Читать книгу Die Spirale der Gewaltkriminalität IV / 4., neu bearbeitete Auflage - Volker Mariak - Страница 8

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2. Vorwort – zugleich ein kurzer Ausflug in die Philosophie

Die vorliegende Schrift ist nicht allein gedacht für den wissenschaftlichen Diskurs. Sie wendet sich ebenfalls an das breite Spektrum der Tierschutz-Engagierten und an Kreise interessierter Leser*innen, die zunächst einen kurzen, informativen Überblick über die Gewaltthematik gewinnen möchten. In diesem Sinne beinhaltet die Arbeit das Anliegen, die ethische, soziokulturelle und rechtliche Problematik der Tierquälerei aus einem Blickwinkel darzustellen, der über das verursachte Leid am Tier hinaus die Gefahr zunehmender Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung auch für das mitmenschliche, soziale Umfeld der Täter*innen verdeutlicht. Viel zu lang wurde Tierquälerei sowohl im psychosozialen als auch im rechtlichen Bereich als wenig relevantes, das gesellschaftliche Zusammenleben nur geringfügig störendes Verhalten bewertet.

Diese Tendenz, Tierquälerei mehr oder weniger als Ordnungswidrigkeit, als „Kavaliersdelikt“, einzustufen, findet sich auch heute noch in der bundesdeutschen Rechtsprechung - trotz der ab dem ersten August 2002 erfolgten Erhebung des Tierschutzes zum Staatsziel. Im Gegensatz dazu haben in den USA kriminologische und psychologische Studien bereits sehr früh gezeigt, wie gefährlich ein Unterschätzen der gewaltausübenden Haushaltsmitglieder ebenfalls für ihre Mitmenschen sein kann. Dort hat die Exekutive aus den Forschungsresultaten praktische Konsequenzen gezogen und bundespolizeiliche Ermittlungsmethoden wie das Profiling auf diese Gefahr abgestimmt, während in der Legislative nun ernsthafte Bestrebungen der Strafverschärfung zu beobachten sind.

Mittlerweile belegen auch deutsche Studien, dass ein deutlicher Zusammenhang zwischen Tierquälerei und der Gewalt gegen Menschen besteht. Auf diese wissenschaftlich fundierten Aussagen wird in späteren Textabschnitten näher einzugehen sein. Zitiert wurden im Vorspann zu dieser Schrift die Aphorismen dreier herausragender Persönlichkeiten zum Thema Tierquälerei. Alle drei verweisen auf deutliche Parallelen zwischen dem Sachverhalt Tierquälerei und der Gewalt gegen Menschen. Die Liste entsprechender Einschätzungen ließe sich mühelos und fast beliebig erweitern. Frühe Philosophen und heutige Fachwissenschaftler*innen – sie alle vereinigt der logische Schluss, dass Gewalt gegen Tiere auch das Fundament für Gewalt gegen Menschen legt.

Und nicht ohne Grund steht der berühmte Ausspruch von Immanuel Kant über diesen Zusammenhang von Tierquälerei und Gewalt gegen Menschen an erster Stelle der genannten Zitate. Mit seiner klaren Aussage, dass Tierquälerei ebenfalls zu Unbarmherzigkeit und Brutalität gegenüber Mitmenschen führe und damit indirekt zu einer Gefährdung des menschlichen Zusammenlebens, verdeutlichte Kant die so genannte Verrohungsthese, die dann auch die erste Tierschutzgesetzgebung wesentlich beeinflusste. Präzise heißt es bei Kant in seinen Ausführungen zu den „metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“:

„In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Tiere der Pflicht des Menschen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt, weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität, im Verhältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird; […]“

(Kant, 2016, S.224 f.)

Die gängige Interpretation der Kantischen Tierethik verweist darauf, dass Kant mit dieser Aussage nicht etwa das Unrecht anprangerte, welches betroffenen Tieren widerfährt: Eine Person, die Tiere quäle, handle in seinen Augen eben nur verwerflich, weil sie ihre Pflicht gegen sich selbst und ihre Mitmenschen verletze. Indem sie Tiere quäle, mindere sie ebenfalls ihre sozial wertvolle Fähigkeit zur Empathie gegenüber den Mitmenschen. Diese besondere menschliche Fähigkeit sei zum Erhalt des Sozialgefüges Gesellschaft aber „sehr diensam“ und somit unbedingt zu bewahren. Den Tieren werde mit dieser philosophischen Überlegung ein eigener moralischer Status abgesprochen. (Kant, 2016, S. 224 f.; siehe dazu: URL Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften [drze])

Die vorgenannten moralpädagogischen Argumente des Immanuel Kant lassen somit folgende Deutung zu: Nicht um der Tiere willen, sondern einzig um der Menschen willen soll Tierquälerei unterbleiben. Natürlich ist diese spezielle „Tierethik" im Zeitablauf nicht ohne vehemente philosophische Kritik geblieben.

Eines der wichtigsten Gegenargumente kam bereits von Arthur Schopenhauer, der sich als Vollender der Kantischen Philosophie sah und das mit der Verrohungsthese scheinbar verbundene anthropozentrische Weltbild (der Mensch als Maß aller Dinge) entschieden verneinte. Schopenhauer, der die Bildung von Tierschutzvereinen sehr befürwortete, selbst Mitglied im Frankfurter Tierschutzverein (Frankfurt am Main) war, und ebenfalls den damals neugegründeten Münchener Tierschutz unterstützte, schrieb zu dieser Zeit:

„Die Tierschutzgesellschaften, in ihren Ermahnungen, brauchen immer noch das schlechte Argument, dass Grausamkeit gegen Tiere zu Grausamkeit gegen Menschen führe; – als ob bloß der Mensch ein unmittelbarer Gegenstand der moralischen Pflicht wäre, das Tier bloß ein mittelbarer, an sich eine bloße Sache! Pfui!” (URL Schopenhauer)

In einer anderen Stellungnahme wendet sich Schopenhauer entschieden gegen den – aus seiner Sicht - von Kant propagierten Sonderstatus des Menschen und die folgliche Herabsetzung des Eigenwertes der Tiere:

„Also bloß zur Übung soll man mit Tieren Mitleid haben, und sie sind gleichsam das pathologische Phantom zur Übung des Mitleids mit Menschen. Ich finde, … solche Sätze empörend und abscheulich.” (URL Schopenhauer)

Aus der Sicht Schopenhauers beleidigt Kant die „echte Moral“, wenn er unterstellt, dass Tiere bloße Sachen sind, die man als Mittel zum moralischen Zweck benützen müsse. Für Schopenhauer waren Menschen und Tiere weitgehend wesensgleich. Und in der Tat klingt die philosophische Forderung, lediglich Menschen als Geschöpfe mit einem sittlich verbindlichen Eigenwert zu begreifen, arrogant, ethisch schlicht falsch und wäre – bei Umsetzung dieses Gedankens in reales Handeln – katastrophal für unsere Umwelt. Der Kantische Satz, dass der Mensch keine Pflicht gegen irgendein anderes Wesen habe als allein gegen seine Mitmenschen, könnte - falsch verstanden und angewandt - nicht nur zu einem ethisch-philosophischen Desaster hinleiten. Zwei Hauptpunkte lassen die Kantische These jedoch in einem neuen Lichte erscheinen und sollten zu tieferem Nachdenken führen:

a)

Es liegen Forschungsarbeiten vor, die aktuell zeigen, dass die Tierethik Immanuel Kants einer Neubewertung bedarf. Insbesondere die Arbeit der Moraltheologin Dr. Heike Baranzke legt nahe, dass die nicht nur wissenschaftlich eingefahrene Interpretation der Kantischen These als tierfeindlich auf einem Falschverständnis beruht. Folgt man dieser Autorin, so zeigt sich bei Kant das Verbot der Tierquälerei als absolut und ohne jedweden anderen Handlungsspielraum: Dieses Tabu zähle Kant zu den kategorisch verbindlichen, vollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst und nicht etwa nur gegenüber den Mitmenschen. Es befinde sich ebenfalls nicht unter den mehr oder weniger beachtenswerten Pflichten zur Selbstkultivierung.

Mit dieser speziellen Einordnung des Tierquälerei-Verbots in die Pflichtenlehre gewinnt aber auch die Verrohungsthese ein anderes argumentatives Gewicht: Sie taugt nur noch bedingt als Begründung des Tierquälerei-Verbots, da der zwischenmenschliche Aspekt nun weniger bedeutsam ist. (Baranzke, 2002; siehe dazu auch: URL Baranzke) Aus der vorstehenden Neuinterpretation Kantischer Tierethik resultiert nicht nur eine philosophische Ehrenrettung, sondern ebenfalls die Abwertung der Verrohungsthese. Und genau hieraus ergibt sich der zweite Problempunkt:

b)

Philosophisch korrekt lässt sich das Verbot der Tierquälerei bei Kant nun von der Verrohungsargumentation abkoppeln. Es handelt sich primär nicht mehr um eine Fremdverpflichtung gegenüber den Mitmenschen. Menschen sind - der neuen Auslegung entsprechend - streng verpflichtet, Tierquälerei zu unterlassen, weil bei Zuwiderhandlungen ihre eigene moralische Integrität auf dem Spiel steht. Damit erhält die Unterlassung von Tierquälerei eine neue Qualität: Sie gerät nicht mehr zu einem bloßen „Charakterbonus“, den man sich je nach Lust und Laune verdienen mag oder nicht. (URL Baranzke, vgl. auch: URL Franzinelli)

Nicht nur für den Tierschutz ergeben sich aus dieser Position Kardinalfragen: Ist die Verrohungsthese damit wissenschaftlich obsolet und vom Tisch?

Sollte man nicht lieber Schopenhauer folgen, wenn er meint, dass die Tierschutzorganisationen mit ihren Ermahnungen und dem Aufzeigen der Parallelen zwischen Tierquälerei und Gewalttaten gegen Menschen „schlechte Argumente“ vorbringen? Ist die Annahme einer Kausalität zwischen diesen beiden Variablen vielleicht nur wissenschaftlich verbrämter Unfug, der besser unterbliebe? Welche Handlungsstrategie ergibt sich auf dieser Basis für eine pragmatisch ausgerichtete Präventionsarbeit in Sachen Gewalttat? Die rein philosophisch-ethische Argumentation führt die Moraltheologin Baranzke zu folgenden, zumindest kriminologisch irritierenden Fragen:

„Ist es denn überhaupt wahr, dass jeder, der einen Menschen quält, zuvor ‚zur Übung’ Tiere gequält hat, und wird ein Tierquäler notwendiger Weise zum Menschenmörder? Weder die eine noch die andere These wird sich wohl beweisen lassen. Aber selbst eine empirisch belegbare Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer rohen Behandlung von Menschen nach tierquälerischen Praktiken wäre als primäre Begründung für ein Verbot von Tierquälerei tierethisch sowenig akzeptabel wie der fiktive kausale Zusammenhang zwischen Tierquälerei und Menschenfreundlichkeit für die Forderung von Tierquälerei zur Verbrechensprävention.“ (URL Baranzke)

Zunächst stimmt es natürlich, dass nicht ausnahmslos jeder der Tiere quält, dann auch in die Gruppe der Menschenquäler*innen und Mordbereiten hineinmutiert. Dies ist eine unzulässige Vereinfachung und hier selbst als rhetorische Frage unfair, denn eine solche Behauptung stellt niemand mit wissenschaftlichem Ernst auf.

Anders sieht es aus mit einer empirisch belegbaren Wahrscheinlichkeit der Kausalität zwischen tierquälerischen Praktiken und der „rohen“ Behandlung von Menschen. Wir werden in nachfolgenden Kapiteln sehen, wie sadistische Mehrfachmörder vom Schlage eines Peter Kürten oder Frank Gust sowohl Gewalt gegen Tiere als auch gegen Menschen verübten, wie Tierquälerei und das Abschlachten von Tieren ihren Lebenslauf bestimmten. Und wie sie selbst davon berichteten, dass Tierquälerei bzw. Tierschlachtung in ihrer Kindheit zum Schlüsselreiz des abweichenden Verhaltens geriet. Diese „rohe“ Behandlung von Menschen wurde in der sogenannten Probierphase ohne Zweifel zunächst an Tieren eingeübt.

Des Weiteren soll im zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt werden, dass die Relation „Gewalt gegen Tiere – Gewalt gegen Menschen“ nicht nur ein isoliertes Phänomen sadistischer Mehrfachmörder darstellt: Wie anfangs erwähnt, liegen zahlreiche wissenschaftliche Studien vor, die - empirisch-statistisch abgesichert - genau diese Verknüpfung mit hoher Wahrscheinlichkeit für ein breites Spektrum abweichenden Verhaltens belegen. Eine Auswahl entsprechender Forschungsresultate wird daher in späteren Arbeitsabschnitten vorgestellt und erörtert.

Mit Blick auf den von Baranzke infrage gestellten Zusammenhang sei hier ergänzend ein Sachverhalt aus dunkelster deutscher Vergangenheit genannt, der ebenfalls in mehreren Arbeiten angesprochen und in einem Interview mit Dr. Charles Patterson, dem Autor von „Eternal Treblinka“ auf den Punkt gebracht wird. (Patterson, 2002) Patterson verweist in seiner außergewöhnlichen Arbeit auf „die industrialisierte Schlachtung von sowohl Menschen als auch Tieren in der modernen Zeit“:

„Es geht um die Gleichheit in den Einstellungen und Methoden die hinter der Behandlung von Tieren durch unsere Gesellschaft stecken und die Art, in der Menschen sich durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch häufig gegenseitig misshandelt haben, in aller stärkster Form während des Holocausts. Manche Leute werden über diese Parallele vielleicht überrascht sein, aber wie ich in dem Buch darlege, war die Ausbeutung von Tieren das Modell und die Inspiration für die Grausamkeiten die Menschen sich gegenseitig angetan haben, dabei sind die Sklaverei und der Holocaust sicher zwei der wohl dramatischsten Beispiele dessen.“ (URL Schwartz)

Und später führt Patterson seinen Standpunkt weiter aus:

„Nach meiner Ansicht war und ist die Ausbeutung und Schlachtung von Tieren das Modell und der Impetus für menschliche Unterdrückung und Gewalt – Krieg, Terrorismus, Sklaverei, Genozid und die endlosen anderen Grausamkeiten, die wir Menschen weiterhin aneinander ausüben.

Ich zeige in dem Buch, wie die Versklavung (‚Domestizierung’) von Tieren zur menschlichen Sklaverei geführt hat, wie das Züchten von domestizierten Tieren zu Zwangssterilisierungen, Euthanasiemorden und Genozid geführt hat und wie die Fließband-Schlachtung von Tieren zur Fließband-Schlachtung von Menschen führte.“

(URL Schwartz; siehe auch: URL VgT-Dokumentation zur Zeitgeschichte des Holocausts an den Nutztieren)

Es fällt schwer, nach dem Studium dieser Forschungsarbeit einen nur „fiktiven kausalen Zusammenhang zwischen Tierquälerei und Menschenfreundlichkeit“ (Zitat: Baranzke) zu sehen bzw. die Verrohungsthese zu negieren. Und noch unverständlicher erscheint die Leugnung tierquälerischer Praktiken als Ausgangspunkt und Übungsfeld für die „rohe Behandlung“ (Zitat: Baranzke) von Menschen. Völlig abzulehnen ist daher die praktische Vermeidung einer Strategie der Verbrechensprävention, die auf genau diese offensichtliche Relation „Tierquälerei – Gewalt gegen Menschen“ abhebt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Hier soll keinesfalls einem neuen Speziesismus das Wort geredet werden, der frei nach der gängigen Kant-Interpretation davon ausgeht, dass Tiere als bloße „Sachen“ keinen eigenen moralischen Status besitzen und nur mit Blick auf das Wohl des Menschen als „Krone der Schöpfung“ für eben dieses „Überwesen“ relevant sind. Dies wäre, wie bereits betont, ethisch eindeutig der falsche Weg, denn es lassen sich keine moralisch fundierten Beweise finden, die Benachteiligungen von Tieren gegenüber uns Menschen rechtfertigen könnten. Es würde sich schlicht um eine Form von „Gruppenegoismus“ der Lebensform Mensch handeln. (Siehe dazu: URL Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften [drze], Kapitel III.: „Kernfragen der ethischen Diskussion. Der moralische Status von Tieren und Menschen.“, Abschnitt 2.1.1: Tierinteressenposition)

Bei allem ethisch-philosophischen Purismus darf jedoch nicht verkannt werden, dass aus kriminologisch-pragmatischer Sicht mit dem Phänomen Tierquälerei oftmals deutliche Warnzeichen für spätere Gewalttaten an Menschen vorliegen.

Es kann nicht im Sinne ethischer Postulate sein, wenn diese Anzeichen realiter von Eltern, Lehrer*innen, der Polizei und Justiz schlicht ignoriert würden – so, wie es leider mit schrecklichen Folgen in der Vergangenheit bereits geschehen ist. Die wissenschaftlich untermauerte Annahme, dass Gewalt gegen Tiere in bestimmter gesellschaftlicher Situation ebenfalls zur Gewalt gegen Menschen führt, hat ihre bittere Berechtigung – egal, ob man sie nun als ethisch unzulässiges Verrohungsargument abqualifiziert oder nicht. Daraus resultiert dann auch, dass die Ermahnungen der Tierschutzorganisation mit ihren Hinweisen auf die Biografien von Gewalttäter*innen und ihre Erfahrungen in Sachen Tierquälerei bzw. Tiertötung nicht einfach nur als „schlechte Argumente“ (Zitat: Schopenhauer) zu begreifen sind: Im Endeffekt helfen sie, durch Prävention sowohl das Leben von Tieren als auch das von Menschen zu bewahren. Bei Baranzke heißt es dazu jedoch:

„Das Aufzeigen etwaiger negativer Konsequenzen – z.B. der zunehmenden persönlichen Abstumpfung sowie der sozialen Auswirkungen – sind zwar erlaubte pädagogische Hilfsmittel, durch die unmündige Kinder klug überredet und zur vernünftigen Einsicht angeleitet werden können. Aber es wäre ein ethischer Irrtum, sich eventuell einstellende Konsequenzen einer Handlung mit dem ethischen Grund zu verwechseln, durch den sie verboten ist, dass nämlich niemand berechtigt ist, ohne vernünftige, allgemein einsehbare Begründung Schmerzen und Leiden zu verursachen.“ (URL Baranzke)

Zunächst fällt bei dieser Argumentation natürlich ins Auge, dass es nicht einfach um die kluge Überredung unmündiger Kinder geht: Mit Blick auf das Holocaust-Beispiel von Charles Patterson haben wir dort eine perfide Tötungsmaschinerie, die zunächst auf Tiere angewandt wurde (man denke an die berüchtigten Chicagoer Schlachthöfe) und dann als „Vorbild“ für die industrielle Menschen-Tötung diente. Sicher wird niemand die Erfinder der NS-Todeslager als „unmündig“ verharmlosen. Aber auch sadistische Mehrfachmörder*innen und Tierquäler*innen lassen sich nicht einfach pädagogisch klug zur Besserung überreden. Das gezeichnete Bild verfälscht das Problem „Gewalttat“, indem es unangemessen verniedlicht.

Natürlich ist niemand berechtigt, „ohne vernünftige, allgemein einsehbare Begründung Schmerzen und Leiden zu verursachen".

Und selbstverständlich kann man stets an das ethisch Gute im Menschen appellieren - nur: was ist, wenn der Erfolg ausbleibt? Tierquälerei und Tiertötung sind in Deutschland leider an der gesellschaftlichen Tagesordnung und sogar gesetzlich akzeptiert – obgleich wir längst ein Staatsziel Tierschutz benannten:

Jährlich werden in Deutschland nach Auskunft der Bundesregierung rund 100.000 Schafe, 350.000 Rinder und etwa sechs Millionen Schweine „fehlbetäubt“ in die Schlachtung geschickt. Das heißt: Diese Tiere sind bei Bewusstsein, wenn sie aufgeschlitzt und ausgeweidet, also lebendig zerlegt werden. (URL Lohman) Ein weiteres Beispiel: Das betäubungslose Schächten von Tieren ist gesetzlich verboten – allerdings besteht eine Ausnahmeregelung gemäß TierSchG § 4a Abs. 2 Nr. 2, die aus zweifelhaften religiösen Gründen dieses blutige, grausame Ritual gestattet. Immerhin weist man für das Jahr 2015 die offizielle Zahl von 2.488 derart gequälten und getöteten Schafen aus (eigene Erhebung bei staatlichen Stellen, V. M.). Die Dunkelziffer für illegale „Hinterhofschächtungen“ dürfte sich nach fundierten Schätzungen im sechsstelligen Bereich bewegen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass auch Kinder und Jugendliche in die religiöse „Notwendigkeit“ des betäubungslosen Schächtens eingewiesen und somit in diese Massentierquälerei und die Massentiertötungen hineinsozialisiert werden.

Dies geschieht alljährlich in Deutschland zum muslimischen Opferfest Kurban Bayrami. Und selbst die christliche Kirche toleriert das rituelle Schächten im Namen der Religionsfreiheit. Auf Anfrage des Autors erfolgte für die evangelische Kirche in Deutschland z. B. die Stellungnahme durch den EKG-Ratsbeauftragten für agrarsoziale Fragen, Dr. Clemens Dirscherl. Auf den Hinweis, dass bereits Kinder und Jugendliche zum Opferfest in die rituelle Schächtung von Tieren einbezogen werden, heißt es in der Antwort:

„Die Anwesenheit von Kindern ist als kulturelle Form religiöser Sozialisation zu sehen. Und das ist an sich nicht verwerflich. Gleichwohl stellt sich auch hier die Frage nach der Praxis des Schächtens, eines möglichst professionellen leidensfreien und schnellen Ausblutens des Tieres.“

(Antwort des EKG-Ratsbeauftragten für agrarsoziale Fragen, Dr. Clemens Dirscherl per E-Mail an den Autor, V. M.)

Erinnert sei hier an die Warnung der US-amerikanischen Ethnologin Margaret Mead:

„Eines der gefährlichsten Dinge, die einem Kind passieren können, ist ein Tier zu töten oder zu quälen und einfach damit davonzukommen.“ (URL Mead)

Die Soziobiologin Dr. Alexandra Stupperich, tätig auf den Gebieten der forensischen Psychiatrie und Psychotherapie, fasst in ihrer Übersicht der Studien zur Tierquälerei und Gewaltdelinquenz ein entscheidendes Resultat der Arbeiten von Wochner wie folgt zusammen (Wochner, 1988), sowie Merz-Perez u. a. (Merz-Perez, Heide und Silverman, 2001, 556 ff.):

„Die Autoren untersuchten darüber hinausgehend die Zeitstabilität der gewaltgeprägten Verhaltensmuster, die im Kindesalter an Tieren beschrieben wurden. Es zeigte sich, dass gewaltgeprägte Verhaltensmuster, die gegenüber Tieren gezeigt werden, in die Gewaltdelinquenz gegen Menschen übernommen werden. Die Ergebnisse ließen sich an deutschen Kliniken replizieren, wie die folgenden Fallbeispiele zeigen sollen.“

(Stupperich, 2016, S.88. Ebenfalls in: PETA Deutschland e. V. [Hrsg.]: „Menschen, die Tiere quälen, belassen es selten dabei …“; PETA-Broschüre, Stuttgart; kursive Hervorhebungen durch V. M.)

Die dann folgenden deutschen Fallbeispiele in dieser lesenswerten Forschungsübersicht sprechen fast schon für sich und verdeutlichen den Zusammenhang zwischen der Tierquälerei im Kindesalter und späterer Gewaltdelinquenz. Nur am Rande sei hier auf politische und wirtschaftliche Zusammenhänge hingewiesen, die selbst in einer Demokratie - allein durch das Wirken rein finanzbestimmter Machtfaktoren - für eine prosperierende Fleischindustrie fast um jeden Preis sorgen. (Siehe dazu zum Beispiel: Kaplan, 2010, S.17)

Wenn also in unserer deutschen Gesellschaft eine Einsicht in fundamentale ethische Postulate offensichtlich so wenig möglich ist, wie die generelle Durchsetzung des veganen Lebensstils, dann bleibt die Frage nach sinnvollem weiteren Vorgehen im Bereich der Gewaltprävention.

Sollte man in dieser gesellschaftlichen Situation nicht soweit wie möglich die Rettung von Leben anstreben und damit auf den kleinsten gemeinsamen Nenner setzen?

Grundsätzlich besteht hier eine Nichtverrechenbarkeit von Philosophie und Kriminologie. Der gordische Knoten vorgenannter Ethik-Diskussion lässt sich zertrennen, wenn man den berechtigten ethischen Anspruch und wissenschaftlich abgesicherte kriminologische Erfahrungswerte auseinanderhält: Das strikte Verbot der Tierquälerei muss eine tierethisch akzeptable Begründung erhalten, indem man den eigenen moralischen Status der Tiere postuliert.

Zugleich aber darf auf praktischer Ebene eine Verkettung von Variablen nicht abgelehnt werden, die kriminologisch eindeutig für den Schutz beider Lebensformen, Mensch und Tier, unabdingbares forensisches Wissen liefert. Ansonsten wären andersmeinende Philosoph*innen in der Pflicht, zum Beispiel den Hinterbliebenen der Opfer von sadistischen Serienmördern des Typs Frank Gust zu erklären, warum Psychiatrie und Justiz erst auf den Plan traten, als der Übergang von der Tiertötung zur Menschentötung bereits vollzogen war. Am Ende dieser Überlegungen soll ein Zitat von Dr. Astrid Kaplan weiteren Stoff zu tieferem Nachdenken bieten:

„Da es einen Zusammenhang zwischen der Gewalt gegenüber Tieren und der Gewalt gegenüber Menschen gibt, müssen wir jede Form von Gewalt ernst nehmen und möglichst schnell eingreifen, um zu verhindern, daß sich daraus noch mehr Gewalt entwickelt. […] Ein effektiver Umgang mit Tiermissbrauchsfällen durch Exekutivbeamte, Staatsanwälte und Gerichte kann den Unterschied zwischen einer Drosselung oder einer Eskalation der Gewalt bedeuten.“ (Kaplan, 2010, S.257)

Anzufügen ist hierbei, dass die „Mentalität des Wegschauens“, wie die Kriminologin Petra Klages es in ihrer sehr lesenswerten neuen Schrift formuliert, in unserer Gesellschaft eine besondere Perfektion erlangt hat. (Begriff nach Klages, 2017, S.61) Diese „Kunst“ der Unterlassung und Problemausblendung (oder sollte man besser sagen: Gleichgültigkeit? Indolenz? Inkompetenz?) findet sich auch in den mit Gewaltdelikten befassten deutschen Behörden.

Ein Beispiel dazu: Während im US-amerikanischen Rechts- und Kriminalsystem Missbräuche von Tieren bereits im Rahmen des Profiling beachtet und analysiert werden, geschieht in Deutschland – nichts dergleichen. Bis heute ignoriert man den wissenschaftlich belegten Sachverhalt, dass Tierquälerei oftmals der erste Schritt zur Gewalt gegen Menschen ist. (Siehe dazu: Klages, 2017, S.17)

Mit Blick auf die Klärung des Begriffes „Verrohungsthese“ sollte man jedoch im zukünftigen wissenschaftlichen Diskurs besser von einer These unbegrenzter Gewalteskalation und Enthemmung sprechen: Wir haben es hier nicht mit Wirtshaus-Schlägereien und gelegentlichem Rowdytum zu tun, sondern oft genug mit Serien-Verge-waltigern, Mehrfachmörder*innen und – folgt man Charles Patterson – NS-Killern, die auch vor einem Genozid nicht halt machten.

Die Spirale der Gewaltkriminalität IV  /  4., neu bearbeitete Auflage

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