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Meine Stimmung war in diesen Wochen vor allem von den düsteren Bildern der Katastrophe im Indischen Ozean geprägt. Doch manchmal kam mir selbst meine Arbeit als Journalist wie die Tätigkeit eines Bestatters vor. Wurde nicht täglich vom Sterben der Zeitungen berichtet? Geisterten nicht Totengräber durch die Redaktionen, die auf diesen, auf jenen und einen dritten Stuhl zeigten, woraufhin der betreffende Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin zur Monatsfrist „freigesetzt“ wurde?

Verglichen mit der Wucht eines Tsunamis, war das Zeitungssterben natürlich sanft; aber wem sein Job gekündigt, wem von heute auf morgen gesagt wurde, er werde im Haus nicht mehr gebraucht, der fühlte sich unter Umständen auf andere Weise wie weggespült und rang verzweifelt um Atem.

Hauptsächlich belieferte ich mit meinen Artikeln eine große Tageszeitung, nachdem meine Arbeit für die übrigen Blätter im Lauf der Jahre unsicherer geworden war. Die verbliebene Zeitung lag jedoch ihrerseits im Sterben, und wenn wir freien Schreiber uns nicht sehr anstrengten und durch unsere schlecht bezahlten Beiträge ihren Zustand stabilisierten, drohte bald die letzte Ölung. Insgeheim plante ich eine Existenz jenseits des Journalismus. Meine Arbeit für ReFuge wies ja bereits in diese Richtung; dort durften die Gedanken frei schweifen, ohne Zwang zur Aktualität. In dieser Zeitschrift ging es nicht darum, Informationen zu vermitteln, die jeder schon irgendwo aufgeschnappt hatte und die am Abend niemand mehr interessierten. Wichtiger war hier, dass eine schöne Sprache gefunden wurde, eine Sprache, die sowohl jedem zugänglich als auch einprägsam war. Informationen und Faktenwissen waren überall zu erhalten, dagegen gab es kaum etwas zu lesen, das die emotionale Seite im Umgang mit Katastrophen und Verheerungen beschrieb.

Ich betrachtete am frühen Nachmittag die Bäume in unserem Garten und entdeckte an den Zweigen sprießendes Grün. Ich saß auf einem gepolsterten Stuhl am Rand des Rasens und rauchte eine Zigarette. Mich packte wie jedes Jahr eine Art Frühlingsschwermut angesichts dieser naiven Kraft, die überall im Garten bemerkbar wurde. Ich wurde dieses Jahr dreiundvierzig, aber das scherte diese gierig strotzenden Pflanzen überhaupt nicht, der Garten würde wieder genauso schön werden wie im vergangenen Sommer. Die Natur funktionierte wie eine Maschine, die ewig läuft, ohne zu altern. Sie sorgte für Vermehrung und Ausdehnung, ließ Blüten und Früchte entstehen, doch genauso gefiel es ihr manchmal, alles wegzufegen, was ihr im Weg stand, und das Leben auszulöschen. Das Ganze hatte so wenig Sinn und Bedeutung wie eine Ziffer im Weltall.

Wer je versucht hat, unsere Abhängigkeit von der Natur zu beschreiben, der ist auf seinem Stuhl melancholisch geworden. Ich wusste, wie leicht sich Resignation in die Arbeit daran mischte, darum räumte ich den Autoren, die für ReFuge zum Thema Naturkatastrophe schrieben, große Freiheiten ein. Zwischen Hymnus und Pamphlet, zwischen Schmähung und Vergötterung sollte alles erlaubt sein. Ich wollte lesen, was die Natur denkenden und schreibenden Menschen heutzutage erzählte.

Die Arbeit an der ReFuge erlöste mich manchmal vom Betteljournalismus des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Natur konnte kaum erbarmungsloser sein als der Abstieg, den die Zeitungen derzeit erlebten. Der Stand des gründlich Lesenden, in den Rubriken Blätternden, stundenlang darin Verweilenden, schien auszusterben. Mit dem Rascheln der Seiten erstarb auch die Tragweite von Nachrichten und Kommentaren, und zurück blieb die blinkende Fülle von Skandälchen und Sensationen. Eine solche „Sensation“ war natürlich auch jenes spektakuläre Unglück vom 26. Dezember 2004, das zwar heute fast schon wieder vergessen war, aber dennoch zu den furchtbaren Großereignissen der jüngsten Geschichte zählte.

Ich hatte schon etliche Texte der Autoren ausgedruckt und trug sie in einer Mappe bei mir. Ehe ich sie Alexander Mill schicken konnte, musste ich sie aber redigieren. Diese Arbeit erledigte ich zu Hause, wo ich es bequemer hatte. Ich las und korrigierte eine Stunde im Garten, bis mir kühl wurde, dann setzte ich mich ins Wohnzimmer an den niedrigen Tisch, dessen schwere Platte aus einem bunten Mosaik bestand.

Kurz nach acht hörte ich den Schlüssel in der Wohnungstür. Eveline kam mit Frank ins Wohnzimmer, wo ich noch am Tisch saß und in den Manuskripten blätterte.

Es war Donnerstag, der Abend der Theatergruppe. Frank sah in seinem Sweatshirt ein wenig verschwitzt aus.

„Habt ihr Hunger?“, fragte sie. „Ich richte uns ein paar Tapas!“

Während ich das Papier wegräumte und Eveline anfing die Sachen aus dem Kühlschrank zu holen, setzte sich Frank auf einen Stuhl in der Nähe des Fensters. Es war einer unserer „Biedermeierstühle“ aus dem Familienbesitz.

„Woran arbeitest du gerade?“, fragte er.

„Ach, es geht um die neue ReFuge. Ich habe mir einen Überblick über die aktuellen Einsendungen verschafft.“

„Was ist ReFuge?“, fragte er.

„Eine Literaturzeitschrift.“

Wir setzten uns an den Tisch und begannen uns die Teller mit Tapas zu belegen. Ich entkorkte die Rotweinflasche und füllte die Gläser.

Frank hatte sich mit an den Tisch gesetzt, als würde er zur Familie gehören.

Ich war noch gedanklich bei einem der Texte, in dem das dramatische Geschehen auf Sumatra und die brutale Welle aus der Sicht einer Zwölfjährigen beschrieben worden waren.

Frank fragte mich nach meiner Funktion bei der Zeitschrift. Als ich ihm beiläufig darauf antwortete, rief er: „Chefredakteur? Du bist Chefredakteur? Das ist ja wunderbar. Und was sind das für Texte, Gedichte?“

„Gedichte habt ihr bis jetzt noch nicht abgedruckt, oder?“, sagte Eveline.

„Es ist eine Prosazeitschrift“, sagte ich. „Ich finde, Prosa muss heutzutage gefördert werden. Unsere Aufgabe besteht darin, die Leser dazu zu verführen, fünfzehn dicht gehärtete Seiten in einem Zug zu lesen – gebannt und konzentriert. Das hat heute schon Seltenheitswert.“

„Und wovon handeln die Texte der neuen Ausgabe?“

Ich wollte es ihm gerade erklären, doch gleich nach dem ersten Satz fiel er mir ins Wort.

„Der Tsunami? Du meinst, den Tsunami von 2004? Stell dir vor, den habe ich auf Bali miterlebt. Es war die reine Hölle. Und ich hatte noch Glück.“

„Du warst auf Bali?“

Er nickte und legte die Gabel aus der Hand.

„Pass auf, das war so: Ich saß gerade beim Frühstück im Hotel, als es losging. Davor war ich noch kurz am Strand gewesen. Als ich mich an den Tisch auf der Terrasse setzte, fiel mir auf, dass das Meer an diesem Morgen sehr flach war. Es schien eine kilometerweite seichte Fläche zu sein, ich sah viele schwarze Punkte am Boden, das waren große Muscheln, die sonst nie zu sehen waren. Ich überlegte, ob ich wieder hinuntergehen und mir das alles aus der Nähe ansehen sollte. Unten waren wie immer viele Urlauber mit ihren Kindern, die tollten im Sand herum. Kurz darauf fiel mir etwas auf, ich dachte zuerst, es sei die Gischt eines Kreuzfahrtschiffs, aber plötzlich war da ein breiter grauer Streifen auf ganzer Front zu sehen. Ziemlich hoch und deutlich zu erkennen. Das ist kein Schiff, dachte ich, das sieht aus wie Nebel. Ich wusste in dem Moment noch nicht, dass es eine Welle war und dass ein Tsunami auf die Küste zuraste. Dann ging alles sehr schnell. Die Welle kam angerast, aber kaum jemand am Strand schien sie zu bemerken. Ich rannte schreiend hinunter, andere folgten mir. Ich sah zwei kleine Kinder in der Nähe, packte sie an den Händen und zog sie hinter mir her. Wir kamen bis ins Hotel. Dort erwischte uns das Wasser. Durch den ganzen Raum ergoss es sich mit unvorstellbarer Wucht. Ich schaffte es bis zur Treppe und zog die beiden schreienden Kinder einfach mit mir hoch. Es war buchstäblich Rettung in letzter Sekunde.“

Als er schwieg, konnte ich nichts sagen. Ich hatte auch zu essen aufgehört.

„Man hat diese Dinge ja in den Nachrichten gesehen“, sagte Eveline, „aber vorstellen kann man es sich trotzdem nicht richtig.“

„Was hast du denn auf Bali getrieben?“, fragte ich. „Urlaub?“

Er nahm einen Schluck Rotwein und schüttelte den Kopf.

„Ich war bereits ein ganzes Jahr dort, als der Tsunami kam.“

„Und was macht man ein Jahr auf Bali?“, fragte Eveline.

Sie schien nicht mitzubekommen, dass ihm das Thema unangenehm war. Er war blass geworden, als sie ihn nach seiner Zeit auf der Insel fragte.

Ich nahm mir noch ein paar Tapas und nutzte die kurze Pause, um selbst eine Frage zu stellen.

„Mich würde interessieren, wie du diese Katastrophe verarbeitet hast? Viele Menschen, die so etwas erleben, haben Spätfolgen, Angstzustände, Panikattacken ...“

„Panikattacken habe ich zum Glück keine. Aber wenn ich davon spreche, wird es mir jedes Mal wieder mulmig. Dann sehe ich alles wieder vor mir, rieche das Wasser und höre die Schreie.“

„Das kann ich gut verstehen“, sagte Eveline. „Das muss furchtbar gewesen sein! Erzähl, wie es weiterging.“

Je mehr er sprach, desto hilfloser wirkte er. Er versuchte sich offenbar die Szenerie im Hotel zu vergegenwärtigen und baute im Geist das ganze Durcheinander noch einmal auf. Aber er schüttelte immer wieder den Kopf und unterbrach seine Rede, als könne er sich nicht mehr genau erinnern.

„Ich habe schon so lange nicht mehr davon gesprochen. Es kommt mir vor, als wäre das in einem früheren Leben passiert.“

„Warum isst du denn nichts?“, fragte Eveline und schenkte ihm wieder Wein nach.

Ich sah, dass er Mühe hatte die Fassung zu wahren. Er sprach zwar weiter, aber der Schweiß auf seiner Stirn und sein stierer Blick verrieten mir, dass ihm das Thema zusetzte. In meiner Vorstellung war der Tsunami eine der schlimmsten Katastrophen, in die ein Mensch geraten konnte. Die Welt stand in diesem Moment kopf, alle Beziehungen lösten sich auf, jeder Halt wurde in den Strudel gerissen. Wenn Frank ein solches Chaos aus nächster Nähe – im ersten Stock des Hotels – miterlebt hatte, dann hatte er Momente schlimmster Verlassenheit, Ängste eines frei schwebenden Menschen im Weltall durchgemacht.

Nach einer halben Stunde sagte er, er wolle gehen. Er bat mich, ihn kurz vor die Tür zu begleiten. Er müsse mir noch etwas sagen.

Wir zogen unsere Jacken an und gingen auf die Straße. Es war ein dunstiger Maiabend. Ohne lange zu überlegen, ging ich auf die Alb zu, um auf den Spazierweg längs des Flüsschens zu gelangen. Er folgte mir die wenigen Treppenstufen hinunter, wir gingen über die kleine Brücke und blieben ans Geländer gelehnt vor dem rauschenden Wehr stehen.

Frank blickte in das schäumende Wasser, das nur etwa zwei Meter vor uns durch die Schleusenanlage gejagt wurde. Es war ein gleichmäßiges Rauschen, das die Dunkelheit durchschnitt, ohne dass es einen zu sehr bedrängte.

Nach ein paar Minuten sagte er seufzend: „Hätte ich doch auch die ganze Zeit hier leben können! Tagsüber das Büro. Abends ein bisschen an der Alb spazieren.“

„Du hast dich in der Welt umgesehen. Ist doch auch nicht schlecht.“

Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Das Reisen wird allgemein überschätzt. Es ist ja doch nur das Sahnehäubchen auf dem unbegreiflichen Ganzen. Außerdem kann es einen aus der Bahn werfen und süchtig machen. Ich hätte mir lieber etwas aufbauen sollen. Jetzt muss ich mit über Vierzig noch mal von vorne anfangen. Mit Laien zusammen Theater spielen. Ich will nicht undankbar sein, ganz und gar nicht. Es ist ein großer Glücksfall, dass ich dich und deine Frau getroffen habe. Und dass Eveline mich in die Gruppe aufgenommen hat.“

Ich spürte, dass er irgendeine Reaktion von mir erwartete, aber ich schwieg.

„Du weißt nicht, wie wichtig das für mich ist“, fuhr er fort. „Ich war total am Ende, sah keinen Ausweg mehr. Und da treffe ich euch.“

„Sag mal, wo hast du eigentlich deine spätere Frau kennengelernt?“

„In Teneriffa. Nicki war auch Animateurin und wir haben lange zusammengearbeitet und uns angefreundet. Dann haben wir in Santa Cruz geheiratet. Nach einem dreiviertel Jahr war die Ehe schon kaputt.“

„Das ist schwer vorstellbar.“

„Alles ist schwer vorstellbar!“, sagte er plötzlich laut. „Wenn man hier steht, umgeben von dieser Fluss-Idylle, dieser wohl tuenden Sicherheit, diesem kleinen feinen Leben!“

„Was willst du damit sagen?“

Er schwieg, schaute ins Wasser und hielt das Geländer mit beiden Händen umklammert.

„Warst du wirklich so lange auf Bali?“, fragte ich. „Hast du denn so dick geerbt, dass du dir das leisten konntest?“

„Nein, natürlich nicht.“ Er seufzte und hob den Kopf. „Bali, das klingt für dich vermutlich nach Abenteuer, Exotik, Vulkane und Felsentempel und so weiter. Das ist dort alles zu sehen, aber ich war nicht als Tourist unterwegs. Ich habe in einem kleinen Strandressort als Callboy gearbeitet. Das war alles. Wäre der Tsunami nicht gekommen, würde ich wahrscheinlich heute noch dort arbeiten. Allerdings wird man auch nicht gerade jünger.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Etwas hilflos stammelte ich schließlich: „Als Callboy? ... Warum ...?“

Er stieß einen verächtlichen Laut aus.

„Ich hab das verdammte Geld gebraucht.“

„Und jetzt willst du vermutlich, dass ich Eveline nichts davon sage?“

„Nein, das ist nicht meine Sorge. Ich will nur, dass du mich nicht verachtest und schlecht über mich denkst. Mir ist der Kontakt zu euch absolut wichtig. Ich will euch nicht belügen. Darum bin ich so offen und erzähle es dir. Auch wenn’s mir nicht leicht fällt.“

Sein Geständnis verblüffte mich tatsächlich. Wie hatte er in diese Lage kommen können sich zu prostituieren? Ich spürte eine Abneigung, ja eine Fremdheit, die nicht zu überbrücken war. Immerhin hatte er sich mir anvertraut und wirkte ziemlich kleinlaut. Bei allem Widerstand beeindruckte mich seine Offenheit. Immer mehr war ich davon überzeugt, dass er noch mehr Geheimnisse besaß, die er mir Schritt für Schritt offenbaren würde. Vor allem aber war ich erleichtert, dass er trotz seiner scheinbar abenteuerlichen Reisen keinen glänzenden Lebenslauf vorzuweisen hatte. Es war deutlich zu spüren, dass er uns um unser geordnetes Dasein beneidete.

Der Gestrandete

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