Читать книгу MORIGNONE - Volker Lüdecke - Страница 8

Оглавление

3. Enttäuschung

Nach nur drei Stunden Nachtschlaf erwacht Vittorio.

Seltsame Geräusche dringen an sein Ohr, als ob seine Vermieterin im Flur der verwinkelten Wohnung ein Konzert aus Töpfen, Kochlöffeln und Topfdeckeln veranstaltet.

Den Itaker Studenten aus Boshaftigkeit mit seiner Freundin nicht ausschlafen lassen, so kommt ihm das vor. Rache, weil er am Wochenende immer länger schläft und den Treppenaufgang nicht, wie vereinbart, gewischt hat.

Dann fällt ihm ein, dass sie an manchen Vormittagen heiße Knödel mit Gulasch auf dem Wochenmarkt verkauft, an welchen Tagen genau, fällt ihm nicht ein.

Er tastet neben sich auf dem schmalen Bett, das mehr ein Sofa als eine richtige Bettstatt ist, wo er Maria schlafend wähnt, die in sein bescheidenes Zimmer mitgekommen war, doch die Kissen sind leer.

Erschrocken fährt er auf und sucht nach ihr, ob sie zur Toilette gegangen ist. Ihre Jeans, ihr T-Shirt und ihre Jacke sind verschwunden, stattdessen liegt ein Zettel auf seinem Minischreibtisch.

Er springt aus dem Bett und liest die Nachricht, die sie ihm hinterlassen hat.

„Lieber Vittorio! Ich kann hier nicht schlafen, bekam einen Alptraum. Bitte sei nicht böse. Es war eine wundervolle Nacht mit dir. Ich hätte dir vorher sagen sollen, dass ich heute ganz früh verreise, aber ich wollte dir gestern die Laune nicht verderben.

Wir sehen uns erst zum neuen Semester wieder, Lieber! Bussi, Maria.“

Vittorio lässt sich rückwärts auf sein Bett fallen, bleibt einen Moment lang wie betäubt liegen und starrt an die Decke mit dem alten Stuck und den malerischen Spinnweben.

„Wäre auch zu schön gewesen.“

Wieder lärmt es vom Flur herein, diesmal das Getöse eines Staubsaugers älterer Bauart. In seinen Ohren hört sich das Sauggeräusch an wie der Lärm eines Düsentriebwerks. Wutentbrannt reißt er die Tür zum Flur auf und lässt seinem Ärger freien Lauf.

„He, Kuchldragona, samma bald fertig mit der Knedlakademie?“

„Obacht, Hupfa! Zieh dir gefälligst was an, wie schaust denn aus?

Nockabatzl, deine Tussi ist auf ihren Quadratlatschn längst raus geschlichen. Damenbesuche sind im Preis nicht inbegriffen, in der Quetschn ist kein Platz für derlei Geschichten.“

Vittorio knallt der Vermieterin die Zimmertür vor der Nase zu. Er lauscht an der Tür, ob sie noch etwas zu vermelden hat.

„Giftnigl!“

Die Stimme der beleibten Mittfünfzigerin ist in der Lage, Kristallglas zum Bersten zu bringen. Ihr muffiger Geruch durchzieht die ganze Wohnung, was die höhere Tochter vertrieben haben dürfte. Sein Groll steigert sich von Minute zu Minute, bis er hört, wie sich ihre Schritte in Richtung der Küche entfernen. Enttäuscht sinkt er auf seinen einzigen Stuhl.

„Hat sie das mit Absicht gemacht?“

Einmal senkrecht im Fahrstuhl bis in den Himmel, und dann? Ausstieg im Nichts, freier Fall ins Bodenlose. Der Sommer ist gelaufen. Ihre Rache für seinen Schabernack mit dem präparierten Morignone Ring?

„Schnee von gestern!“

Er zwängt sich wieder in seine enge Jeans und zieht ein grünes Polohemd darüber an, fährt sich vorm blinden Spiegel mit den Fingern durch die Haare und wischt sich den letzten Schlaf aus den Augen.

„Über den Vorfall während der Exkursion wollte sie nicht mit mir sprechen. Was soll ich da machen?“

Erst jetzt fällt ihm auf, dass er ihre Anschrift nicht kennt, nur eine Emailadresse von der Uni. Er schaut nach, ob sie ihm eine Mail gesendet hat. Nichts, keine Nachricht, wohin sie heute verreist. Enttäuscht klappt er seinen Laptop zu.

„Sie lässt mich die ganzen Semesterferien lang zappeln. Perfekt!“

Warum hat er sich so deppert angestellt, sie nicht zu fragen, ob sie ihm ihre Handynummer gibt?

Zum Heulen! Er fühlt sich benutzt und schnöde weggeworfen. Hand in Hand war er letzte Nacht neben ihr eingeschlafen, den süßesten Traum seines Lebens auskostend.

„So fühlt sich ein Sturz an, wenn man am Boden mit dem Schädel gegen eine Gießkanne kracht.“

Vittorio verlässt sein Zimmer und läuft ziellos durch die Gassen. Gegen Mittag führen ihn seine Schritte automatisch zur Mensa der Uni, wie er es täglich gewohnt ist. Diesmal fühlt er sich ständig beobachtet, als stünde ihm die Schmach ins Gesicht geschrieben. Im Innern hofft er, seine Mizzi doch zu treffen.

Die Warteschlange vor der Essensausgabe, eine Reihe blasser Studenten mit Tabletts in den Händen, ist wesentlich kürzer als während des Semesters. Die Auswahl an Mahlzeiten auf der Speisekarte ist reduziert.

Wie er die nächsten Wochen in Wien ohne Maria verbringen wird, verdirbt ihm den Appetit. Einen Studentenjob als Kurierfahrer hat er letzte Woche angenommen, am nächsten Morgen früh um sieben Uhr fängt er bei der Spedition an.

Ein Bekannter aus dem Seminar dreht sich zu ihm um und nickt ihm freundlich zu.

Sein Gesicht ziert ein blaues Auge, selten für einen angehenden Geologen, aber Vittorio weiß, dass er nachts als Türsteher arbeitet und Wagner genannt wird.

„Einen Wickl gehabt, Wagner?“

„Ist mein Beruf.“

Vittorio rückt mit seinem Tablett zu dem Piefke auf.

„Die verwöhnte Bagasch lässt sich jetzt im Tessin verwöhnen. Mein Schicksal ab morgen: Kurierfahrten.“

Wagner grinst und nimmt sich einen Teller mit Kalbsschnitzel und Beilagen aus einem Fach der Essensausgabe.

„Komm heute Abend ins „Gnadenlos“, ich passe dort auf die Gäste auf und habe jede Menge Gutscheine gespart.“

Der Kommilitone macht eine Geste des Trinkens, Vittorio lacht.

„Gnadenlos passt zu meiner Laune. Perfekt.“

Er ist dankbar für die Ablenkung und nimmt sich eine Suppe mit grauem Brot aus dem Fach der Essensausgabe, die günstigste Mahlzeit der Mensa.

„Offiziell heißt die Bar „Vienna Gnadenlos“. Für Touristen swingt das „Vienna“ umso mehr. Girls und Drinks inklusive.“

Etwas stört Vittorio an dem breiten Grinsen des deutschen Kommilitonen, hoffentlich keine Homobar, aber was immer ihn dort erwartet, er willigt ein. Den Abend allein zu verbringen wäre zu grausam gegen sich selbst.

Sie setzen sich an einen, wo Wagner äußerst konzentriert sein Schnitzel zerlegt. Vittorio löffelt mit wenig Appetit seine Suppe. Die Wärme der Flüssigkeit im Magen verursacht ihm Übelkeit.

„Ok, dann also bis heute Abend?“

Fast flehentlich bettelt Wagner um seine Bestätigung, ob er die Verabredung hält. Vittorio nickt leicht irritiert.

„Die Diskothek öffnet wochentags ab 21 Uhr. Bis 22 Uhr ist dann tote Hose, also besser, Du erscheinst erst danach.“

Als sie zur Geschirrablage laufen, drückt Wagner ihm zum Abschied kräftig die Hand.

Ein Muskelmonster denkt Vittorio für sich, als seine Hand anschließend schmerzt.

Auf dem Förderband, das die gebrauchten Teller und Tassen zur Geschirrwäsche transportiert, entdeckt er fast unberührte Mahlzeiten. Beim Essen ist offenbar nicht nur ihm der Appetit vergangen.

Da er öfter nicht genügend Geld für das Mensaessen übrig hat, stört ihn normalerweise der sorglose Umgang mit Nahrungsmitteln. Heute nicht.

Einem inneren Impuls folgend, flieht er durch das Portal der Mensa ins Freie. Draußen laut aufzuschreien wäre hilfreich, um das Knäuel an Enttäuschung, seine Wut und seinen Kummer zu öffnen und der Welt zu überreichen. Er hält sich zurück. Maria hat sich erfolgreich an ihm gerächt, Chapeau!

„Wien mördert mich, Wien bringt mich eines Tages noch um.“

Seinen gelegentlich laut lamentierenden Vater Antonio imitierend, der früher in Wien in einer Autowerkstatt als Mechaniker gearbeitet hat, ziehen Eindrücke aus Kindertagen und Jugendzeit an ihm vorüber.

Seine Mutter ist Österreicherin, sein Vater Italiener. Wegen fehlender Aufträge sind sie aus Wien weggezogen, arbeiten jetzt in seiner Heimat für den Service des Fiat Autokonzerns.

Mit siebzehn Jahren war Vittorio damals in der österreichischen Hauptstadt geblieben. Einzig seine Entscheidung und ein großer Schritt ins Erwachsenenleben. Alles, was er seitdem anfängt, will er zu Ende bringen.

Die ganze Tragweite seines Entschlusses war ihm damals nicht bewusst.

Ab und zu ruft er seine Eltern an und umgekehrt. Er vermisste sie oft, aber niemals zuvor so wie jetzt, in seinem ersten, ausgewachsenen Liebeskummer, der sich langsam, immer schmerzhafter, in seine Nervenbahnen hineinbohrt. In dieser Mischung aus Sehnsucht und Wut drängt es ihn, etwas Verrücktes anzustellen, um sich gewaltsam aus seinem Zustand herauszureißen. Die bekannte Krankheit des Gemüts zieht bei seinem ersten Mal alle Register.

Von Geburt an hat er in Wien gelebt, daher mutet es ihn surreal an, dass er sich unter seinen Freunden und Bekannten auf einmal als der einsamste Mensch auf Erden fühlt.

Mit seinen torkelnden Sinnen ziellos unterwegs durch Straßen und Gassen spürt er bohrende Blicke von Passanten auf sich, die ihn mit spöttischer Miene streifen, obwohl sie ihn in Wirklichkeit gar nicht wahrnehmen.

Aus Trotz etwas Verrücktes zu unternehmen, erscheint ihm plötzlich als der einzige Ausweg. Professor Gründling und Clara sind die einzigen Personen in Wien, die er im Zusammenhang mit Maria kennt. Sie könnten ihm ihre Adresse verraten, oder wohin sie verreist ist.

Vor einem Tabakgeschäft bleibt er stehen und überlegt. Da er in der Mitte des Gehsteigs stoppte, bremst er den Strom von Passanten, steht ihnen im Weg.

Clara hatte er vor Monaten in der Unfallklinik in Sölden näher kennengelernt, in der Zeit, als Maria dort als Patientin hilflos im Koma lag. Die Zeit, als alle um sie bangten, allen voran er. Er findet ihre Nummer im Handy und ruft sie an.

„Verdammt, die Rufnummer ist nicht erreichbar. Was soll das, Clara, bist Du etwa mit Maria verreist?“

In seiner von plötzlicher Eifersucht getriebenen Vorstellung sieht er die beiden Freundinnen kichernd in Liegestühlen mit Cocktails am Strand.

Er kauft sich eine Schachtel Zigaretten, raucht nervös, um seine liebeskranke Befürchtung zu lindern.

Da er im Nebenjob Mobilfunkverträge verkauft, verfügt er über ein modernes Smartphone, das ihm erlaubt, im Internet zu recherchieren.

Bald findet er die Telefonnummern sämtlicher Wiener Studentenwohnheime heraus. In einem davon müssten die beiden wohnen, er erinnert sich an eine Bemerkung von Clara über ihre zu teure Miete.

Er wählt die Nummer einer Rezeption.

„Grüezi mitenand, Studer mein Name. Ist meine Tochter Maria in ihrem Apartment? Sie hat sich ein neues Handy zugelegt und ich habe leider vergessen, mir ihre neue Telefonnummer zu notieren.“

Am anderen Ende der Leitung ist das Blättern in einer Liste zu vernehmen.

„Tut mir leid, Herr Studer, ihre Tochter ist heute früh abgereist. Ich kann Ihnen leider nicht helfen.“

Vittorio schaltet das Gespräch kommentarlos weg und merkt sich ihre Adresse.

„Irgendjemand hat mitbekommen, wohin sie gereist sind. Ich habe nicht vor, dir auf die Nerven zu fallen, Maria. Aber ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, was gestern zwischen uns abgelaufen ist.“

Entschlossen steigt er in eine Tram, die ihn zu dem Hochhaus fährt, wo Studenten betuchter Eltern Einzimmerapartments bewohnen.

MORIGNONE

Подняться наверх