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1. Die Herkunft

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Das kleine Dorf liegt nicht weit von London: Ockham.

Hier, in der Grafschaft Surrey, südwestlich der englischen Metropole1 , dürfte der Mann geboren worden sein, durch den der Name des Dorfes zu einem philosophischen Programm wurde: Wilhelm von Ockham. Ein Glasfenster in der Dorfkirche sucht die Erinnerung an den größten Sohn des Ortes aufrechtzuerhalten. Doch so bunt und plastisch es ist, vermittelt es dennoch keinen realen Eindruck von seinem Äußeren, von seiner Physiognomie. Nur eine kleine Zeichnung auf einem Manuskript ist noch zu seinen Lebzeiten entstanden. Sie zeigt ein schmales Gesicht, bartlos, jugendlich. Doch schon eine solche Beschreibung macht deutlich, dass hier mehr der Typus im Blick ist, der Ordensbruder und Asket. Dem Menschen Wilhelm, geboren in dem Dorf Ockham, können wir uns kaum nähern.

Auch was von seiner Hand erhalten ist, bietet kaum einmal einen Einblick in seine Persönlichkeit, und wenn, dann oft nur sehr versteckt. Ein einziger echter Brief ist überliefert, geschrieben 1334 zur Verteidigung gegen die Vorwürfe, die zu seiner Exkommunikation geführt hatten. Eine harte, kirchenjuristische Anfechtung: Das ist nicht die Gelegenheit zu allzu persönlichen Stellungnahmen, zumal wenn nicht ein Einzelner der Adressat ist, sondern die Gemeinschaft der Brüder des Franziskanerordens, die sich seinerzeit in Assisi versammelt hatten. Ein persönliches Dokument? Auch. Aber vor allem eine Verteidigungsschrift, streckenweise ein Pamphlet.

Was sonst erhalten ist, sind Vorlesungen, Traktate, Streitschriften, Gutachten. Gelehrte Texte, die etwas von seinem Denken erfahren lassen. Seine Persönlichkeit aber verschwindet dahinter. Und wie bei den meisten Gestalten des Mittelalters gilt für ihn auch: Selbst das äußere Gerüst seiner Lebensdaten ist nur schwer zu rekonstruieren. Das Geburtsjahr dürfte um 1285 gelegen haben.

So kann man es aus der ersten Notiz erschließen, in der uns sein Name begegnet: Am 27. Februar 1306 wurde ein „Willelmus de Ocham, O. F. M.“ in der St.-Salvator-Kirche in Southwark zum Subdiakon geweiht.2 Southwark lag in einem politisch London unterstehenden Gebiet, das zur Diözese Winchester gehörte; und zu dieser Diözese gehörte auch eben jenes Dorf Ockham, aus dem Wilhelm stammen dürfte.3 Handelt es sich bei diesem neuen Subdiakon also wirklich um eben den Wilhelm von Ockham, der später Lehrer in Oxford war, der vom Papst verhört und vom Kaiser als Berater an seinen Hof geholt wurde? Alles scheint zu passen: die Lokalisierung in der Diözese Winchester, dazu der Name „Ocham“ – dies ist eine der üblichen Schreibweisen für „Ockham“, wie sie später auch in Manuskripten seiner Werke immer wieder begegnen, die Fassung „Ockham“ ist eine späte Normalisierung. Das Jahr 1306 wäre zumindest mit dem, was man an späteren Daten rekonstruieren kann, in Einklang zu bringen. Die geographische Nähe zu London wohl auch.

Es scheint so zu sein: Hier begegnet er uns zum ersten Mal. Wenn dem so ist, lässt sich daraus ein gewisser Anhaltspunkt für das Geburtsjahr ableiten. Nach den nur wenig später in den Clementinen erlassenen kanonischen Vorschriften musste man bei der Weihe zum Subdiakon mindestens 18 Jahre alt sein.4 Und auch wenn die entsprechenden Bestimmungen schwankend sind, liegt man sicherlich richtig mit der Schätzung, dass Ockham wohl kaum nach 1286 geboren sein dürfte, wahrscheinlich ein paar Jahre früher, weswegen man in der Regel von einem Geburtsjahr zwischen 1280 und 1285 ausgeht.

Seine Herkunft aus dem kleinen Dorf wie auch das Fehlen jeglichen Hinweises auf adelige Abstammung sprechen dafür, dass Wilhelm Sohn einer bäuerlichen Familie war. Mehr über seinen sozialen Hintergrund zu behaupten, hieße, eine Spekulation auf die andere zu häufen. Wäre er der einzige überlebende Sohn gewesen, wäre er schwerlich in einen Orden gegangen, also wird man, wie ohnehin in dieser Zeit, von einigen Geschwistern auszugehen haben. Doch Eltern und Geschwister spielen in seiner späteren Realität keine Rolle mehr. Ob er sie noch einmal besucht hat, nachdem er sich dem Franziskanerorden angeschlossen hatte? Die Wege waren beschwerlich, die Verpflichtungen im Orden groß. Jedenfalls hat er nach seinem vierzigsten Lebensjahr keinen Fuß mehr nach England setzen können, weil ihn erst der Prozess vor der päpstlichen Kurie, dann die Verpflichtungen am Kaiserhof auf dem Kontinent hielten. Und aus dieser Zeit liegt keine Korrespondenz vor – vermutlich konnten die nächsten Verwandten gar nicht schreiben. Aber auch keine Äußerung des Bedauerns über die Trennung: Wilhelm ist früh in andere soziale Zusammenhänge gekommen, die die Familie vielleicht nicht vergessen, aber doch zurücktreten ließen.

Von dem England seiner Zeit dürfte er nicht viel mitbekommen haben. Der Kontext des Dorfes bestimmte seinen Horizont. Also hat er von den Kriegen mit Schottland wohl wenig gehört, die einer der Anlässe für den noch zu seinen Lebzeiten – wahrscheinlich 1337 – ausbrechenden Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich waren. Und auch eine andere für die Geschichte Englands bedeutsame Entwicklung dürfte in seinem dörflichen Kontext keine Rolle gespielt haben: der Wandel von einer traditionalen Rechtskultur zu einer schriftlichen, der sich unter König Eduard I. (1272 – 1307), unter dessen Regentschaft Wilhelm in Ockham geboren wurde, vollzog.5 Diese Art der Rechtsetzung stärkte zugleich eine Institution, die sich als entfernte Folge der Magna Charta von 1215 entwickelt hatte: das englische Parlament. Zunehmend wurden in diese Versammlung nicht nur die Großen des Reiches, sondern auch niedere Adelige und Abgesandte der Städte einbezogen – eine Entwicklung, die übrigens gerade von Bettelorden wie den Franziskanern entschieden gefördert wurde. Aber so reizvoll diese Verbindung mit Ockhams späterer Zugehörigkeit zu den Franziskanern war: Auch hiervon dürfte er in dem kleinen Ockham nichts mitbekommen haben.

Wilhelm von Ockham

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