Читать книгу Die Erbin - W. E. Norris - Страница 3
Erstes Kapitel.
ОглавлениеIn dem unfreundlichen, grossen Schlafzimmer eines unfreundlichen, alten Hauses in Oxford lag ein alter Mann auf seinem Sterbebette. Ja, dass das Lager, auf dem er sich befand, sein Sterbebett war, darüber konnte kein Zweifel mehr herrschen: hatte doch selbst der junge, die Hoffnung nicht leicht sinken lassende Arzt bei seinem Morgenbesuche der Haushälterin mit sehr ernstem Gesichte zugeflüstert, dass es sich jetzt nicht mehr um Tage, sondern nur noch um Stunden handle. Auch gab der Kranke sich über seinen Zustand keinen Illusionen hin, sondern hatte gleich zu Beginn seiner Krankheit die Behauptung ausgesprochen, dass er sie nicht überstehen werde. Und doch musste es jedem, der in sein ruhiges, schönes, finsteres Antlitz schaute, schwer werden, daran zu glauben, dass es einem Sterbenden angehörte. Kein Ausdruck des Leidens oder der Schwäche entstellte es; dagegen trugen seine Züge ein entschiedenes Gepräge des Trotzes, des Starrsinns, gleichsam als wollten sie sagen, dass ihr Besitzer sich, so lange er lebte, nie ergeben in etwas gefügt habe und es auch jetzt nicht zu thun beabsichtige. Die hohe Stirn des Kranken, seine dichten, weissen Augenbrauen, seine schmalen, fest zusammengepressten Lippen, das längliche, schön geformte Kinn bildeten ein Ganzes, das, wenn es auch nie durch Liebenswürdigkeit angezogen hatte, doch selbst jetzt noch ein Bild festester Männlichkeit und Willenskraft bot. Seine Augen — jene schrecklichen grauen Augen, mit denen er sein Leben lang einen jeden, der in seine Nähe kam, starr anzublicken gepflegt hatte — waren jetzt geschlossen; aber man konnte es sich wohl ausmalen, welchen Ausdruck sie — geöffnet — trugen. Und es war daher nicht zu verwundern, dass der Besitzer eines solchen Gesichtes, solcher Augen in seinen letzten Stunden allein und verlassen dalag und keinen andern Menschen bei sich hatte, als seine alte Haushälterin, die still am Bette sass, von Zeit zu Zeit einen furchtsamen Blick nach ihrem Herrn warf und sich doch nicht getraute, eine Frage nach seinen Wünschen oder seinem Befinden laut werden zu lassen.
In der That war der Dekan von St. Cyprian, obgleich er in akademischen Kreisen eine sehr bedeutende Rolle spielte und durch hervorragende wissenschaftliche Werke, die er geschrieben hatte, sich in der gelehrten Welt weit und breit einen hochgeachteten Namen gemacht hatte, ein so einsamer, freundloser Mann, wie es kaum einen zweiten in ganz England gab. Seine nahen Verwandten waren zwar alle durch den Tod von ihm getrennt; allein, wären sie am Leben geblieben, so hätten sie deshalb doch nicht freundschaftlicher mit ihm verkehrt, als sie es jetzt thaten, denn er hatte sich mit allen erzürnt und war mit einem jeden von ihnen verfeindet gewesen. Er hatte sich mit seinem einzigen Bruder erzürnt; er hatte sich mit seinem einzigen Kinde erzürnt, mit seiner Tochter, die vor langen Jahren sein Haus verlassen und — gegen den Willen ihres Vaters — ihren Musiklehrer geheiratet hatte; er hatte sich mit allen Professoren seiner Universität erzürnt — nicht bis zum offenen Bruche, das wäre eine zu grosse Schande gewesen, aber doch so weit, dass ihm jeder stillschweigend aus dem Wege ging und ihn mied, so viel er konnte. Der einzige, mit dem er stets auf friedlichem Fusse gestanden hatte, war der Rektor der Universität gewesen, aber das freundschaftliche Zusammenleben mit diesem war nicht des Dekans Verdienst, sondern das des guten alten Doktor Drysdale, mit dem zu streiten selbst dem Unverträglichsten ein Ding der Unmöglichkeit war. Und infolge seiner Feindschaft mit aller Welt lag der alte Mann jetzt einsam und verlassen auf seinem Sterbebette da — keine Seele um sich, als die alte Haushälterin — und erwartete das Nahen des Todes.
Der Abend brach herein — ein rauher, stürmischer Märzabend. Seit Mittag hatte der Dekan kein Wort gesprochen. Ab und zu winkte er der Haushälterin, ihm einen Schluck des Champagners, der auf dem Tische neben dem Bette stand, oder einen Löffel von dem Beef-tea, den der Arzt ihm verordnet hatte, zuzureichen. Die arme Frau war seit achtundvierzig Stunden nicht von seinem Bette gewichen und daher mit ihren Kräften zu Ende; aber sie getraute sich nicht, das Zimmer zu verlassen oder dem Dekan den Vorschlag zu machen, sich bei ihm für kurze Zeit durch das Hausmädchen vertreten zu lassen. Die Augen fielen ihr zu. Eben fragte sie sich zum zwanzigstenmal im stillen, ob es wohl schlimme Folgen für ihren Herrn haben würde, wenn sie sich ein kurzes, ein ganz kurzes Schläfchen gönnte, als sie ein leises Klopfen an der Thür vernahm. Sie erhob sich eiligst, öffnete die Thür und sprach mit jemand, der aussen stand, eine Weile im Flüsterton. Dann schlich sie an das Bett zurück.
„Herr Dekan,“ sagte sie leise, „Mr. Breffit ist da.“
Der Dekan öffnete die Augen. „Er soll eintreten,“ befahl er mit heiserer Stimme. Mr. Breffit, ein Notar, leistete dem Befehle Folge. Er war ein kleiner, freundlicher, etwa fünfzigjähriger Mann, dessen rotes Gesicht der scharfe Ostwind mit noch lebhafterer Farbe, als es gewöhnlich trug, bedeckt hatte. „Es thut mir aufrichtig leid, Sie so krank zu finden, Herr Dekan,“ begann er im heitersten Tone der Welt. Aber da begegnete sein Blick dem des alten Mannes. Infolge dieses Begegnens wurde die Bemerkung, die der Notar eben über das schlechte Wetter hatte machen wollen, wunderbarerweise unterdrückt und ein leichter Verlegenheitshusten liess sich an ihrer Statt hören.
Jeder Mensch, mit dem der Dekan der St. Cyprianer Universität auf seinen Lebenswegen zusammengetroffen war, hatte sich ihm gegenüber eines leichten Anfluges von Furcht nicht erwehren können. Auch Mr. Breffit fühlte sich in seiner Nähe stets recht unbehaglich. Aber ein gebildeter Mann, ein Rechtsanwalt, darf es nicht zeigen, dass er sich fürchtet; deshalb fuhr Mr. Breffit nach kurzem Stillschweigen in möglichst gleichgültigem Tone fort: „Sie sehen, Herr Dekan, ich leiste Ihrem Rufe sehr rasch Folge.“
„Sie hätten Ihre Pflicht gröblich verletzt, wenn Sie ihm nicht rasch Folge geleistet hätten,“ sagte der Dekan. „Wie Sie sehen, haben wir nicht viel Zeit mehr übrig. Ich habe Sie rufen lassen, Mr. Breffit, weil ich ein neues Testament zu machen beabsichtige. Dort in der Mappe liegt Papier. Bitte, setzen Sie sich hier an den Tisch nieder.“
Es war keine lange Arbeit, die Mr. Breffit zu vollbringen hatte. Rechtsanwälte wissen es gewöhnlich einzurichten, dass die unter ihrem Beistande entstehenden Testamente so unverständlich als möglich abgefasst werden, damit ihnen selber Gelegenheit zu Prozessen und Ausgleichungen geboten wird; wenn man es aber mit einem hartköpfigen, eigensinnigen Klienten zu thun hat, der genau weiss, was er beabsichtigt, so bleibt selbst dem geriebensten Notar keine Wahl. Er muss den Wunsch des Testators streng erfüllen. In weniger als einer Viertelstunde hatte der Sterbende alle seine früheren Bestimmungen — es war nicht das erste Mal, dass er sein Testament machte — widerrufen und neue getroffen, die, da sie in unmittelbarer Nähe seines Todes festgesetzt wurden, voraussichtlich als endgültig bestehen bleiben würden.
Der Diener und der Koch wurden gerufen, um während der Namensunterzeichnung ihres Herrn als Zeugen zu fungieren. Dann war Mr. Breffit wieder allein mit seinem Klienten. Er räusperte sich mehreremal, als wollte er sprechen, schwieg aber trotzdem immer wieder.
„Nun, was wollen Sie sagen?“ fragte der Dekan kurz. „Vermutlich wollen Sie mich darauf aufmerksam machen, dass ich soeben eine schlechte Handlung begangen habe?“
„O nein,“ antwortete der Notar. „Nein, ich glaube nicht, dass jemand sich erlauben wird, Ihre Handlungsweise derartig zu bezeichnen — aber — aber — ich bin sehr überrascht über die Wandlung Ihrer Gesinnung, Herr Dekan.“
„Ob Sie dadurch überrascht sind, oder nicht, ist mir sehr gleichgültig,“ sagte der alte Mann. „Vielleicht wird sich noch mancher andere darüber wundern — das geht mich nichts an. Jeder ist, so lange er lebt, Herr seines Vermögens und kann darüber verfügen, wie er will. Ich begehe mit der Aenderung meines Testaments eine gerechte Handlung — davon bin ich überzeugt. Und wenn Sie vernünftig dächten, so müssten Sie einsehen, dass ich eben nichts weiter als einen Akt verspäteter Gerechtigkeit damit vollziehe.“
Der Notar sah lächelnd vor sich hin, aber er erwiderte kein Wort. Eine kleine Pause trat ein, dann sagte der Dekan: „Adieu, Mr. Breffit. Wollen Sie die Güte haben, im Hinausgehen die Glocke zu ziehen? Ich danke Ihnen bestens.“
Mr. Breffit sah, dass er entlassen war, erhob sich, verbeugte sich vor dem Kranken und verliess mit den Worten: „Adieu, Herr Dekan!“ das Zimmer. Ein lebender Hund sein, ist besser als ein toter Löwe, aber der alte Löwe da war noch nicht tot, und so lange er einen Atemzug in sich hatte, hörte seine Umgebung nicht auf, voll Scheu und Furcht seinen Befehlen zu gehorchen.
Auf der Treppe warf Mr. Breffit bereits seine an ihm höchst ungewöhnliche Schüchternheit ab und lachte. „Verspätete Gerechtigkeit! Weiss Gott, da hat er recht! Wenn man das Gerechtigkeit nennen kann, so kommt sie allerdings ein wenig spät; aber ich bin im Zweifel, ob seine Handlung überhaupt diese Bezeichnung verdient. Nun, wer weiss auch, ob die Frau noch am Leben ist! Meiner Ansicht nach ist sie längst tot, sonst hätte sie sicher in all den Jahren einmal von sich hören lassen.“ Damit begab er sich in das eichengetäfelte Speisezimmer und stärkte sich zu der Fahrt nach London durch des Dekans alten Portwein und ein ausgezeichnetes Diner, dem er volle Gerechtigkeit widerfahren liess.
Während der Notar sich an Speise und Trank gütlich that, hatte sich abermals ein Gast eingefunden, der nach dem Dekan fragte und wunderbarerweise — ohne jede Anmeldung — in das Krankenzimmer hineingeführt wurde. Es war ein grosser, schlanker, alter Mann mit kahlem Haupte, freundlichem, gutem Gesichte und etwas nach vorn gebeugter Haltung.
„Sind Sie es, Drysdale?“ begrüsste ihn der Dekan. „Sie kommen wohl, um Abschied von mir zu nehmen?“
Der Rektor der Universität nahm seines alten Freundes Hände und schaute traurig in das Gesicht des Sterbenden. „Hoffentlich nicht, Musgrave,“ sagte er. „Hoffentlich werde ich Sie noch recht oft besuchen können. Ich glaube nicht daran, dass Sie vor mir aus dem Leben gehen wollen — Sie mit Ihrer unverwüstlichen Gesundheit, mit Ihrem Riesenkörper! Sie sehen mir nicht danach aus, als ob — als ob Ihr Zustand sehr bedenklich sei.“
„Sie wollen mir etwas einreden, Drysdale,“ erwiderte der andre. „Ich habe nicht mehr die Kraft, Ihnen zu widersprechen, aber in vierundzwanzig Stunden wird mein Tod Sie überführt haben, dass ich heute Ihnen gegenüber im Rechte war. Setzen Sie sich, Drysdale. Sie sind der letzte Mensch, mit dem ich in dieser Welt spreche, und ich vermute, auch mit Ihnen werde ich nicht lange zu sprechen im stande sein.“ Er hielt inne. Nach einer kurzen Pause begann er wieder: „Erinnern Sie sich meiner Tochter Laura?“
„O gewiss, gewiss. Ich erinnere mich des armen Kindes sehr gut. Es freut mich, Musgrave, dass auch Sie sich ihrer erinnern. Wie sehr, sehr bedauerlich ist es, dass sie nicht jetzt bei Ihnen sein kann!“
„Ich habe ein leidliches Gedächtnis. Auch glaube ich nicht, dass ein Mensch im stande ist, die Existenz seiner Kinder zu vergessen, so triftigen Grund er auch oft haben mag, sich diese Möglichkeit zu ersehnen. Ihren Wunsch, Laura jetzt bei mir zu haben, teile ich indes nicht. Da sie das Herz hatte, zwölf Jahre vergehen zu lassen, ohne ihrem Vater je eine Zeile zu schreiben und ihn wegen der Schande, die sie über ihn und über sich selber gebracht hat, um Verzeihung zu bitten, so glaube ich kaum, dass mir ein Wiedersehen mit ihr besonders erfreulich sein könnte. Trotzdem habe ich soeben ein Testament zu ihren Gunsten verfasst. Ich setze sie zur Erbin meines ganzen Hab und Gutes ein und entziehe ihr nur die Summe von zehntausend Pfund Sterling, die ich für meinen Neffen Frederick bestimmt habe.“
„Sie scherzen!“ rief Doktor Drysdale. „Nein, nein, Musgrave, das haben Sie nicht gethan! Sie wollen Fred nichts weiter als zehntausend Pfund Sterling lassen! Hm, hm! Aber haben Sie denn — verzeihen Sie die indiskrete Frage — haben Sie eine Ahnung, wo Ihre Tochter sich gegenwärtig aufhält?“
„Nicht die entfernteste. Wie ich Ihnen soeben sagte, hat sie seit dem Tage, da sie mit ihrem Schurken von Musiklehrer auf und davon lief, nie wieder etwas von sich hören lassen. In dem Briefe, den sie mir hinterliess, teilte sie mir mit, dass sie beide nach Neuseeland zu gehen und dort ihr Glück zu versuchen beabsichtigten. Ob sie diesen Plan ausgeführt haben, ob nicht — ich weiss es nicht. Ob sie lebt, ob sie tot ist — ich weiss es ebensowenig. Ist das letztere der Fall, so geht mein Vermögen an den nächsten noch lebenden Blutsverwandten über. Besser konnte ich — meiner Ansicht nach — nicht darüber verfügen,“ setzte der Dekan ein wenig zweifelhaft hinzu, als wünschte er jetzt die Bestätigung zu hören, dass seine Bestimmung eine sehr weise und richtige gewesen sei.
„Hm, hm!“ sagte sein Freund nachdenklich. „Aber halten Sie es nicht für richtig, dass wir Fred telegraphisch hierher berufen, Musgrave?“
„Wozu? Ich habe keine Sehnsucht nach ihm und er hat sicher ebensowenig Sehnsucht nach mir. Er ist ein Trotzkopf, der sich meinen Wünschen widersetzt und eine Karriere erwählt hat, die eines anständigen Menschen durchaus unwürdig ist.“
„Sind Sie nicht ein wenig zu hart, Musgrave? Es war Ihr Wunsch, dass er Jurist werden sollte, nicht wahr?“
„Ja. Ich war dem Jungen gut und wollte für seine Zukunft sorgen. Ich führte ihn an eine Quelle, aber er weigerte sich, daraus zu trinken. Anstatt einen ehrenhaften, menschenwürdigen Beruf zu erwählen, vergeudet er seine Zeit damit, Theaterstücke zu schreiben. Komödien! O pfui!“
„O, auch darin kann man Grosses erreichen,“ bemerkte der Rektor sanft.
„Nicht, dass ich wüsste.“
Drysdale lächelte. „Haben Sie nie von Shakespeare gehört?“
„O, wenn Sie mir mit einer solchen reductio ad absurdum kommen, sind wir mit unsrer Unterhaltung bald zu Ende. Auch habe ich weder Lust noch Kraft, mit Ihnen zu streiten. Ich weiss, dass ich meinem Neffen gegenüber meine Pflicht gethan habe und sogar noch mehr als meine Pflicht. Trotz seines Ungehorsams habe ich ihm zehntausend Pfund Sterling vermacht, mit denen er nach Belieben schalten kann. Und nach der Art und Weise, in der ich mein Testament abgefasst habe, ist der Fall nicht ausgeschlossen, dass Fred einmal Erbe meines ganzen Vermögens werden wird. Unter diesen Umständen hat er keinen Grund, sich darüber zu beklagen, dass ich mich geweigert habe, seine litterarischen Produkte zu lesen oder mir von ihm davon erzählen zu lassen.“
„Ich glaube nicht, dass er Ihnen, wenn Sie ihn jetzt kommen liessen, davon sprechen würde,“ wandte der Friedensstifter ein. Es that dem Rektor von Herzen leid, dass der arme Musgrave, ohne von dem Neffen, den er an Sohnesstatt angenommen und in dem Glauben, sein dereinstiger Erbe zu sein, erzogen hatte, Abschied genommen zu haben, aus dem Leben scheiden sollte. Zwar war in letzter Zeit eine offenbare Entfremdung, die fast einem Bruche gleich kam und deren Folgen Fred durch die Testamentsabänderung zu spüren bekommen sollte, zwischen Oheim und Neffen eingetreten, aber trotzdem blieb es die Pflicht des jungen Mannes, an das Sterbebett seines Pflegevaters zu eilen, und der Rektor betrachtete es als eine Art Sünde, wenn er ihn nicht herbeirief.
Der Dekan schien anderer Ansicht zu sein.
„Ich will ihn weder darüber, noch über andre Dinge sprechen hören,“ erklärte er. „Ich will keinen mehr hören — nur Sie noch einige Minuten. Ich habe in meinem langen Leben genug angehört und bin des Hörens müde geworden. Jetzt gehe ich in ein Land, wo alles Reden ein Ende hat. Wenigstens vermutet man das, da man zum Sprechen seine Zunge und ihre Beweglichkeit braucht, und ich die der meinen bereits merklich zu verlieren beginne.“
„Wenn der Mensch stirbt, so geht sein Geist zu Gott, der ihn geschaffen hat, zurück,“ sagte der Rektor.
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Darüber wissen wir beide einstweilen noch herzlich wenig, lieber Freund.“
Der Dekan von St. Cyprian hatte stets sehr freie — um nicht zu sagen: unorthodoxe — Ansichten offenbart und sich dadurch manche Feindschaft mit den Professoren der theologischen Fakultät zugezogen. Obgleich des Rektors Ansichten nicht immer mit denen Musgraves übereingestimmt hatten, so hatte er ihn stets gewähren lassen und ihm nie seine eigne Meinung aufzudrängen gesucht. Jetzt aber kniete er neben dem Bette nieder und betete mit lauter Stimme zu Gott für den Sterbenden. Das war eine grosse Kühnheit, denn der Dekan hatte sein ganzes Leben lang alles Zurschautragen von Frömmigkeit verabscheut und kein andrer hätte sich eine derartige Handlung in seiner Nähe erlauben dürfen. Dem milden, sanften Doktor Drysdale ein Wort des Vorwurfs zu sagen, war er jedoch nicht im stande, und so hörte er stillschweigend dessen Gebet an und streckte dem Rektor, als er sich von den Knieen erhob, mit dem Anfluge eines Lächelns seine Hand hin.
„Leben Sie wohl, Drysdale,“ sagte er. „Ich danke Ihnen für Ihren Besuch.“
„Ich komme morgen wieder,“ entgegnete der andre.
„Morgen! Ich weiss nicht, ob Sie mich dann noch finden werden. Aber wenn Sie gerade vorübergehen und hereingucken wollen — — Für heute muss ich Sie entlassen. Ich bin todmüde.“
Der würdige Doktor Drysdale verabschiedete sich von seinem alten Freunde, aber anstatt den Heimweg einzuschlagen, begab er sich auf das nächste Postamt und sandte auf eigne Verantwortung ein Telegramm an Mr. Frederick Musgrave in London ab.
Er hätte sich die Mühe sparen können. Denn zur Zeit, als das Telegramm in Mr. Frederick Musgraves Wohnung abgegeben wurde, befand sich der junge Mann eben in Gesellschaft, und als er spät nach Mitternacht nach Hause zurückkehrte und es öffnete, war der Dekan von St. Cyprian bereits seit Stunden tot.