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ОглавлениеKapitel V – Eine Büchse voll Zunder
Corbeil, fünfzig Meilen südlich von Paris
1456 anno Domini, Sommer
David schaute zu der Ansammlung von Menschen rüber, die sich vor etwa einer halben Stunde auf der Straße versammelt hatte. Der Anführer der Räuberbande - zumindest schien er es zu sein - unterhielt sich gerade mit einem orientalisch aussehenden Mann. Er war dunkelhäutig, hatte über seinem Kopf ein Tuch zu einem Hut gewickelt, unter dem ein paar schwarze Haare herausschauten und er trug auf dem Rücken zwei über Kreuz verschnürte Krummschwerter, deren Griffe über die Schultern hinausragten. Seine bunten Kleider baumelten an ihm herab - sie wehten sogar ein wenig im Wind. Dieser Mann hätte jederzeit noch jemanden mit hineinnehmen können, so viel Platz gab ihm die Hose. »Vielleicht …« lachte David in sich hinein »… war es früher mal ein Zelt gewesen.« Aber dann blickte er dem schwarzen Mann direkt in sein dunkles vernarbtes Gesicht und plötzlich verging ihm das schmunzeln und ihm wurde erneut bewusst, dass er noch immer gefesselt auf dem Boden lag, und er bald vielleicht etwas Gesellschaft von einigen hungrigen Muselmanen bekommen würde. Dieser schwarze Mann da vorne - wer auch immer das war - erschien David plötzlich äußerst böswillig und jähzornig, und er wurde etwas unruhig bei dem Gedanken, dass dies vielleicht sein neuer Anführer werden könnte. David hatte schon viele unangenehme Anführer gehabt und sein halbes Leben lang stand er unter dem Kommando von irgendwelchen argwöhnischen oder launischen Aufschneidern, aber mit einem Osmanen hatte er es noch nie zu tun gehabt – er hatte lediglich von ihnen gehört. Angeblich hatten diese Kerle europäische Kinder zum Fressen gern, das wurde jedenfalls immer behauptet.
Robert kannte diese Art Mensch - hier stand einer der gefürchteten Sarazenenkämpfer aus der Gegend um Jerusalem. Das waren Männer, denen man sagenhafte Geschichten nachsagte und die legendär und wahrlich berüchtigt waren, im Umgang mit ihren glitzernden Krummsäbeln. Unheimliche Gerüchte von menschgewordenen Bestien und teuflischen Unholden sponnen sich um diese Kerle, deren Kraft und Intelligenz alles übertraf, was in der westlichen Welt bekannt war. In Kampfkunst und Geschicklichkeit konnte man es mit denen nicht aufnehmen. Das war im Übrigen auch, so wurde jedenfalls immer wieder beteuert, der Grund für das klägliche Versagen der Kreuzritter und Templer, die Jerusalem irgendwann gegen diese Bastarde verloren geben mussten. Nichts und niemand konnte sich denen auf Dauer in den Weg stellen, ohne dabei den Kopf zu verlieren. »Kein Wunder …« dachte Robert und er war nicht der einzige, der das dachte »… denn die standen, und stehen wahrscheinlich noch immer, mit dem Teufel oder anderen Dämonen im Bunde.« Angeblich hatten diese arglistigen Kämpfer sogar eine Art ausziehbaren Zylinder, eine verschiebbare Röhre mit Gläsern drin, durch die man hindurch blicken konnte, und in der die Welt erheblich größer erschien, als sie tatsächlich war, aber Robert hatte das immer für ziemlichen Unsinn gehalten. Da kam ihm die Dämonentheorie schon etwas naheliegender vor.
Der letzte Kreuzzug war zwar schon fast zweihundert Jahre her, aber man hegte noch immer einen starken Groll gegen diese grotesken Ungläubigen, diese Hinterwäldler aus Vorderasien. Ab und zu riefen Kreuzfahrer noch einmal zum Kampf gegen verschiedene Ungläubige auf - aber damit hatte es sich dann auch schon. Im Grunde war das Thema für die Kirche erledigt, hatten die Ungläubigen zuletzt doch noch obsiegt. Aber Osmanen im eigenen Land zu beherbergen, das war dann doch etwas anderes. Robert war daher auch völlig unklar, warum dieser Bastard hier - mit einem Duzend Kollegen - auf offener Straße und mitten in Frankreich, einfach so mit einer Meute von Sklaven, durchs fremde Land ziehen durfte? »Wenn das die Templer wüssten …« dachte er »… dann gäb’s aber Ärger.« Aber die Templer und auch die Prieure de Sion waren allesamt schon seit hundertfünfzig Jahren tot - Giovanni hatte ihm von denen erzählt. »Die hätten ihnen schon gezeigt, was es heißt durch Frankreich zu laufen und Leute zu verkaufen« glaubte Robert. Ironischerweise waren die Templer nicht bei den Kreuzzügen umgekommen, wie man vielleicht vermuten könnte. Es war eher so - und das wusste Robert nur allzu gut - dass sich die Prieure irgendwann von den Templern abgespalten hatten. Es ging wohl um das Grab Jesu und dessen Beigaben. Angeblich war dort auch der heilige Gral versteckt worden und der sollte ja - und das glaubte auch Robert aus gutem Grund - das ewige Leben bringen. Die Templer waren damals in Jerusalem dazu ausgesucht worden, den Becher von Jesus Christus versteckt zu halten, oder sogar wegzuschaffen, falls nötig. Jedenfalls war man sich plötzlich nicht mehr einig, ob man den Gral benutzen oder nur hüten sollte, und so hatten sich die Templer irgendwann entzweit, anschließend bekriegt und dann gegenseitig umgebracht. Manche wurden vorher auch von der Kirche verfolgt und als Ketzer verbrannt. Und jetzt gab es anscheinend niemanden mehr, der diese Ungläubigen draußen halten konnte oder wollte.
Robert betrachtete die Gesellschaft ganz genau. Dass die hier einfach so Sklaven von hier nach dort verschieben durften, konnte eigentlich nur eins bedeuten: Ludwig XI. hatte mit den Muselmanen ein Abkommen geschlossen, in denen er die orientalische Meute dazu berechtigte, in Frankreich Sklaven einzukaufen. Sklaven, die dann wahrscheinlich von der Küste aus, zu den Türken oder bis nach Mesopotamien verschleppt werden sollten, wo sie dann bis an ihr Lebensende unfreie Dienste verrichten mussten. Es blieb allerdings noch immer die Frage, warum man seine eigene Bevölkerung in die Sklaverei schickte, oder waren das gar keine Franzosen, die sich da in einer Reihe aufgestellt hatten und einer nach dem anderen den Trinkbecher gereicht bekamen? Es konnte sich natürlich auch um Landsmänner aus Calais handeln, die vielleicht ein paar Tage zuvor noch brav gekämpft hatten und jetzt gefangen genommen worden waren. »Ist leider nicht zu sehen, von hier aus« dachte Robert, der noch immer nicht wahrhaben wollte, dass er und David bald dazu gehören würden.
David dagegen hatte bereits eindeutig erkannt, wer der nächste Unfreie sein würde. Er war schon des Öfteren eine Art Sklave gewesen, und deshalb konnte er sich nur allzu gut vorstellen, was sie in den nächsten Monaten und Jahren erwarten würde. Trotzdem, obwohl er es gewohnt war, ein Unfreier zu sein, war das hier doch noch etwas anderes. Ein richtiger Sklave zu sein, bedeutete sicher erheblich mehr Einschränkungen, als auf einem Kriegsschiff Kartoffeln schälen zu müssen. Und dann sollte er diese Dienste auch noch in einem völlig fremden Land ableisten, in einem Land, in dem man ihn wahrscheinlich auch mit Zunge nicht verstehen würde. Davids Magen reagierte plötzlich sehr merkwürdig, er schien sich drehen zu wollen - genauso wie sein Kopf. Sein Innerstes verstand offenbar besser, als er selbst, wie seine Zukunft bald aussehen würde, und dabei hatte doch alles so gut angefangen - mit Robert.
David blickte zu ihm rüber. Roberts Miene schien noch immer nicht akzeptieren zu wollen, dass auch er bald da vorne stehen würde. Er sah noch immer so aus, als wenn ihn das Ganze gar nichts angehen würde. Fast unbeteiligt schaute er in Richtung Sklavenkarawane. Immer noch versuchte er nur zu ergründen, was für Landsmannen diese Leute wohl waren. David wusste, dass es bald völlig egal war, aus welchem Land man kam oder besser gekommen war. Bald würde er zumindest nur noch ein Sklave aus dem Hause »Achmet Abdulla« sein. Bald würde seine eigene Nationalität nicht mehr existieren.
Minuten des Wartens vergingen, da ertönte ein Pfiff, und jetzt wurde auch Robert eiskalt erwischt. Drei Männer aus der Runde des Räuberhauptmanns, die dem Schauspiel des Verhandelns aufmerksam gelauscht hatten, kamen und fuchtelten mit ihren Degen vor der Nase von Robert und David herum. »Los jetzt, hoch mit euch« schnauzte sie einer der Räuber an. Auch die anderen Gefangenen mussten aufstehen, und im Gänsemarsch wurden, mit Robert und David, etwa ein Duzend Leute zum Waldrand geführt, wo sie ein anderer Orientale beschaute. Ihr Mund wurde geöffnet und die Zähne wurden sorgfältig untersucht, und zum ersten Mal sah man ein ganz und gar ungläubiges Staunen in Robert’s Augen, denn plötzlich wurde er sich der wahren Situation, in der er sich gerade befand, bewusst.
Der Orientale fasste jetzt auch noch ihre Arme und Beine an, wodurch er wohl die Muskeln der Ware erkunden wollten. Der orientalische Beschauer nahm keinerlei Rücksicht auf Stand oder Herkunft. Im Gegenteil, er fasste eher noch kräftiger zu, wenn er den Eindruck hatte, es mit einer gehobeneren Persönlichkeit zu tun zu haben. Aber dann drehte er sich um und nickte dem räuberischen Wirt zustimmend entgegen und anschließend floss Gold - und das nicht zu knapp, wie Robert erstaunt feststellte. Offenbar hatte der Anführer der Räuberbande nichts von dem vergessen, was er als Geschäftsmann zuvor in seiner Kneipe in Paris gelernt hatte.
Robert blickte zu David. Tröstend suchte er seine Augen, doch die wirkten nur glasig und starrten eher wie hohle Fischaugen, als dass sie mutig und hoffnungsvoll ausgesehen hätten. »Wir kommen hier wieder raus …« sagte Robert zu ihm und erntete dafür gleich einen Peitschenhieb gegen seinen Arm. »… das verspreche ich dir« sagte er trotzig und schaute dabei wütend den Menschentreiber an.
»Schnauze halten, ihr Beiden« schrie einer und für seine Aufsässigkeit bekam Robert noch einen Hieb, diesmal ans Bein.
»Merkwürdig« dachte Robert, »die sprechen anscheinend alle Französisch.«
Dann wurden sie abgeführt und zusammen mit den anderen führte man sie zu den Sklaventreibern. Und genauso wie ihre Leidensgenossen, mussten auch sie sich jetzt mit den Ketten vertraut machen. Wie sich kurz vor dem Aufbruch herausstellte, war auch ihr Pferd samt Karren verkauft worden. Allerdings hatte Robert gesehen, dass sich kein Proviant mehr auf der Ladefläche befand. Stattdessen saßen dort jetzt dunkelhäutige Osmanen mit riesigen Schwertern, die sie auf dem Rücken trugen und denen es sehr gelegen kam, dass sie ihren vom Sattel geplagten Hintern etwas Ruhe gönnen durften. Hinter Robert’s Einachsers waren die Pferde der neuen Fahrgäste festgebunden worden und die konnten jetzt gemächlich und entlastet hinter der Menschentraube her traben. Es hatte den Anschein, dass es den Rössern sichtlich bekam, denn merkwürdigerweise waren diese Muselmanen alle samt etwas rundlich um die Mitte herum, was man von Soldaten eigentlich nicht erwarten würde.
Robert und David wurden jetzt verankert und neben den Ketten mussten sie auch noch eine kleine Eisenstange tragen. Je drei Mann in einer Reihe hatten eine solche Stange. Sie war verbunden mit den Ketten für die Arme. Zwischen den drei Männern einer Reihe liefen in der Mitte zwei weitere lange Riemen von vorne nach hinten, die ebenfalls mit jeder einzelnen Stange verbunden waren, so dass die gesamte Karawane aneinander gekettet war. Auf diese Weise konnten die Osmanen größere Mengen an Menschen sehr beweglich übers Land führen, ohne dabei Gefahr laufen zu müssen, dass jemand das Weite suchen würde. Nur die Beine konnten sich frei bewegen, und das war auch gut so, wie sich bald herausstellte.
Kaum waren alle neuen Sklaven mit den anderen verbunden, setzte sich die Karawane in Bewegung. »Nun, du Großmaul« rief der raubende Wirt Robert noch schnell hinterher. »Wie gefällt dir das? Bist du noch mutig genug, auch diese Herren zu verhöhnen? Versuche es nur« rief er, lachte und drehte sich um, während er den Beutel voll Gold mehrmals in seiner Hand freudig hochwarf.
Robert hatte versuchte das Geschrei des Wirtes zu überhören doch gelungen war es ihm nicht. Er war sauer und etwas verunsichert zugleich, entschlossen zu allem, aber dennoch vorsichtig. Er hatte schon einiges erlebt, aber Sklave war er noch nie. Das war eine ungewohnte Situation und brauchte Zeit zur Gewöhnung oder zur rechten Gelegenheit. Erst benötigte man mehr Informationen, musste mehr wissen über Schwäche und Gewohnheit der Muselmanen, erst dann konnte Robert zuschlagen. Zuschlagen würde er, das war klar. Er musste nur etwas Geduldig sein, dann würde ihm schon etwas einfallen. Robert beschloss mitzuspielen und erst mal abzuwarten, nicht aus der Rolle zu fallen und einfach nur weiter zu laufen. Es war ein recht strammes Tempo, das die Sklaventreiber ihnen abforderten, und wenn der Weg gut zu begehen war, schafften sie am Tag etwa zwanzig Meilen.
David hatte es bei diesem Tempo von allen am schwersten. Er war, vier Reihen vor Robert, in die Mitte einer Dreierreihe gepackt worden und da er noch nicht voll ausgewachsen war, hing er mehr wie ein Stück grobe Wurst am Haken. Seine Kettenringe schnitten ihm nach einiger Zeit bereits ins Fleisch und seine Handgelenke bluteten schon nach zwei Tagen. Robert dagegen, gut genährt und durchaus strapazierfähig, hatte - bis auf die kaum treffenden Peitschenhiebe - keine größeren Probleme.
Dass die Hiebe nicht trafen machte Sinn, denn die Muselmanen waren überhaupt nicht daran interessiert, die Sklaven zu verletzen. Schließlich brachten sie nur dann einen satten Gewinn ein, wenn sie die Reise ins Land der Morgenröte in einwandfreiem Zustand überstanden. Daher durften die designierten Sklaven, im Gegensatz zu den Osmanen, morgens, mittags und abends, ein recht üppiges Mahl zu sich nehmen, wenn Robert auch eigentlich nicht beurteilen konnte, was man normalerweise als Unfreier zu essen bekam. Aber eins war klar. Jeder Sträfling in den Kerkern von London hätte sich für dieses Essen die Hand abhacken lassen. Auch das wusste Robert nur allzu genau, denn er war selbst einmal ein Gefangener der britischen Krone gewesen. Wenn auch nur für kurz, denn nach nur zwei Tagen war er bereits entkommen. Aber das war lange schon in Vergessenheit geraten. Doch diese zwei Tage hatten ausgereicht, um ihm die Folgen seines Tuns ins Gehirn einzubrennen. »Nie wieder in einen Kerker. Lieber tot sein« waren seinen Gedanken noch Jahre danach, und an diesen Vorsatz hatte er sich bisher auch immer gehalten. Jetzt war er wieder angekettet, zwar nicht eingekerkert, aber besser war das hier auch nicht. »Ich werde uns hier herausholen, und wenn’s mein Leben kostet« beschwor er sich. »Außerdem habe ich noch eine Aufgabe, deren Erfüllung oberste Priorität hat. Ja genau, unsere Aufgabe … und deshalb wird sie mir sicher auch helfen. Giovanni hat es genau so beschrieben in seinem Brief. Sie wird uns nicht im Stich lassen - hat er geschrieben - denn sie braucht uns noch. Da war sich Giovanni ganz sicher.«
Es dauerte nicht lange, da bemerkte auch der Anführer der Osmanen, dass David an den Handgelenken blutete. Wie sehr ihm das Wohl seiner Ware am Herzen lag, erkannte jedermann daran, dass er gleich darauf seinen Aufseher antreten ließ, ihn mit einer Tracht Prügel bestrafte, die fahrenden Osmanen vom Karren warf und stattdessen David Platz nehmen ließ. Dann versorgte er die Wunden eigenhändig mit einem seltsamen Aufstrich, der sehr schnell zu wirken begann und die Verletzungen binnen drei Tagen abklingen ließ. Das Zeug stank erbärmlich, aber immerhin half es. Aber David musste sich nach seiner schnellen Genesung merkwürdigerweise nicht wieder einreihen und durfte auf dem Kutschbock sitzen bleiben. Gelegentlich half er sogar beim Vorbereiten der Mahlzeiten. Um sicher zu gehen, dass er nicht weglaufen würde, waren seine Beine allerdings, über eine Kette, mit der Wagenachse verbunden, dem einzig robusten Gegenstand an diesem Fahrzeug. Seit jenem Tag hatte er keine Gelegenheit mehr, mit Robert zu kommunizieren. Auch die zuvor so gut funktionierenden und verstandenen Blickkontakte waren nicht mehr möglich, so dass es für beide bald eine sehr einsame Wanderung wurde.
David hatte keine Ahnung, wohin es ging. Nur der Stand der Sonne verriet ihm, dass sie immer weiter nach Süden liefen. Grundsätzlich stimmte das ja mit ihrer früheren, eigenen Richtung überein. »Und vielleicht …« dachte er. »… vielleicht kommen wir ja auch in Ales vorbei.«
Wenn abends das Lager aufgeschlagen wurde und die Feuer schon brannten, versuchte er immer mal wieder mit Robert zu kommunizieren, doch das war nicht so einfach, weil er als Kochgehilfe meist mit Gemüse putzen, oder Kartoffel schälen, beschäftigt war, während Robert hundert Meter weiter auf dem Boden lag und seine Füße kurierte. David ahnte nichts davon, aber Robert dachte den ganzen Tag lang nur darüber nach, wie sie flüchten könnten. Außerdem ließ er soweit das möglich war, David keinen Augenblick lang aus den Augen. Zum einen fühlte er sich für ihn verantwortlich, schließlich hatte Robert ihn in diese Miesere gebracht und zweitens durfte keine Möglichkeit unversucht gelassen werden. Das bedeutete, wenn es soweit sein würde, und man sich davon machen könnte, musste auch David dafür bereit sein. Ihre Flucht durfte auf keinen Fall an etwaiger Unaufmerksamkeit scheitern.
Hin und wieder konnte Robert sogar mit seinen Leidensgenossen reden. Es war zwar nicht erlaubt, aber die Wächter konnten ihre Ohren nicht überall haben. Und selbst wenn jemand beim Reden erwischt wurde, hatte das eigentlich keinerlei ernste Folgen. Zu sehr waren die Muselmanen auf ihren Warenzustand bedacht.
»Wo kommt ihr her?« fragte Robert seinen Nachbarn, der sich danach hin und her drehte, um zu schauen, wo der nächste Wächter stand. Er hatte furchtbare Angst und man sah seinen Schweiß bereits fließen, obwohl er noch gar nichts gesagt hatte.
»Aus Paris« antwortete er dann eilig und machte dabei unauffällige Handbewegungen vor seinem Mund. Die sollten wohl verhüllen, dass die gesprochen Worte aus seinem Mund gekommen waren.
»Hat euch der Prinz zu Sklaven gemacht?« fragte Robert neugierig, ohne dabei weiter auf die Nervosität seines Nachbarn zu achten.
»Ja doch« antwortete der nur kurz und drehte sich abermals um seine eigene Achse.
»Was war der Grund?«
»Meuterei« sagte der Mann aufgeregt.
»Gegen den Prinzen?«
»Gegen wen sonst.«
»Und warum habt ihr gemeutert?« fragte Robert nach.
»Schnauze halten, da drüben« rief einer der Wächter und knallte mit seiner Peitsche. Doch obwohl er es gar nicht wollte, traf er Robert im Gesicht und verpasste ihm so einen Schmiss.
Als der Sarazenenhauptmann das mitbekam, ließ er den Wächter zu sich kommen und verpasste diesem ebenfalls einen. »Das zieh’ ich dir von deinem Gewinn ab« schrie er den Wächter an. »Und jetzt sieh zu, dass das wieder in Ordnung kommt.«
»Jawohl, Sir« rief der Angeschnauzte und rannte sofort zu Robert zurück, wo er die Wunde mit einer Salbe versorgte.
Obwohl einige der Gefangenen mit Blessuren kämpfen mussten, kam die Karawane sehr schnell voran und nach etwa einer Woche erreichte man bereits die Ausläufer des Plateau Langrés, eines kleinen Gebirgsmassives im Herzen von Burgund. Nachdem die Straße bis dahin immer nur flach und geradewegs nach Süden verlaufen war, zog sich der Weg jetzt Stück für Stück nach Südosten. Dabei ging es stetig aufwärts und das Tempo wurde zusehends langsamer. Die meisten Männer der Karawane waren recht gut gebaut, so dass es anfänglich keine körperlichen Schwierigkeiten gab. Aber es wurde langsam immer kühler und besonders des Nachts fiel die Temperatur schon mal unter zehn Grad. Als sie dann immer höher kamen, wurde auch der Weg immer steiniger und manche Sklaven, deren Schuhe nur schlecht verarbeitet waren, bekamen jetzt Probleme mit ihren Fußsohlen. Teilweise sickerte das Blut schon durch den Schuh hindurch. Dann wurden wieder Kräuterverbände angelegt und David musste auf seinem Karren enger zusammen rutschen.
Manchmal waren die Steige allerdings derart schmal, dass gerade noch zwei ausgewachsene Männer neben einander stehen konnten. Dann wurde in eine Zweierreihe umformiert und sehr behutsam weitergegangen. Die Karren, die hier auf keinen Fall vorbeigekommen wären, wurden kurzer Hand auseinandergeschraubt und Stück für Stück über den schmalen Steig getragen. Waren sie auf der anderen Seite wieder zusammengesetzt, ging der Marsch sofort weiter. Aber solche Aktionen hielten den Transport sehr lange auf, und wurden daher nur in Situationen getätigt, in denen der Hauptmann absolut keine andere Möglichkeit mehr sah. So schraubte sich die Karawane um die Berge herum nach oben, und wenn der Weg an der Ostseite vorbeilief, konnte man schon die Gipfel der Vogesen oder die Höhen von Lothringen sehen. Aber noch immer waren sie nicht über den endgültigen Pass und noch immer zog es sich aufwärts. Und weil es auch ständig kälter wurde, gab der Hauptmann jetzt sogar Decken aus, die sich allerdings immer je drei Mann teilen mussten. Da momentan kein zusätzlicher Patient auf seinem Wagen lag, bekam David eine eigene Decke und er bedauerte Robert, der sich nachts sicher nur die Beine oder einen anderen Bruchteil seines großen Körpers zudecken konnte. Gerne hätte er ihm etwas von seiner Decke abgegeben, aber leider war das nicht möglich.
David musste immer öfter auch beim Kochen helfen, und nicht nur, wie es anfangs der Fall war, vorbereiten. Sie hatten bereits durch den Aufstieg und die mehrmalige Zerlegung der Karren zu viel Zeit verloren, weshalb der Hauptmann jetzt Befehl gab, das Essen bereits unterwegs zuzubereiten. Hierzu war eine fahrende Kombüse auf Robert’s Wagen, eingerichtet worden. Und zu Beginn der Reise übernahm einer der Wächter das Kochen, während David das Gemüse schälte. Doch weil der Hauptmann zu seiner eigenen Freude festgestellt hatte, dass David mehr Ahnung vom Zubereiten von Speisen hatte, als seine ganze Mannschaft zusammen, wurde er jetzt zum Kochen eingeteilt, und die Wächter mussten das Schälen und Putzen übernehmen. Das gefiel David sehr, hauptsächlich freute er sich aber über die vielen neuen Gewürze, die er dabei kennenlernen und ausprobieren dürft. Ein Gewürz nach dem anderen, keine Ahnung wie die alle hießen, warf er in den Eintopf oder gab er als Würze zum Fleisch hinzu. Auch Soßen wurden davon nicht verschont. Mit jedem Tag wurde er besser und das Essen wurde zusehends schmackhafter. Er erkannte selbstständig Geschmacksrichtungen, von denen die Köche auf den Kriegsschiffen nur träumen würden. Das gefiel dem Hauptmann sehr und er ermunterte David sogar dazu, sich noch mehr zu trauen und die Geschmacksvielfalt weiter zu vergrößern. Offenbar war der Hauptmann ein echter Feinschmecker.
»… was sich später vielleicht noch auszahlen könnte« dachte David.
Vor jeder Mahlzeit, wenn die Truppe noch etwa fünf Meilen vom nächsten Lagerplatz entfernt war, kam einer der Osmanen zu David, und gab ihm eine Zunderbüchse. Dann entfachte er ein Feuer auf seinem Karren und bereitete das Essen vor. Wenn dann alle Speisen ausgegeben waren, kam normalerweise immer einer der Gemüseschäler zu ihm zurück und nahm die Zunderbüchse wieder an sich. Doch mit der Zeit wurde es ihnen lästig und sie überließen sie David zur eigenen Aufbewahrung. »Mach keinen Unsinn damit … verstanden?« sagte der Wächter und ging unbekümmert wieder zu seinem Essen zurück.
David war nicht besonders groß, weshalb er meist auf das falsche Alter geschätzt wurde, so auch von Robert, der ihn für zehn oder elf gehalten hatte - »… auf keinen Fall älter« wie er bei Sir Lorradale noch dachte. Und so war es wahrscheinlich auch hier. Die Muselmanen konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ein so kleiner Junge mit einer Zunderbüchse Unheil anstellen konnte. Doch David war vor kurzem noch der Schiffsjunge auf einem Marineklipper gewesen und er - und auch der dicke Zeh des Kochs - wussten ziemlich genau, was man alles mit einer Zunderbüchse anstellen konnte.