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4. Frühlingscamp

Vor dem Örtchen Pfunds biegt der Fahrer eines Kleintransporters von der 180 auf die Spisser Landesstraße ab, die über ihre Serpentinen das Gefährt den Berg hinauf führt.

Beim Pensionswirt des Nogglerhofs haben die Studentinnen für das Frühlingscamp ihrer „Klimapazifisten“ eine Schäferhütte für Selbstversorger gebucht.

Als sie ihr Ziel erreichen, staunt der Pensionswirt über die zahlreichen Packtaschen, die sie aus dem Kleintransporter entladen und in einem Abstellraum der Pension unterstellen.

Die rasch eintretende Abenddämmerung über den Bergkuppen drängt sie zur Eile, denn mit ein paar der Taschen und Rucksäcke steht ihnen der Aufstieg zur Hütte noch bevor.

Als sie fertig mit dem Entladen sind und den Schlüssel der Schäferhütte und eine Wegbeschreibung erhalten, kraxeln sie voll beladen den Pfad zur Schäferhütte hinauf.

Der Anstieg treibt den Städtern den Schweiß aus den Poren, die malerische Landschaft beachten sie kaum. Trotzdem zeigen sie sich bestens gelaunt, denn als verantwortliche Veranstalterinnen des Frühlingscamps ihrer „Klimapazifisten“ nehmen Maria und Clara sämtliche Mühen gern in Kauf.

Es war Clara´s Idee, einen Tag vor den anderen Teilnehmern anzureisen, um die Hütte mit Schlafplätzen und die Selbstversorgung optimal vorzubereiten.

Seit einigen Monaten pflegen sie eine Webseite mit dem Titel „Klimapazifisten“ im Internet, worüber sich Interessierte aus verschiedenen Ländern für ihre Future-Kurse und Diskussionsrunden angemeldet haben. Sie erwarten neue Gesichter im Kreis ihrer kleinen Gruppe.

Erschöpft erreichen sie die Schäferhütte, ein quadratisches Holzhaus mit einer breiten Veranda und Fensterseite zum Tal hin. Maria dreht den alten Schlüssel im Schloss und öffnet die Tür.

„Hm, hätte ich mir größer vorgestellt.“

In einem flachen Raum sind drei Reihen Stockbetten aus tristem Metallgestänge aufgebaut, an einer Wand stehen zwei alte Holzschränke.

Vor der Brüstung zur Veranda steht eine Anrichte mit Herd und Spüle, in einem Regal lagern Kochgeschirr, Gläser, Tassen und Teller. Auf der Veranda steht ein länglicher Esstisch, ähnlich wie in einem Bierzelt, die Mahlzeiten werden aus der Kochnische direkt vom Herd herübergereicht.

Clara öffnet eine Holztür neben dem Eingang.

„Puh! Erst mal lüften! Dusche und Toilette auf eineinhalb Quadratmetern? Das gibt morgens ´ne Warteschlange vorm Heisl.“

Clara schüttelt den Kopf.

„Wer hier Luxus erwartet, kann meinetwegen gleich wieder abreisen. Für alle alles gratis, wir sind zu hundert Prozent durch Spenden finanziert. Mach dir also keine Gedanken wegen Luxus, liebe Clara!“

Sie treten auf die Veranda hinaus und genießen die letzten Sonnenstrahlen, bevor der Feuerball endgültig hinter den Gipfeln verschwindet.

„Kein WLAN, kein Internet, kein Handyempfang. Zwei Wochen lang, das wird die eigentliche Herausforderung für unsere Experten. Ich bin total gespannt auf die Neuen.“

Kichernd stolpern sie in den schmucklosen Innenraum zurück und zünden Kerzen an.

„So wirkt es hier gleich viel gemütlicher.“

Clara sortiert ihre Kleidung aus dem Rucksack in wohlgeordnete Stapel auf die Regale eines Schranks, Maria zündet weitere Kerzen an.

„Wir alle müssen lernen, mit weniger zufrieden zu sein. Also fangen wir damit an. Unser Glück hängt doch nicht von diesen verführerischen Dingen ab, die man uns tagtäglich als unersetzlich präsentiert.“

Clara lacht.

„Welche verführerischen Dinge meinst Du, Maria? Schokolade? Schuhe? Nette Jungs?“

„Jungs? An dritter Stelle, höchstens.“

Die Freundinnen werfen sich vielsagende Blicke zu.

„Glaubst Du, eine unaufhörliche Folge von multiplen Orgasmen könnte die Konsumgeilheit unserer Gesellschaft ersetzen?“

Clara rollt ihren Schlafsack auf der Matratze eines Stockbettes aus, lässt sich darauf nieder und wendet ihr Gesicht Maria zu.

„Ist das eine ernstgemeinte Frage, Maria?“

Maria streckt sich auf dem gegenüberliegenden Bett, das davon ein Quietschen hören lässt, dehnt ihren Rücken und zeigt ein ernstes Gesicht.

„Wenn man überlegt, welche Rolle Sex in der Werbung spielt, wie den Leuten vorgegaukelt wird, sie könnten sich durch Kaufen befriedigen, sollte der direkte Weg zum Glück doch vielversprechender wirken.“

Einen Moment lang schweigen die beiden Freundinnen. Clara fällt es schwer, über ihre sexuellen Bedürfnisse zu sprechen.

Maria erinnert sich an die ungezwungene Art, mit der sie mit der Musikerin Fina über alles reden konnte, was ihr spontan in den Sinn kam.

Leider war Fina nur eine Fantasiegestalt ihrer Träume, als sie im Koma lag. Ihre melancholischen Melodien hört sie aus dem Gedächtnis, als spielte sie draußen vor der Schäferhütte auf ihrem winzigen Akkordeon.

Die Erinnerung an ihre alptraumhaften Erlebnisse im komatösen Zustand lässt bei dieser Gelegenheit nicht lange auf sich warten.

Clara bemerkt den Stimmungsumschwung ihrer Freundin.

„Maria? Alles in Ordnung? Geht es dir gut? Möchtest Du ein Glas Wasser?“

Clara springt von ihrem Bett auf.

Die Zeit, als sie fast jedes Wochenende zur Unfallklinik in Sölden fuhr, die vielen Wochen, in denen sie gehofft hatte, Maria würde aus dem Koma erwachen, als sie Stunden an ihrem Krankenbett zubrachte, um sie aus diesem Zustand herauszuholen, ist ihr mit einem Schlag wieder gegenwärtig.

Sie erkennt die Gefahr eines Rückfalls, einer erneuten Regression in einen Zustand, der verlockend zu sein scheint. Wie Heroin für einen Junkie.

Clara eilt zur Kochnische hinüber und bringt eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank mit, die sie Maria kühlend an die Schläfe hält.

„Du hast dir zuviel zugemutet. Sollten wir das Frühlingscamp nicht besser absagen?“

Maria kommt wieder zu sich, die Klänge aus der verlockenden Ferne verklingen. Sie schnappt sich die Flasche und trinkt sie in einem Zug leer.

„Danke!“

„Maria, was war eben los mit dir?“

Maria sieht Clara schief ins Gesicht.

„Weißt Du, was ich mir wünsche, Clara?“

Die Freundin schüttelt den Kopf.

„Dass wir ganz unbefangen und offen über alles reden können, was uns durch den Kopf geht. Liebe, Sex, Neid, Eifersucht, über sämtliche Vorzüge, Nachteile und Gelüste, die ein Mensch haben oder entwickeln kann. Wir sind doch frei, warum nutzen wir unsere Freiheit nicht?“

Schüchtern setzt sich Clara auf die Bettkante. Zwischen ihren Händen zerknüllt sie ein Papiertaschentuch. Sie wirkt nervös.

„Ich habe Angst, dass Du mich langweilig findest, Maria.“

Ihr Blick sucht auf den Bretterdielen der Hütte nach Insekten, als läge irgendein Sinn darin, einen schwarzen Käfer auf seinem Weg zu verfolgen.

„Ich hatte nur einmal Sex mit einem Jungen. Es war schrecklich.“

Maria legt den Arm um die Schultern ihrer Freundin.

„Du dachtest wohl, ich falle wieder ins Koma. Das hat dich erschreckt, Clara. Du hast Probleme, loszulassen. Es ist nicht schlimm, ins Koma zu fallen, weil man es gar nicht mitkriegt. Man lässt los und landet in einer anderen Welt.“

Ihre feinen Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln.

„Bisher habe ich mit niemandem darüber geredet, was ich damals erlebt habe. Es klingt paradox, wenn ich dir sage, erlebt, denn ich lag ja die ganze Zeit über reglos auf einer Matratze wie dieser hier.“

Sie deutet mit dem Daumen auf die Matratze des Stockbettes.

„Clara, mach nicht solch ein Gesicht! Es kommt vielleicht auf diese Welt, die wir als real wahrnehmen, gar nicht so sehr an.

Also, vergiss den schlechten Sex mit diesem Typen, er wollte dir sicher nur etwas beweisen, was er selbst nicht kann. Das ging zu hundert Prozent in die Hose.“

Clara schaut zu Boden, dann nimmt sie den Kopf wieder hoch und grinst. Die aufmunternden Worte wirken.

„Manche Feministinnen halten Dildos für die besseren Liebhaber.“

Maria lacht, Clara zählt wieder Käfer auf dem Boden.

„Kennst Du den Unterschied zwischen einem Mann und einem Dildo?“

Clara blickt wieder auf und schüttelt den Kopf.

„Dildos zahlen im Restaurant nicht die Rechnung.“

Der Witz kommt bei Clara gar nicht an, sie steht auf und holt sich ein Glas Wasser.

„Weißt Du, wie ich es halte? Ich nehme mir, was ich brauche, wenn mir danach ist. Wichtig ist mir aber das hier, was wir machen, unsere Initiative, die Klimapazifisten. Daran hängt mein Herz, vor allem anderen.“

Wieder gelingt es Maria, ihre Freundin aufzulockern.

Clara zieht ihren Rucksack zu sich heran und holt eine Flasche Portwein hervor. Sie öffnet die Plastikfolie am Korken.

„Auf die Klimapazifisten?“

Maria springt auf.

„Warte, ich hole Gläser, damit wir darauf anstoßen können.“

Sie findet zwei Gläser neben der Spüle, die nicht sauber abgewaschen sind. Maria wischt die Spuren an ihrem T-Shirt ab.

„Jungs haben vor uns in der Hütte gewohnt, so viel ist sicher. Immer dasselbe Lied. Morgen müssen wir putzen.“

Clara gießt Portwein ein, sie stoßen an.

„Ich freue mich wahnsinnig auf diese zwei Wochen!“

„Auf uns!“

Sie trinken ihre Gläser in einem Zug leer.

„Mehr davon, Clara!“

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