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2. Straßenhändler

Von seinen italienischen Landsleuten, die in Brig vor allem als Köche und Kellner in der Gastronomie arbeiten, erfährt Gaspard viele Neuigkeiten aus der kleinen Stadt in der Schweiz und Gerüchte über ihre Bewohner.

Im Winter stand er oft den ganzen Tag lang frierend im Mantel und alten Sportschuhen hinter seinem auf dem Pflaster ausgebreiteten Samttuch voll Schmuckware, ein Anblick, der manchem leidtat.

Die Angestellten einer Pizzeria in der Geschäftsstraße, allesamt sonnenverwöhnte Italiener, brachten ihm Glühwein oder heißen Tee auf die Straße hinaus und blieben manchmal eine Weile plauschend an seiner Seite.

Nette Bekanntschaften und sogar lose Freundschaften entstanden, man grüßt sich seitdem und tauscht sich aus.

In seinem Versteck oberhalb von Brig, in der verlassenen Siedlung, hatte er dank der Hilfe von Mary die eisigen Winternächte mit ihren lebensbedrohlichen Schneestürmen überstanden. Er, und seine beiden jugendlichen „Untermieter“ Zoe und Zacharias schafften es gemeinsam, nicht zu erfrieren und von dem Tschugger, der im Sommer eifrig gegen sie vorgegangen war, nicht aufgespürt zu werden. Die vereisten Gebirgspfade leisteten ihren Beitrag, sie waren dem korpulenten Staatsdiener vermutlich zu gefährlich, um gegen die illegalen Bewohner weiterhin zu ermitteln.

Die drei Außenseiter verhielten sich in den kalten Monaten möglichst unauffällig, was sie deshalb schafften, da Mary sie aus dem Tal mit Essen versorgte.

Ihr pragmatisches Motto lautete, wer satt und zufrieden ist, bricht nicht in fremde Häuser ein.

Zoe und Zacharias, die Nächstenliebe und Fürsorglichkeit in ihrem Leben bisher nicht erfahren hatten, versuchten zu begreifen, was Mary zu ihren Wohltaten bewegte.

Welche Gegenleistung erwartete sie für ihren Einsatz von ihnen, weil doch ringsum und überall in der Welt ansonsten nichts kostenlos zu bekommen war?

Misstrauisch hatten sie ihre Beziehung zu Gaspard beobachtet und ungeniert über die Gründe ihrer Zuneigung spekuliert. Äußerlich zeigten sie sich verstockt bis wenig zugänglich, ein Verhalten, das bei der Biologin wiederum Neugier entfachte.

In Gedanken an diese entbehrungsreichen, aber glücklichen Wintertage, streift Gaspard mit den Einnahmen aus dem Tagesgeschäft seines Silberschmuckhandels durch die Gassen von Brig, um für den Abend Brot und Wein einzukaufen.

Er denkt darüber nach, wie er seinen beiden „Untermietern“ eine sinnvolle Beschäftigung verschafft, weil er weiß, dass sie beim Herumhängen auf neue Ideen kommen. Einen Vorrat an Kondomen hatte Mary für sie mitgebracht.

Als sein Blick zufällig auf die Fassade eines auf der anderen Straßenseite gelegenen Hotels fällt, liest er die in der Dunkelheit heimelig warm leuchtenden Großbuchstaben HOTEL STUDER.

Dass Mary mit Nachnamen Studer heißt, obwohl sie aus Amerika stammt, hat er zufällig mitgekriegt.

Er bleibt stehen und starrt einen Moment lang auf das Portal mit der Glastür und dem roten Teppich. Dann wandert sein Blick die Fassade hinauf, er zählt die beleuchteten und unbeleuchteten Fenster des Hotels, es ist eine stattliche Anzahl. Vier Sterne am Eingang weisen ein Hotel der gehobenen Kategorie aus.

„Reisen Sie geschäftlich oder privat?“

Der Passant, der ihn mit forschendem Unterton anspricht, scheint ein besorgter Bürger zu sein, der sich in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen.

Gaspard beantwortet ihm die Frage nicht, setzt seinen Weg zum Migros-Supermarkt unbeirrt fort.

Als er den Rotwein, den Käse und die Baguettes an der Kasse bezahlt, ärgert ihn der Vorfall im Nachhinein. Fremde auf solche Art anzusprechen, gehört sich seiner Meinung nach nicht.

Auf seinem Rückweg zum Bergpfad, der ihn hinauf zur verlassenen Siedlung führt, wählt er denselben Weg vorbei am HOTEL STUDER, obwohl er einen Umweg bedeutet.

Träfe er diesen misstrauischen Bürger dort erneut an, würde er passende Widerworte finden. Jeder Selbständige oder Freiberufler, der vom Staat keine Unterstützung erhält, gerät leicht in prekäre Lage, ein kleiner Fehler genügt.

Die Straße vor dem Hotel ist menschenleer, Gaspard hält auf dem Gehweg an und schaut sich um. Seine Art, solchen Anfeindungen zu begegnen, hat ihm schon mancherorts Probleme bereitet.

Sein Blick fällt durch die Glastür ins Innere des Hotels, wo in der Empfangshalle der noblen Absteige eine Gruppe von Gästen wartet.

Neben den Touristen entdeckt er den Hotelier Ronald Studer, dem er in der verlassenen Siedlung schon einmal begegnet war. Vergangenes Jahr, kurz nach dem Unfall ihrer Tochter.

Die Gesichtszüge des Mannes hatten sich ihm damals eingeprägt, weil er in Mary verliebt war und ahnte, Ronald wäre der Mann, der etwas dagegen hätte, ihr Ehegatte.

Vorsichtig nähert er sich dem prachtvollen Portal des Hotels, in der einen Hand die Tüte mit den Einkäufen, in der anderen seinen Koffer voll Silberschmuck.

Durch die Glastür beobachtet er, wie Ronald auf seine Hotelgäste einredet. Es wirkt wie eine Reklamation, die Touristen beschweren sich bei ihm, und er erklärt ihnen gestenreich, wie die Dinge zu handhaben sind.

Einer spontanen Eingebung folgend, breitet Gaspard sein Verkaufstuch direkt neben dem Eingang zum Hotel auf dem Gehweg aus, drapiert seine Silberware darauf und wartet auf Kundschaft.

Zwei junge Frauen verlassen das Hotel und schauen sich am Eingang um, in welche Richtung es sie für ihren abendlichen Bummel zieht.

Der Schmuckhändler auf dem Boden fällt ihnen erst beim zweiten Hinsehen auf, dabei weckt seine Ware sofort ihr Entzücken. Der matte Schein der Straßenbeleuchtung reflektiert weiches Licht auf den glatt polierten Ringen und Ketten, lässt sie geheimnisvoll glänzen.

„Oh Daisy, look, isn´t that lovely?“

Doch bevor sie eines der Schmuckstücke mit ihren kunstvoll verzierten Fingerkuppen aufnehmen und anschauen, gesellt sich der Portier des Hotels zu ihnen, um die Damen vor Nepp und Betrug zu schützen.

„Verzeihung, mein Herr! Betteln und Hausieren sind vor diesem Hotel verboten.“

Gaspard steht vom Boden auf und misst den Portier mit wütendem Blick.

„Prego, wenn Sie einmal schauen möchten? Edler Silberschmuck, Handarbeit! Ist das Bettelei? Haben Sie solche Kunstwerke schon einmal gesehen? Von einem Hausierer?“

„Oh my God, let´s go!“

Die beiden Touristinnen entfernen sich kichernd. Gaspard schaut ihnen zornig nach.

„Cazzo, siehst Du, was Du angerichtet hast? Du verdirbst mir mein Geschäft!“

Der Portier in seiner Hoteluniform mit den goldenen Knöpfen weicht vor dem zornigen Italiener einen Meter zurück, verteidigt aber standhaft den Eingang zur Hotellobby gegen unbefugten Zutritt.

„In der Schweiz hat es Gesetze. Das Betteln untersteht zwar keinen bundesrechtlichen Sanktionen, aber es kann durch ein Reglement auf Gemeinde- oder Kantonsebene untersagt werden. In Brig hat ein jeder diese Anordnung zu befolgen, tut mir leid!“

„Ich bettele nicht! Rufen Sie ihren Chef, ich möchte ihn sprechen.“

Der Portier verwehrt ihm breitbeinig den Zutritt zur Lobby des Hotels.

„Sie können sich überall hinstellen, wo das Gemeindereglement nicht gilt.“

„Vielleicht oben an den Gletscher? Neben das Vieh auf der Alm? Ich bin ein Mensch wie Sie, dem man seinen Platz nicht einfach nach Belieben zuweisen kann.“

Gaspard hofft, dass sich Ronald durch den Aufruhr dazu verleiten lässt, aus der Lobby nach draußen zu kommen, aber der scheint zu erhaben gegenüber solchen Streitereien. Der Portier verschließt die Tür zum Hotel und postiert sich hinter dem Tresen der Rezeption, wo er telefoniert.

Er beobachtet ihn durch die Glastür, wie er aufgeregt in den Hörer spricht.

Der Schmuckhändler besitzt genügend Erfahrung darin, wie man in der Schweiz das Recht behandelt, und wie zwecklos es dabei ist, auf die allgemeinen Menschenrechte zu verweisen. Auf einer unteren Ebene gelten die hehren Motive meist nicht.

Als er im Begriff ist, die Schmuckstücke zurück in den Koffer zu legen, hört er plötzlich eine Stimme in seinem Rücken.

„Verzeihen Sie den ungestümen Einsatz meines Angestellten! Sie sind kein Bettler, das sehe ich. Ich betrachte ihr Kunsthandwerk mit Respekt.

Leider haben wir seit einigen Monaten größere Probleme mit Bettelei und müssen uns daher schützen, unsere Gäste möchten verständlicherweise nicht belästigt werden. Taschendiebe hatten wir auch, es gab zahlreiche Beschwerden.“

Gaspard steht vom Pflaster auf und sieht sich dem Hotelier Ronald Studer gegenüber, der ihn freundlich anschaut.

„Wenn Sie mir den Gefallen tun und sich für ihre Ware ein anderes Plätzchen suchen, kaufe ich Ihnen eine Halskette ab. Einverstanden?

Na, zeigen Sie mal her, was Sie da in ihrem Köfferchen haben! Oh, die mit dem blauen Anhänger gefällt mir. Eine Occasion, oder?“

Scherzhaft bietet der Hotelier ihm einen zehn Franken Schein für die Halskette an, doch der Schmuckhändler zeigt sich zum Scherzen nicht aufgelegt.

„Ziehen Sie nicht solch ein Gesicht, junger Mann. Ein harmloser Scherz, echtes Silber?“

Studer sagt es mit einem komplizenhaften Grinsen, so als wisse er über die Beschaffenheit des Metalls Bescheid.

„Sterling Silber. Ich verarbeite gestempeltes Edelmetall.“

Das Grinsen des Hoteliers wird immer breiter.

„Selbstverständlich. Ist die Steuer im Preis mit inbegriffen?“

Gaspard, vollkommen überrascht von dieser Frage, nickt wenig überzeugend.

„Sehen Sie, Silberschmied, deshalb unterscheiden sich die Rechte von Menschen. Der Gehsteig hier wird regelmäßig gefegt, die Abfalltonnen werden geleert und die Laternen abends eingeschaltet.

Wenn einer keine Steuern zahlt, der Steuern zahlen könnte, sollte der dann alles, wie wir Steuerzahler, mit benützen dürfen?“

Jede Spur von Großzügigkeit weicht aus dem bärtigen Gesicht des Hoteliers im feinen Tuch, auf einmal wirkt er hart und abweisend.

Mit betont honoriger Geste befördert Studer eine fünfzig Franken Banknote aus seiner Brieftasche und hält sie dem Schmuckhändler unter die Nase.

„Für Ihre Sterling Silberkette. Und damit verschwinden Sie!“

Gaspard packt seelenruhig seine Utensilien wieder ein, ohne dass er der Banknote des Hoteliers die geringste Aufmerksamkeit schenkt.

Die Silberkette behält er in der Hand.

„Vernünftig, dass Sie einpacken, junger Mann. Deshalb möchte ich Ihnen einen Tipp geben, wo Sie ihren Silberschmuck versilbern könnten.“

Er macht eine bedeutungsvolle Pause und setzt ein schalkhaftes Lächeln auf.

„In der Bahnhofstraße, Ecke Postomat, unter dem Hinweisschild aus Messing, das die Bürger von Brig an die Unwetterkatastrophe von 1993 in ihrer Stadt erinnert. Da staunen die Touristen, wie viele Meter hoch das Geschiebe aus Schlamm, Schutt und Geröll, das sich damals in unser Tal wälzte, in den Straßen und auf den Plätzen lag.

Manchen passt dieses Bild perfekt in ihre Vorstellung vom Klimawandel. Aber die Wurst wird nicht so heiß gegessen, wie sie gebrüht wird.

Touristen schauen sich die Markierung an der Hauswand dort oben gerne an. Sobald ihr staunender Blick wieder zu Boden fällt, stehen Sie mit ihrem Lappen voller Sterling-Silber mitten im Beet. Was Besseres kann ihnen nicht passieren. Was glauben Sie, wie kauffreudig solche Leute sind?“

Gaspard hält seinen Koffer in der einen Hand, in der anderen die Halskette. Er schaut Ronald Studer herausfordernd an.

„Die Silberkette schenke ich ihrer Frau, Herr Studer. Mit schönem Gruß vom Italiener. Als Steuerabgabe für die Benutzung ihres Gehsteigs. Das Trottoir gehört Ihnen doch, oder?“

Er drückt dem verdutzten Hotelier die Silberkette in seine große Hand mit den gepflegten Fingern, nimmt den Schmuckkoffer auf und eilt davon.

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