Читать книгу Der Gestrandete - Volker Kaminski - Страница 6

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In der Theatergruppe freuten sich alle über Franks engagierte Teilnahme. Eveline sagte, es gehe ein neuer Wind durch die Gruppe, die Arbeit intensiviere sich, durch Franks Beitritt habe sich alles verändert.

Er hatte ihnen ein ungewöhnliches Werk als neues Projekt vorgeschlagen: „Die Elixiere des Teufels“ von E.T.A. Hoffmann, ein düsterer, schwer lesbarer Roman aus der Weltliteratur, den er eigenhändig fürs Theater adaptiert hatte und über den sie nun diskutierten.

Ich blieb weiterhin auf Distanz zu ihm und wollte mich nicht mit ihm befassen. Nach seiner Umarmung im Bistro erschien mir seine Person noch zwielichtiger als zuvor. Immer wenn es um Frank ging, wenn Eveline irgendwas von ihm erzählte, schaltete ich ab und hörte weg. Durch die Theatergruppe war er dennoch im Hintergrund präsent. Außerdem war er hartnäckig, was das ‚freundschaftliche Verhältnis‘ zu Eveline und mir betraf, und so war es nicht verwunderlich, dass er bald wieder bei uns auftauchte.

Das erste Mal saß ich gerade im Garten und bekam nicht mit, dass Eveline ihm die Tür geöffnet hatte. Er kam auf die Terrasse heraus, hielt eine Geschenkpackung in der Hand und winkte mir zu. Ich hatte es mir unter unserem Apfelbaum bequem gemacht und schreckte von der Liege auf, als ich ihn sah. Eveline kam ebenfalls auf die Terrasse und er überreichte ihr sein Geschenk – eine Schachtel Mon cherie. Hätte ich wegen dieser Schachtel Pralinen einen Aufstand machen sollen?

Eveline sagte mir später, sie habe ihn nicht eingeladen. Wenn sie gewusst hätte, dass er uns besuchen wolle, hätte sie mich natürlich gefragt und eine Kleinigkeit zum Essen vorbereitet. Aber Kalina war nicht gekommen, um bei uns zu essen. Er wollte nur hallo sagen und fragen, ob wir Lust hätten, am nächsten Sonntag mit ins Kino zu kommen.

Ich stand erst nach einigen Minuten auf und ging zur Terrasse. Inzwischen hatte sich Frank auf einen Stuhl gesetzt und betrachtete das Grundstück voller Bewunderung.

„Ein so schöner Fleck“, sagte er, „es wirkt so natürlich eingewachsen, wie in einem Märchengarten, als wäre alles schon hundert Jahre alt. Wirklich traumhaft schön.“

„Meine Eltern haben den Garten angelegt“, sagte Eveline, die gerade mit Bier und Gläsern herauskam. „Aber natürlich gibt es einen Gärtner, der das Grundstück in Schuss hält. Wir sind beide keine großen Hobby-Gärtner.“

Er schaute immer noch mit großen Augen auf die Birken und den dicken Stamm der Pappel, der von Efeu umrankt war. Sein Blick folgte dem Efeulaub, das sich an der rückwärtigen Mauer entlang zog, und wanderte zu den Steinen, die kreisartig um eine kleine Erhebung angeordnet waren, bis zu den Sträuchern und Rosenbüschen am Rand.

Dann sprachen Eveline und er über die Theaterarbeit; es ging um Details in seinem Hoffmann-Stück, Fragen der Besetzung und dergleichen. Er bemühte sich jedoch, mich ins Gespräch mit einzubeziehen, und bedachte mich die ganze Zeit mit Blicken.

Wir gingen schließlich ins Haus, da die Luft etwas kühl wurde.

Ich weiß nicht, woran es lag, aber ich hatte dauernd das Gefühl, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Wir setzten uns an den Wohnzimmertisch und er rührte sein Bier kaum an, so sehr war er mit dem Gespräch beschäftigt. Er redete zwei Sätze mit Eveline, dann drehte er den Kopf, um die nächsten Sätze in meine Richtung zu sprechen. Er kam mir vor wie ein Zirkusjongleur, der die Tellernummer abzog, bei der es darum ging, keinen Teller von der Stange zu verlieren.

Was wollte er nur von uns?

Das fragte ich mich immer wieder, kam aber auch diesmal nicht weiter.

Beim Gehen leistete er sich eine Peinlichkeit.

Johanna war kurz davor ins Wohnzimmer gekommen, doch als sie Frank sah, machte sie kehrt und verließ den Raum.

Wenig später verabschiedete er sich und sagte, er finde schon allein hinaus. Er ging aber nicht gleich aus dem Haus, sondern bog im Flur nach rechts. Er musste Johanna in der Küche gehört haben, die dort saß und Tee trank. Sie sprachen kurz miteinander, was wir vom Wohnzimmer aus hören konnten. Dann ging die Haustür.

Gleich darauf kam Johanna herein, rollte mit den Augen und blieb einen Moment vor uns stehen.

„Was ist passiert?“, fragte Eveline.

Johanna ging um den Tisch herum und setzte sich. „Ich glaube, der spinnt!“

„Sag schon, was war denn“, sagte Eveline.

Johanna schaute uns mit einem Grinsen an und legte ihre geballte Faust auf den Tisch.

„Das hat er mir gegeben“, sagte sie und öffnete die Hand. Darin lag ein Fünfzig-Euro-Schein.

„Das ist wohl ein Scherz“, sagte ich. „Was will er denn damit bezwecken? Du musst ihm das Geld natürlich zurückgeben.“

„Findest du das auch?“, fragte sie Eveline.

Eveline kräuselte die Lippen.

„Warum hat er es dir gegeben?“

„Er sagte, ich soll nicht mehr böse auf ihn sein, er hätte mich nicht erschrecken wollen, es tut ihm Leid, und so weiter. Ich sagte, ist schon vergessen. Aber er sagte, nein, er hätte noch was gut zu machen. Und dann gab er mir den Schein.“

„Was hat er gesagt, das du damit machen sollst?“

„Eveline“, sagte ich, „es ist doch klar, dass das nicht geht. Johanna lässt sich doch nicht kaufen!“

„Es ist nur ein Geschenk“, sagte Eveline.

„Genau“, sagte Johanna und schloss die Faust, „ein Geschenk.“

„Ein Geschenk? Fünfzig Euro? Um sich zu entschuldigen? Das ist doch total unnormal.“

„Wenn sich Johanna nicht beleidigt fühlt, dann kann sie das Geld von mir aus behalten. Das ist meine Meinung.“

Johanna hob jubelnd die Arme.

„Sie muss es ihm zurückgeben“, sagte ich. „Es war ein Fehler von ihm. Nicht fünfzig Euro. Das wollte er nicht. Du hast doch selbst gesagt, dass er spinnt.“

„Ist das mein Problem?“, fragte Johanna. „He, er hat mich nicht angemacht oder so, er hat nicht mal einen blöden Spruch losgelassen. Dann hätte ich es natürlich nicht genommen.“

„So leicht ist das aber nicht“, sagte ich.

„Doch, so leicht ist das“, sagte sie und ging hinaus.

Natürlich war diese kleine Szene harmlos, verglichen mit anderen Streitigkeiten, die wir – vor allem ich – mit Johanna in letzter Zeit gehabt hatten.

Aber ich war nicht bereit, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Wie kam er dazu, unserer Tochter Geld zu schenken? Lag es daran, wie Eveline meinte, dass ihn sein Schuldgefühl quälte? Oder dass er kein Gespür für Geld hatte – was, wie sie sagte, doch ganz sympathisch sei.

Für mich sah die Sache anders aus. Ich hielt sie für inakzeptabel.

Als ich Eveline das sagte, schüttelte sie den Kopf.

„Menschen treiben manchmal komische Sachen. Wenn du wüsstest, Sascha, was die Leute alles anstellen, um ans Ziel ihrer Wünsche zu kommen.“

Ich wusste nicht, wovon sie sprach. Vermutlich meinte sie die immer wieder vorkommenden Unstimmigkeiten zwischen den Mitgliedern der Theatergruppe, in der mitunter erbitterte Kämpfe bei Besetzungsfragen ausgefochten wurden.

Ich musste mir eingestehen, dass ich jetzt anfing öfter über Frank nachzudenken und ihn nicht mehr aus dem Kopf bekam. Er war wie aus dem Nichts aufgetaucht und mir scheinbar zufällig in der Galerie begegnet, die in demselben Haus war, in der auch mein Büro lag. War das wirklich ein Zufall gewesen? Oder nicht eher eine Inszenierung (wie ja auch das Treffen auf dem Gutenbergplatz, das offensichtlich von ihm arrangiert worden war).

Da ich meine Arbeit als täglichen Kampf empfand, als mühsames Halten der Stellung, als nicht endendes strategisches Vor und Zurück, wurde ich eine gewisse Erschöpfung nie ganz los. Gleichzeitig war ich oft unfähig einzuschlafen, lag nachts stundenlang wach und kam morgens müde und mit schmerzenden Muskeln ins Büro.

In dieser Verfassung war mir ein Gestrandeter wie Frank Kalina ganz recht. Er war verzweifelt und suchte händeringend irgendwo Anschluss; er schenkte Johanna viel zu viel Geld, um sich ihr und uns gewogen zu machen; er war ein Schauspieler ohne Karriere, der seine Erfolge in einer freien Theatergruppe suchte.

Ich betrachtete sein bisheriges Schicksal ohne jede Häme. Vielleicht war er schuldlos, vielleicht hatte ihm der Amerikaaufenthalt tatsächlich geschadet; er war zu jung gewesen, um einzusehen, dass es der falsche Weg war, und als er zurückkam, war er aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage auf den geraden Weg zurückzufinden.

Er tat mir leid, trotzdem wollte ich keinen Schritt auf ihn zu machen. Ich vergrub mich in mein Büro, verriegelte die Tür und machte mir einen schwarzen Kaffee. Dann verschwand ich für die nächsten Stunden nach Indonesien, Sumatra und Bali, Aceh und Thailand, überall dorthin, wo der Tsunami 2004 seine Spuren hinterlassen hatte.

Dass diese Katastrophe eine Viertel Million Menschen das Leben gekostet und nahezu zwei Millionen Küstenbewohner auf einen Schlag obdachlos gemacht hatte, konnte sich niemand vorstellen. Das Wüten selbst – das Seebeben und die anschließende Monsterwelle – blieb im Grunde abstrakt. Wellen so hoch wie Häuser kamen auf breiter Front angerast und rissen jeden Widerstand mit sich. 15 kleinere Inseln versanken unter dem Meeresspiegel.

Sogar auf die Rotation der Erde hatte diese Naturkatastrophe Auswirkungen gehabt: Nach dem Seebeben hatte sich die Erdachse nachweislich um mehrere Zentimeter verschoben – exakt um zweieinhalb Zentimeter – und die Rotation hatte sich seitdem geringfügig beschleunigt, die Tage waren um ein paar Mirkosekunden kürzer geworden, genau seit dem 26. Dezember 2004.

Eine Ahnung von Auflösung, Chaos, Vernichtung durch kosmische Kräfte werden heutige Menschen nie ganz los. Die Angst ist ihr ständiger Begleiter. Mich interessierte genau diese diffuse Angst, diese dunklen Vorahnungen einer globalen Katastrophe. ReFuge Nr. 50 sollte sich mit den zeitgenössischen Schreckensszenarien auf produktive Weise auseinandersetzen. Natürlich nicht in billig voyeuristischer Weise. Statt Untergangsstimmung zu erzeugen, sollten die Geschichten deutlich machen, wie sich das Seelenleben heutiger Menschen veränderte, wenn sie in zunehmender Dichte mit großen Katastrophen konfrontiert wurden.

Ich stellte mir vor, dass es keinen Schutz gab vor dem elementaren Schrecken, er verfolgte die Menschen überall hin, kroch ins Haus, ins Zimmer, ins Bett hinein und besuchte sie in ihren Träumen. Statt eines Gefühls von Geborgenheit beherrschte sie die Ahnung totaler Hilflosigkeit. Die Angst wurde selten fassbar, rumorte im Stillen, doch manchmal kam sie über sie, vor allem dann, wenn sich erneut irgendwo auf der Welt ein unfassbares Desaster ereignete.

Auch der Anblick Kalinas weckte bei mir dunkle Ahnungen, er vermittelte trotz seiner scheinbaren Souveränität den Eindruck von ständiger Getriebenheit. Es kam immer häufiger vor, dass ich beim Herausarbeiten von Charakteren, beim Verfassen von Alltagsglossen an ihn dachte. Seine Physiognomie war mir hilfreich, wenn ich Feuilletons vom heutigen Leben schrieb.

Ich verabredete mich nach einer Woche wieder mit ihm in jenem Bistro am Gutenbergplatz. Ich wollte ihm die 50 Euro zurückgeben. Doch an diesem Tag wirkte er so niedergeschlagen, dass ich mein Vorhaben aufschob.

Etwas an ihm stimmte mich misstrauisch, ich konnte nicht genau sagen, was es war, vielleicht jener „Minimalismus“, den Eveline an ihm beobachtet hatte und der mir irgendwie unehrlich erschien. Er schaute ins Weite, während er in ruhigem Ton erzählte, dann fixierte er mich wieder mit schwermütigen Augen, so dass seine Ausführungen nie monoton wirkten.

Sein Lebensrückblick ließ unterschiedliche Deutungen zu: Er hatte schlichtweg versagt; er hatte Pech gehabt; er war unfähig gewesen Entschlüsse zu fassen; er hatte die falschen Leute kennengelernt. Alles traf in gewisser Hinsicht auf Frank Kalina zu, aber es blieb immer ein unerklärter Rest. Er sagte, er habe viele Jahre lang großes Heimweh nach Deutschland gehabt, sich aber den Rückkehrwunsch nicht erfüllen können.

„Warum nicht?“, fragte ich.

„Es war nicht möglich, ich konnte nicht, ich fühlte mich gezwungen in Teneriffa zu bleiben, wo ich mich als Animateur verdingte und als Reiseverkäufer arbeitete. Wohin hätte ich ziehen sollen, in welcher Stadt wohnen? Es waren lauter verbotene Städte für mich: Frankfurt, Freiburg, Berlin. Ich konnte mir nicht vorstellen an einem dieser Orte neu anzufangen.“

„Dann war dein Heimweh wohl nicht stark genug, andernfalls wärst du doch einfach gekommen. Wer oder was hätte dich daran hindern sollen?“

Er schwieg mit einem Ausdruck unterdrückter Verzweiflung im Gesicht.

Es war Nachmittag, wir hatten wieder den Loungebereich besetzt, saßen in Sesseln am niedrigen Tisch; leise säuselte Radiomusik im Hintergrund. Frank begann zu schwitzen, seine Wangen glänzten; er sprach wie unter Anstrengung und schien sich nicht entspannen zu können.

„So einfach war es nicht. Ich fühlte mich sicher, solange ich in der Ferienanlage arbeitete. In Deutschland hätte ich mir mein Scheitern sofort eingestehen müssen. Ich spürte zwar, dass ein riesiges Loch in mir war, aber wenigstens hatte ich dort meine Ruhe. Ich hatte Kollegen, denen es ähnlich ging wie mir, die aus irgendwelchen Gründen auf der Flucht waren. Manche hatten Schulden in Deutschland, andere waren aus ihrer Ehe geflohen, hatten Kinder, um die sie sich nicht kümmerten.“

„Aber du warst doch nicht auf der Flucht“, sagte ich, „ich verstehe das wirklich nicht.“

Er seufzte schwer. „Es war dieses Milieu, in das ich hineingeraten war. Statt etwas anzupacken, die Schauspielerei endlich professionell zu betreiben, saß ich lieber auf der Pool-Terrasse in Spanien, unterhielt mich mit einer Kollegin und wartete auf die Touristen, um sie zu bespaßen.“

Er griff in seine Sakkotasche, wie um etwas herauszuholen, hielt aber in der Bewegung inne und nahm die Hand wieder heraus.

„Ich fühlte mich irgendwie abgestempelt. Ja, genau, als wäre ich nicht mehr Teil dieser Welt.“

„Schon merkwürdig“, sagte ich, „du hättest dich doch eigentlich um deine Schauspielerei kümmern sollen. Hast du dort nichts dafür unternommen?“

„Alles, was es in Teneriffa in dieser Hinsicht gab, waren die Hotelbühnen fürs Unterhaltungsprogramm. Dort waren Zauberer oder Sänger mehr gefragt als Schauspieler. Ich traf in all den Jahren eigentlich nur einen einzigen Menschen, der sich überhaupt für Kunst interessierte. Der war allerdings ein spezieller Typ, ein Holländer aus Amsterdam, der früher Drogen nahm und oft ein wenig abwesend wirkte. Ich habe später erfahren, warum. Er hatte im Streit einen Mann umgebracht.“

„Was? Ein Mörder?“

„Ein Totschläger. Es war Totschlag, nicht Mord. Das hat es mir versichert. Jan, hieß er.“

„Und was ist da genau passiert?“

„Das weiß ich nicht. Jan wollte nicht darüber sprechen. Er machte bloß ein paar Andeutungen, dass es vor einer Kneipe passiert ist.“

„Und wurde er gefasst?“

„Nein, ich glaube, er hat sich der Strafe entzogen. Jan war total okay, wirklich, ein absolut gutmütiger Kerl. Wenn du ihn gekannt hättest, hättest du ihm eine solche Geschichte nicht zugetraut.“

Beim Verabschieden fragte ich ihn, wo er zurzeit wohne. Er nannte eine Adresse in der Nähe des Bahnhofs. Mir fiel ein, dass er in der Galerie in Begleitung von Frau Hauser gewesen war.

„Frau Hauser wohnt auch dort, soviel ich weiß. In einer dieser schönen Seitenstraßen unweit des Hauptbahnhofs.“

„Ja, stimmt. Sie ist übrigens meine Tante. Zurzeit habe ich noch ein Zimmer bei ihr, aber ich suche nach einer kleinen Wohnung. Also, wenn du mal etwas hören solltest.“

Der Gestrandete

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