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4. Ockhams Studiengang
ОглавлениеWie die meisten anderen Lebensdaten Ockhams sind auch die über seine Studienzeit nur indirekt zu erschließen. Seine Sentenzenvorlesung kann man mit einiger Sicherheit auf die Zeit nicht vor 1317 datieren, da Ockham die Sentenzenvorlesung des Pariser Theologen Petrus Aureoli (ca. 1280 – 1322) voraussetzt, die er frühestens in dieser Zeit in Händen gehabt haben kann.46 Nimmt man dieses Jahr als einigermaßen gesichert, so kann man die Studienjahre aufgrund der allgemeinen Universitätsstatuten berechnen.
Seine artes-Studien dürfte Ockham, wie ausgeführt, noch in London absolviert haben. Da er seine Sentenzenvorlesung frühestens nach neun Jahren Theologiestudium halten durfte, muss er von hier 1308 fortgegangen sein, wenn er nicht von der auch anerkannten Möglichkeit Gebrauch gemacht haben sollte, die ersten Jahre des Theologiestudiums in London zu absolvieren. Ein knappes Jahrzehnt in London hätte dann zum Zeitpunkt des Studienbeginns in Oxford hinter ihm gelegen, und man kann so etwas wie eine hypothetische Biografie zusammenstellen, in der zumindest die verschiedenen vermuteten Daten gut zueinander passen, was zwar keinen Erweis ihrer Wahrheit darstellt, aber doch zeigt, dass sie stimmig sind. Aufgrund des gesicherten Datums der Subdiakonenweihe lässt sich ein Geburtsjahr kurz vor 1286 annehmen. Dann hätte Ockham tatsächlich mit vierzehn Jahren, im Jahr 1300 das Franziskanerstudium in London beginnen können, wo er sich möglicherweise schon seit sieben Jahren, also seit 1293 als Schüler befand. Die für ein Theologiestudium in Oxford vorgeschriebenen acht Jahre artes-Studium hätte er dann 1308 hinter sich gebracht gehabt – eben in dem Jahr, in dem tatsächlich auch aus anderen Gründen mit seinem Wechsel nach Oxford zu rechnen ist.
Die ersten Jahre seines Theologiestudiums waren vom Hören von Vorlesungen über die Sentenzen des Petrus Lombardus und über die Bibel geprägt. Mindestens drei Jahre musste der Theologiestudent biblische Vorlesungen hören, ehe er zum Bakkalaureat zugelassen werden konnte.47 Für Ockham waren es vermutlich noch einige Jahre mehr: Da die zuvor zu hörende Sentenzenvorlesung ein Jahr in Anspruch nahm, er aber ohne den Magisterabschluss an den artes insgesamt sechs Jahre an der Theologischen Fakultät zu studieren hatte, ehe er Baccalaureus werden konnte48 , blieb genug Zeit für derartige biblische Vorlesungen. Viele Jahre des Studiums verflossen also mit Studieninhalten, in denen nicht gerade die neuesten theologischen Diskussionen stattfanden: Während die Sentenzenkommentare gewissermaßen die Systematische Theologie ihrer Zeit darstellten, also den akademischen Ort, an dem ein Ausgleich zwischen Philosophie und Theologie gesucht, an dem die Dogmatik durchdacht und auf ihre intellektuelle Haltbarkeit hin überprüft wurde, boten die biblischen Vorlesungen weithin den tradierten Stoff.
Nach Ablauf der vorgeschriebenen sechs Jahre wurde der Theologiestudent dann von seinem Magister dem Rektor der Universität und den beiden Prokuratoren, den Vertretern der beiden Nationen (der „Northener“ und „Southener“), präsentiert.49 Überstand er die hiermit verbundene Prüfung seines bisherigen Studienverlaufs, so wurde er als opponens zu theologischen Disputationen zugelassen, also als derjenige, der einer vorgetragenen These zu widersprechen hatte. Damit wurde er aus der theoretisch ganz passiv angelegten Rolle des Vorlesungshörers in die aktivere des an Disputationen Beteiligten versetzt. Hierauf folgte ein Jahr als respondens: Aus der bloßen Argumentation gegen bestimmte Positionen musste er nun weiter schreiten zu der Rolle des positiv für eine These Argumentierenden, freilich noch ohne dass er selbst die Aufgabe erhalten hätte, eine Frage zu beantworten. Dies blieb dem Magister überlassen.
Der Student hatte also neun Jahre an der Theologischen Fakultät verbracht, ehe er zum Baccalaureus wurde. Das bedeutete, dass er nun die Funktion erhielt, eine Sentenzenvorlesung zu halten: Das mittelalterliche Lehrsystem sah vor, dass Studenten Studenten unterrichteten. Das Baccalaureat bedeutete zwar eine vorläufige Form der Graduierung, aber noch keine Beendigung des Studentenstatus. Der Baccalaureus bereitete sich weiterhin auf seine theologische Promotion vor, musste hierzu aber eine eigenständige Vorlesung halten. Immerhin hatte er nun als Franziskaner siebzehn Jahre Studium hinter sich gebracht, und Ockham dürfte zu dem Zeitpunkt, als man ihm die Sentenzenvorlesung übertrug, einunddreißig Jahre oder wenig älter gewesen sein.