei eine Serviette unterhalb des Kinns.

„Achte darauf, dass meine Mutter den Kaffee niemals schwarz, sondern mit einem Schuss Milch und einem Teelöffel Zucker zu sich nimmt.“

Frau Blume trank langsam, aber mit sichtlichem Genuss. Als sie den Kaffeebecher geleert hatte, stellte Gernot seiner Mutter einen Laptop auf den Rollstuhltisch.

„Hier tippt meine Mutter mit einem Finger jeden Morgen etwas ein, wie beispielsweise Gedanken oder Kochrezepte. Stimmt´s Mama?“

Frau Blume nickte.

„Wir lassen dich ganz kurz allein, sind aber gleich wieder da.“

Gernot führte Max in das Pflegezimmer und schloss leise die Tür.

„Wie du gestern und auch heute gemerkt hast, kann meine Mutter - freundlich ausgedrückt - nicht besonders gut reden. Das sind die Folgen eines Luftröhrenschnitts, der nach einer Operation durchführt werden musste. Es gibt Tage, an denen meine Mutter guter Dinge ist und ganze Sätze in relativ kurzer Zeit einigermaßen deutlich sprechen kann. Aber an manchen Tagen ist sie müde, kraftlos und deprimiert. Dann kommuniziert sie mittels des Alphabets auf dem Tischchen.“

„Besteht die Möglichkeit, dass deine Mutter irgendwann einmal wieder besser sprechen kann?“

„Nein. Dies ist leider ausgeschlossen. Du wirst dich bei deiner Tätigkeit an die Langsamkeit mancher Bewegungs- und Handlungsabläufe gewöhnen müssen. Ich weiß, dass das durchaus anstrengend sein kann. Aber ich bitte dich, mit meiner Mutter geduldig zu sein. Wenn du sie näher kennen lernst, wirst du merken, dass sie am meisten darunter leidet, anderen zur Last zu fallen.“

Gernots Worte irritierten Max, weil es dieser Bitte gar nicht bedurft hätte, zumal er sehr viel Respekt vor Frau Blume empfand. Dennoch hatte er das Gefühl, gegenüber dem Sohn seine guten Vorsätze auch deutlich artikulieren zu müssen.

„Du kannst dich darauf verlassen, dass ich nicht die Geduld verlieren werde. Jedenfalls habe ich mir das fest vorgenommen.“

„Danke!“, erwiderte Gernot. „Wenn du etwas Geduld aufbringst, erwartet dich eine nicht unangenehme Zeit in diesem Haus. Da bin ich mir sehr sicher.“

Darauf gingen sie in Frau Blumes Zimmer zurück, die langsam und offenbar mit großer Konzentration und Anstrengung einzelne Buchstaben in den Computer eingab. Sie war so vertieft in ihre Tätigkeit, dass sie das Erscheinen der beiden anfangs nicht bemerkte. Erst nach dem Ruf von Herrn Blume, endlich zum Frühstück zu kommen, schaute sie auf. Gernot trat an seine Mutter heran, nahm den Laptop vom Rollstuhltischchen und stellte ihn ins Regal. Frau Blume fuhr darauf mit dem Rollstuhl durch den länglichen Flur in das Wohnzimmer, in dem Herr Blume bereits das Frühstück bereitet hatte. Nachdem seine Frau offenbar ihren Stammplatz angesteuert hatte und am Tisch zum Stehen gekommen war, nahmen ihr Sohn, dann ihr Mann und schließlich Max Platz. Dieser schaute vor allem zu, wie Gernot seine Mutter versorgte, was offenbar nach einem festen Schema ablief: Essenswunsch erfragen, Brot mit Aprikosenmarmelade (die sie besonders mochte) beschmieren, gesüßten Kaffee mit Milch einschenken und anschließend wie ein Kind langsam und geduldig füttern: Brot abbeißen lassen, Mundwinkel abwischen, Brotreste vom Pullover schütteln, Kaffee reichen, wieder abwischen und so weiter. Max fragte sich, ob man bei einer derartig langsamen Nahrungsaufnahme überhaupt Genuss empfinden könne. Währenddessen erzählte Herr Blume seiner Frau von einem Anruf einer gemeinsamen Freundin, die in irgendeinem afrikanischen Land gerade eine Safari machte und sich seiner Meinung nach unnötig in eine Gefahrenregion begeben habe. Frau Blume nickte und rollte dabei die Augen, was offenbar Missbilligung signalisierte. Viel wichtiger war ihr aber der Blickkontakt zu Max, durch den sie ihn aufforderte, doch auch seine eigenen Brötchen aufzuessen. Obwohl Max Hunger verspürte und bei guter Kondition durchaus sechs Brötchen vertilgen konnte, beschränkte er sich aufgrund seines Gefühls, höflich bleiben zu müssen, auf lediglich zwei Brötchen. Nach dem Frühstück brachte Gernot seine Mutter ins Zimmer, weil sie den Heilpraktiker erwartete. Herr Blume führte derweil Max in den Keller.

„Wie du siehst, besitzt meine Frau einen eigenen Aufzug, mit dem sie in den Keller fahren und zum Vorratskeller gelangen kann. Denn nach wie vor soll sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Küche und die Verpflegung zuständig sein. Ich versuche damit, etwas Vertrautes aus dem vergangenen Leben in das jetzige Dasein hinüberzuretten. Denn vor ihrem Unfall hat sie – neben ihrer Halbtagsstelle als Chemikerin - unseren Haushalt geführt. Deshalb soll sie auch ihren eigenen Zuständigkeitsbereich haben. Du wirst also mit ihr ab und zu in den Keller fahren und sichten, was von mir eingekauft werden muss. Die Einkäufe erledige immer ich.“

Als sie gemeinsam im Aufzug heruntergefahren waren, wurde Max ein sehr ordentlicher und sauberer Keller präsentiert. Max empfand allerdings angesichts der monologisierenden Erklärungen von Herrn Blume, der sich detailliert über das Beschaffen und Lagern von Lebensmitteln in Vorratsräumen äußerte, ein zunehmendes Unbehagen. Erlöst fühlte sich Max erst durch das Läuten der Türglocke, die Tobias´ Ankunft ankündigte. Der erfahrene Pfleger trat den Tagdienst an und vermittelte Max weitere wichtige Informationen und Tipps zur Pflege und Betreuung. Dies betraf etwa das Putzen der Zähne, das Verabreichen des `Schiffchens´, das Abführen, das Säubern, das Wechseln einer Windel im Rollstuhl, die Unternehmung eines Spaziergangs bzw. einer Spazierfahrt, die gemeinsame Benutzung von Rolltreppen oder die gemeinsame Fahrt im großen Wagen. Am späten Nachmittag wurde mit dem Kochen des Abendessens begonnen. Frau Blume gab Anweisungen, die Max einzeln ausführen musste: Wasser aufsetzen, etwas Öl und Salz ins kochende Wasser träufeln lassen, anschließend 500 Gramm Nudeln hinzugeben, die Mehlschwitze bereiten usw. Es war nicht verwunderlich, dass die Zubereitung eines einfachen Nudelgerichts mit Salat und etwas Fleisch fast eine Stunde in Anspruch nahm. Max bemühte sich aber fast schon selbstvergessen, jeder Weisung und Bitte von Frau Blume Gehör zu schenken und sich ganz in die Rolle des eifrig lernenden Küchenadepten zu begeben. Das Annehmen dieser Rolle fiel ihm nicht besonders schwer, zumal er etwas Neues lernen konnte. Aber auch Frau Blume verhielt sich bei dieser Tätigkeit anfangs auffallend fröhlich. Vermutlich stellte der Küchendienst eine der wenigen Situationen dar, in der sich Frau Blume noch wirklich nützlich fühlen konnte. Oder auch nur - Frau Blume war nämlich eigentlich viel zu intelligent für diese Rollenspielchen – ihrem Umfeld zuliebe diese Rolle authentisch annahm. Erst am Ende des FSJ, so in den letzten zwei, drei Monaten, löste sich dieses Einverständnis etwas auf. Max kannte nach einem Dreivierteljahr fast jedes ihrer Rezepte, wusste, wieviel Sahne, Käse, Salz oder Zucker Frau Blume zum Würzen oder Süßen einer Speise verwendete, und wurde zunehmend ungeduldig. Frau Blume merkte dies schnell und verließ dann auch häufiger schon früher die Küche. Dennoch verband in den ersten Monaten gerade diese Essenszubereitung Frau Blume und Max. Dies war eine Phase, in der beide gleichrangig an einem Produkt arbeiteten und sich nicht nur als Pfleger und Pflegepatient gegenüberstanden bzw. -saßen. Auch wenn dieses erarbeitete `Produkt´ beim Essen ein manchmal zu mechanisches Lob „Lecker Iris!“ des Ehemanns erhielt, so war es doch zumeist bekömmlich und schmackhaft.

Max mit Sartre im Freiwilligen Sozialen Jahr

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