Читать книгу Wilhelm von Ockham - Volker Leppin - Страница 14
3. Der prägende Denker: Duns Scotus
ОглавлениеIm Werk des Duns Scotus lässt sich die tief greifende Wirkung der Pariser Lehrverurteilung nachvollziehen.41 Duns gehörte zu denen, die aus dieser Verurteilung die radikale Konsequenz zogen, dass das Projekt der Harmonisierung von Christentum und heidnischer Philosophie vollends gescheitert war. Entsprechend scharf fiel seine Kritik an einem unkontrollierten Aristotelismus aus. Dabei verwarf er Philosophie keineswegs grundsätzlich. An einem Punkt, der Lehre von den Universalien, wurde er sogar außerordentlich produktiv: Die in der Philosophiegeschichte umstrittene Frage, welcher ontologische Status unseren Allgemeinbegriffen – vor allem den Art- und Gattungsbegriffen – zukomme, ob es sich hierbei um rein innermentale Größen, bloße Benennungen von eigentlich nicht real Vorhandenem handle, wie es der Nominalismus behauptete, oder ob es, nach der Position des Realismus, auch außerhalb unserer Seele und unseres Erkenntnisvermögens diese Allgemeinheit als eigene reale Entität gebe, versuchte Duns durch einen Mittelweg zu klären: mithilfe der Lehre von der distinctio formalis. Anhand dieses Modells wollte er ausdrücken, dass das Allgemeine sich insofern vom Einzelnen unterscheide, als es dessen formgebendes Prinzip sei. Das Allgemeine existiert also in keiner Weise, wie es der strenge Realismus forderte, für sich, etwa als eine „Menschheit an sich“, sondern es existiert nur in Gestalt von vielen Einzelentitäten. Zugleich aber geht es im Einzelnen nicht auf, sondern ist eben – und dies real – in den vielen Einzelnen zugleich und doch immer ein und dasselbe. In diesem Denkmodell äußerte sich ein neues, positiveres Verhältnis zum Einzelnen, ja zur Individualität an sich. Der Aristotelismus lehrte – zumindest in der Lesart des Universalienrealismus – eigentlich, dass stets die Form das Allgemeine sei, die Materie hingegen das Individuationsprinzip. Wiederum am Beispiel verdeutlicht: Es gibt die allgemeine Menschheitsform, und immer dann, wenn diese sich mit Materie verbindet, entsteht ein einzelner Mensch. Duns Scotus wollte aber nicht die Individualität als Prinzip der Materie stehen lassen, sondern versuchte durch seine distinctio formalis klar zu machen, dass Individualität zum realen Sein generell dazugehört: Sie ist nicht Folge dessen, dass zu einem für sich bestehenden Allgemeinen etwas anderes, eben die Materie, hinzutritt, sondern alles Sein ist individuell, indem und insofern es existiert. Duns Scotus versuchte dies sogar durch eine eigene Wortschöpfung auszudrücken. Er sprach von der haecceitas, der „Dieshaftigkeit“: Etwas, das „dies“ oder „jenes“ ist, ist eben ein einzelnes.
Trotz solcher philosophischer Produktivität aber sieht Duns Scotus seine Hauptaufgabe darin, der Philosophie ihre Begrenztheit aufzuzeigen. Die natürliche Vernunft, so argumentiert er, kann nicht das letzte Ziel des menschlichen Lebens und Handelns sein, da dieses selbst ein übernatürliches ist, nämlich die ewige Seligkeit. Von hier aus bestimmt Duns sein gesamtes Verständnis von Theologie. Theologie ist nicht eine theoretische, sondern eine praktische Wissenschaft, das heißt, sie ist Wissenschaft vom Handeln des Menschen und von seinem Ziel.
Dann aber ist eigentlicher Gegenstand der Theologie Gott, denn zum einen besteht die Seligkeit im Genießen Gottes, in der fruitio Dei, und zum anderen sind alle theologischen Wahrheiten in Gottes Erkenntnis enthalten und aufgehoben und die menschliche theologische Erkenntnis verdankt sich der Offenbarung Gottes.
Der Tatsache, dass diese Offenbarung angemessen allein durch den Glauben, nicht aber durch die natürliche Vernunft auf- und anzunehmen ist, entspricht es dann, dass Duns gegenüber Thomas von Aquin auch in Gott nicht der Vernunft den Vorrang einräumt, sondern dem Willen. Diese Gottesauffassung wurde gerne als Voluntarismus kritisiert, doch geht es bei dem Gott des Duns Scotus nicht um einen willkürlich handelnden Gott, denn Gottes Wille entspricht seinem Wesen und entspringt also letztlich der Gutheit Gottes.
Näher kommt man einem Verständnis des Doctor Subtilis, wenn man die Stoßrichtung bedenkt, in die seine Überlegungen gehen. Letztlich handelt es sich hier um eine Wahrung des biblischen Gottesbildes angesichts einer Situation, in der die konsequenten Aristoteliker in Paris ein Gottes- und Weltbild entworfen hatten, das alles nach Notwendigkeit ablaufen ließ. Dem setzt Duns eine Theologie der freien Souveränität Gottes entgegen.
Diese konzentriert sich darin, dass bei Duns auch zum ersten Mal die schon seit einiger Zeit gängige Unterscheidung von absoluter und gebundener Macht – potentia absoluta bzw. ordinata – in Gott systematisches Gewicht erhält, was später bei Ockham eine ganz zentrale Rolle spielen sollte. Nach Duns handelt Gott einerseits im Allgemeinen regulär. Andererseits aber kann Gott sich jederzeit auch von den allgemein gültigen Gesetzen lösen, denn als oberster Gesetzgeber ist ihm das Gesetz so unterworfen, dass er es jederzeit, auch momenthaft umstürzen kann. Wichtigster Anwendungsfall hierfür ist die Rechtfertigungslehre, die bei Duns im strengen Sinne als Akzeptationslehre zu verstehen ist: Gott unterliegt bei der Rechtfertigung des Menschen keinen notwendigen Zwängen, sondern die Rechtfertigung eines Menschen geschieht aufgrund der freien Annahme des Menschen durch Gott. Trotz dieser Betonung der Souveränität Gottes ist die Heilssicherheit der Menschen freilich nicht gefährdet. Diese beruht darauf, dass Gott selbst sich an eine bestimmte Heilsordnung gebunden hat.42
Man wird diese in Paris entwickelten Lehren zwar nicht eins zu eins am Franziskanerstudium in Oxford voraussetzen dürfen, aber ihre Wirkung war ungeheuer – schon allein weil nun endlich auch die Franziskaner einen großen Gelehrten unter ihren Ahnen hatten, der an Gewicht und Wirkung dem dominikanischen Theologen Thomas von Aquin gleichkam. Der Franziskanerkonvent in Oxford verfügte über seine sämtlichen Werke, einige sogar im handschriftlichen Original und mit den entsprechenden eigenhändigen Notizen des Duns.43 Dabei war seine Wirkung in der Theologie noch um einiges höher als in der Philosophie: Die distinctio formalis, die in der Gefahr stand, eine komplexe Frage zwar ihrerseits höchst komplex, aber letztlich doch nur in Gestalt eines Verbalkompromisses zu beantworten, blieb zwar nicht ohne Anhänger, hatte aber doch eine weit geringere Wirkung als insbesondere die Unterscheidung der potentia absoluta und ordinata. Nach einer zunächst zögerlichen und sehr kritischen Rezeption des Duns Scotus in Oxford gewann ab 1316 – also kurz bevor Ockham selbst mit seiner Sentenzenvorlesung begann – mit der Berufung Wilhelms von Alnwick der Scotismus bei den Oxforder Franziskanern massiven Einfluss.44 Dieser hatte in Paris bei Duns gehört und wohl sogar als dessen Sekretär agiert – diese Funktion legt es nahe, dass er es war, der die Autographe des Duns Scotus nach Oxford brachte. Möglicherweise unter seinem Einfluss hatte auch Johannes von Reading in seiner Oxforder Sentenzenvorlesung seine scotistische Theologie entwickelt.45 Jedenfalls war das Umfeld Ockhams durch solche Persönlichkeiten ganz entschieden von Scotus geprägt, und es ist seinen eigenen ersten Werken anzumerken, dass er sich zwar keineswegs in geistiger Abhängigkeit von dem großen Schotten befand, aber diesen zu einem seiner ersten, wenn nicht zu dem ersten Gesprächspartner machte. Von ihm hat er Problemstellungen übernommen, vor allem die Konfrontation mit dem konsequenten Aristotelismus, und zum Teil auch Problemlösungen, vor allem in der potentia-Lehre, während er in der Universalienlehre eigene Wege ging.