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Als das Handy in meiner Sakkotasche klingelte, zog Eveline die Augenbrauen hoch. „Keine Handys am Esstisch“, so lautete eigentlich unsere bewährte Familienregel. Das galt besonders bei meinen Schwiegereltern, sonntags beim Mittagessen. Daran hielt sich selbst Johanna, die immer geduldig bis zum Nachtisch wartete, bevor sie sich mit ihrem Handy in den Garten oder aufs Sofa zurückzog.

Heute war Johanna nicht dabei, sie hatte bei einer Freundin übernachtet. Von ihr kam der Anruf, wie ich jetzt sah, vielleicht war sie schon zu Hause und wollte sich zurückmelden. Ich hielt das Handy ans Ohr und verließ das Zimmer.

„Papa, stell dir vor, was passiert ist!“ Johanna klang ziemlich aufgeregt. „Ich bin gerade nach Hause gekommen und wollte mir aus dem Keller eine Flasche Mineralwasser holen. Da sehe ich, dass dort unten das Licht brennt, ich hab mich gewundert und bin leise runtergegangen – und dann sitzt dort ein Typ am Tisch!“

„Was für ein Typ?“

„Ich weiß nicht, ein Mann eben. Er sitzt da am Tisch, trinkt Wein und blättert in irgendeiner Zeitschrift ... Ich bin ganz schnell wieder hoch und habe die Kellertür abgeschlossen. Zweimal.“

Ich erklärte ihr ruhig, dass sie alles richtig gemacht habe und jetzt kein Grund mehr zur Panik bestehe.Wir würden sofort aufbrechen und spätestens in einer Viertelstunde zu Hause sein.

„Shit“, sagte ich, als ich an den Tisch zurückging, „zu Hause hat sich ein Malheur ereignet. Hanna hat beim Nachhausekommen festgestellt, dass unsere Waschmaschine ausgelaufen ist und jetzt der halbe Keller unter Wasser steht!“

Dabei blickte ich Eveline so intensiv an, dass sie ihren Widerspruch, der ihr auf der Zunge lag, unterdrückte.

„Ach Gott, das alte Ding“, sagte sie, „da sollten wir uns gleich mal um die Überschwemmung kümmern.“ Sie stand auf und begann ein paar Teller einzusammeln.

„Lass das doch, Kind“, sagte ihre Mutter, „das mach ich schon. Geht nur gleich nach Hause.“

„Wieder mal die Technik“, seufzte ihr Vater, „immer funkt sie einem dazwischen. Lasst uns aber heute Abend wenigstens noch mal telefonieren.“

Bereits auf dem Weg zum Auto klärte ich Eveline über den wahren Inhalt des Telefongesprächs auf.

„Wer kann das sein?“, fragte sie, als wir im Wagen saßen und starteten. „Was will der Mann in unserem Haus? Das ist doch Wahnsinn! Kannst du dir einen Reim darauf machen?“

Ich schwieg.

„Ein Einbrecher verhält sich doch nicht so, oder?“

„Glaub ich auch nicht. Hanna sagt, er sitzt hinter der verschlossenen Kellertür und rührt sich nicht. Wir werden es ja gleich erfahren.“

„Wir müssen die Polizei rufen.“

„Lass uns doch erst mal nach Hause fahren, die Lage sondieren. Vielleicht gibt es ja eine harmlose Erklärung.“

„Ich ruf Hanna noch mal an.“ Sie nahm ihr Handy heraus und drückte die Tasten. „Mäuschen, geht es dir gut? ... Okay ... ich weiß auch nicht ... ja, wir sind schon unterwegs. Wir überlegen dann erst mal ... Bleib bitte vom Keller weg ... Geh doch vors Haus und warte dort auf uns ... Bis gleich. – Also nichts Neues“, sagte sie zu mir gewandt.

Ich nickte.

„Ich verstehe nicht, wie du so ruhig bleiben kannst“, sagte sie ungeduldig.

„Ich bin überhaupt nicht ruhig. Ich denke nur, dass es nicht nötig ist, jetzt schon die Polizei zu rufen.“

„Wieso ... Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung.

Ich konzentrierte mich einen Moment lang auf den Verkehr. „Evi, ich weiß so wenig wie du, wer das ist, aber ich könnte mir vorstellen, dass es jemand ist, den ich kenne.“

„Den du kennst? – Wer würde so etwas tun? Einfach ins Haus spazieren? Wie ist er überhaupt hineingekommen?“

„Vielleicht über den Garten. Wahrscheinlich war das Tor nicht abgeschlossen und Hanna hat die Terrassentür aufgelassen. Jedenfalls hätte sie einen Einbrecher doch sicher gehört. Ich glaube, der wollte einfach nur zu uns.“

„Sascha, du machst mich verrückt! Von wem sprichst du? Wer sitzt da in unserem Keller?“

Ich wollte Eveline nicht noch nervöser machen.

„Hör zu, ich vermute, dass es ein alter Freund ist. Ich meine ... ein Schulkamerad aus Frankfurter Zeiten. Ja, pass auf, kürzlich ist er mir nämlich in der Galerie Weinbrenner über den Weg gelaufen. Er heißt Frank. Ich habe ihn seit Ewigkeiten nicht gesehen. Wir haben kurz miteinander gesprochen, er hat sich sehr gefreut und ich habe ihm meine Visitenkarte gegeben. Er erzählte etwas von Schauspielerei, und da dachte ich an deine Theatergruppe und wollte ihm behilflich sein. Ich meine, ich habe nicht angenommen, dass er gleich zu uns nach Hause kommt.“

„Und du meinst, der könnte das sein? Aber wie kommt er dazu in unser Haus einzudringen, wenn wir nicht da sind?“

Darauf wusste ich nichts zu sagen.

Wir bogen bereits in den Albring ein und fuhren die kleine Auffahrt hoch.

Beim Aussteigen wurde mir wieder bewusst, wie schön unser Haus war, wie gut erhalten die alte Villa aussah, die weiß gekalkten Wände, der grüne Baldachin über dem Eingang, die mit Backsteinen eingefassten Fenster. Evelines Eltern hatten dreißig Jahre darin gewohnt, bevor sie in eine altersgerechte Parterrewohnung in der Innenstadt umzogen und uns das Haus überließen. Von der nahen Alb wehte eine frische Brise herüber und das konstante Rauschen des Wehrs klang vertraut.

Johanna stand ungeduldig vor der Haustür und schaute uns entgegen.

„Alles klar?“, fragte ich, während ich die Eingangsstufen hoch hastete.

„Johanna-Schätzchen, Papa wird schon alles regeln“, hörte ich Eveline hinter mir sagen.

Johannas Blick war vorwurfsvoll, wie ich im Vorbeigehen feststellte. Ich ging direkt auf die Kellertür zu und drehte den Schlüssel um.

„Wartet hier, ich bin gleich zurück.“

„Aber Papa, das ist doch gefährlich!“

„Glaube ich nicht. Nicht, wenn es Frank ist.“

„Frank? Was denn für ein Frank? Heißt das, du kennst ihn?“

Ich blinzelte ihr aufmunternd zu, zog die schwere Holztür auf und trat auf die Treppe.

Frank war nur irgendein Schulfreund. Ich hatte zu keinem meiner früheren Kameraden noch Kontakt. In der Galerie hatte er mit einer älteren Frau zusammengestanden, Frau Hauser, die häufiger auf Vernissagen ging und mit der ich hin und wieder ein paar Worte wechselte. Als ich Frank neben ihr sah, fiel er mir zuerst gar nicht auf. Aber er sprach mich an und sagte, wir würden uns kennen.

Normalerweise passierten mir solche Zufallsbegegnungen nicht. Es war eher so, dass mir bei kulturellen Veranstaltungen die üblichen Verdächtigen über den Weg liefen. Ich hatte keinen alten Schulfreund in all den Jahren je wieder getroffen. Die meisten waren sowieso in Frankfurt geblieben.

Noch seltener allerdings setzte sich ein alter Klassenkamerad ungebeten in den Keller unseres Hauses und wartete auf mein Kommen.

Wir hatten den Keller nicht umgestaltet, seit Evelines Eltern ausgezogen waren, so dass nach wie vor ein Eichentisch in der Mitte stand, um den ein paar schwere Stühle aufgereiht waren. Hinten gab es eine Eckbank. Es hingen auch einige alte Ölbilder an den Wänden.

Frank saß an der vorderen Stirnseite, mit dem Rücken zum Weinkühler, aus dem er sich bereits bedient hatte. Er drehte sich zu mir um und lächelte, als rechne er mit meinem Wohlwollen.

„Was machst du hier?“, fragte ich.

Vor ihm stand ein Glas Wein, daneben lag der Korkenzieher. Er hatte sich einen Müller-Thurgau geöffnet.

„Hi“, sagte er. „Ich wollte zu dir. Aber jemand hat die Tür abgeschlossen.“

„Das war Johanna. Was glaubst du, sie hat dich für einen Einbrecher gehalten!“

„Das wollte ich nicht“, sagte er mit bekümmerter Miene.

„Ich habe mich übrigens ein wenig bedient, um die Wartezeit zu verkürzen. Ich hoffe, du bist mir nicht böse.“

Ich wartete einen Moment.

„Hör mal, das geht nicht. Du kannst nicht hier herein spazieren und einfach Platz nehmen ...“

„Ich weiß“, unterbrach er mich und stand auf. „Blöd von mir euch einen Schrecken einzujagen. Ich war so fasziniert von diesem schönen alten Haus und eurem herrlichen Garten. Ich war sicher, ihr wärt daheim. Ich habe ein paar Mal laut gerufen, aber keiner hat mir geantwortet, während ich zur Terrasse ging. Dann bin ich auf die Kellertür gestoßen. Die musste ich einfach öffnen und schauen, was es sonst noch Schönes gibt.“

Mir fiel ein, dass Frank schon früher nie um Ausreden verlegen gewesen war. Er konnte einen mit seiner angenehmen Stimme durchaus in Bann ziehen.

„Pass mal auf“, sagte ich und schüttelte den Kopf, „wir haben uns ewig nicht gesehen, treffen uns zufällig irgendwo in der Stadt, und dann kommst du her, ohne vorher anzurufen, und dringst einfach ins Haus ein. Ich fasse es nicht!“

„Sorry, Sascha“, murmelte er.

Ich ging an den Tisch, nahm den Korkenzieher, drehte den Korken heraus und steckte ihn auf die Weinflasche. Dann stellte ich die Flasche zurück in den Weinkühler.

Verlegen lächelnd stand er vor mir. Er trug ein dunkles Sakko, war schlank und sah immer noch recht jung aus. Sein locker gescheiteltes dichtes Haar war schwarz, ohne eine Spur von grau. Er hatte früher schon gut ausgesehen und hatte sich seine Ausstrahlung bis heute bewahrt. Allerdings fiel mir auf, dass er erschöpft wirkte. Seine Haut war blass. Alles in allem kam er mir ausgelaugt vor.

„Also wirklich, was hast du dir dabei gedacht?“

„Tut mir leid“, wiederholte er, seine Stimme verfiel in einen leiernden Singsang, „tut mir echt leid.“

Ich machte kehrt und ging nach oben; er folgte mir die Treppe hinauf, während er sich zum dritten Mal entschuldigte.

Irgendwie fühlte ich mich für sein Hiersein verantwortlich. Oben bog ich in die Diele ab, öffnete die Zwischentür und wartete, dass er kam. Aber er hatte Eveline und Johanna bemerkt, die im Wohnzimmer am Tisch saßen, und ich konnte nicht verhindern, dass er ins Zimmer ging, sich fast auf Eveline stürzte und ihr seine Hand hinstreckte.

„Frank Kalina“, sagte er, „Sie müssen entschuldigen, Frau Fehrmann, dass ich Sie – und Ihre Tochter – erschreckt habe.“ Dabei beugte er sich auch zu Johanna und wollte ihr ebenfalls die Hand geben, doch Johanna blieb mit verschränkten Armen sitzen.

„Moment mal, warum Kalina?“, sagte ich hinter ihm. „Du heißt doch Steiner.“

„Ist der Name meiner Ex-Frau“, sagte er halblaut in meine Richtung. „Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie in Aufregung versetzt habe“, wandte er sich wieder an Eveline. „Ich wollte eigentlich mit Ihnen sprechen. Sascha hat mir gesagt, Sie leiten eine Theatergruppe?“

Eveline musterte ihn fragend.

Er erwiderte ihren Blick, offensichtlich beeindruckt von ihrem guten Aussehen, den kurzen blonden Haaren, ihrer schlanken Gestalt.

„Sie interessieren sich fürs Schauspielen?“

„Ich bin Schauspieler“, sagte er freudestrahlend, „aber leider habe ich lange, lange pausieren müssen ... Tja, und jetzt bin ich seit einem Monat in Karlsruhe und erfahre durch Sascha von Ihrer Theatergruppe. Die würde ich mir liebend gerne einmal anschauen.“

„Aha“, sagte Eveline und ließ einen Moment verstreichen. „Wenn Sie wollen, können Sie ja mal vorbeikommen.“

„Mama!“, protestierte Johanna.

Bevor ich etwas dazu sagen konnte, drehte er sich zu mir um und streckte mir die Hand hin.

„Nichts für ungut, Sascha!“

Er schien es auf einmal eilig zu haben und drängte mich aus dem Wohnzimmer. In der Diele unter dem Kronleuchter richtete er seinen durchdringenden Blick auf mich. „Sei mir nicht böse, dass ich heute diese Unordnung angerichtet habe. Das wollte ich wirklich nicht.“

„Schon gut.“

Ich öffnete die Wohnungstür und er ging an mir vorbei ins Freie.

„Ich melde mich wieder, Sascha.“

Ich sagte nichts dazu und schloss die Tür.

Der Gestrandete

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