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Zweites Kapitel.

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Von dem Augenblicke an, da wir zur Welt kommen, machen wir in jeder Sekunde einen Schritt unserm Grabe entgegen. In jedem Moment verlässt ein Mensch die Welt — in jedem Moment wird ein Mensch geboren.

Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, dass wir mit jedem trauern, dem etwas Trauriges, mit jedem jubeln, dem etwas Frohes widerfährt; thäten wir es, so bliebe uns keine Zeit zur Ausübung unsrer eignen Geschäfte und täglichen Pflichten übrig — so unaufhörlich wechselt Freude und Leid im Leben. Aber nicht selten geschieht es, dass uns für diese unsre Gleichgültigkeit eine harte Strafe zu teil wird. Wie häufig tritt der Fall ein, dass wir, ohne es zu wissen — bildlich gesprochen — auf den Gräbern unsrer eignen Freunde tanzen! Eine derartige Prüfung hatte der böse Zufall Fred zugedacht. Es war ein höchst unglückliches Zusammentreffen, dass gerade um die Stunde, da der Dekan von St. Cyprian in seinem einsamen Zimmer zu Oxford seinen letzten Seufzer aushauchte, sein Neffe sich in London bei einem heiteren Diner aufs beste amüsierte und sich in der vortrefflichsten Stimmung befand.

Die Gesellschaften im Hause des General Moore zeichneten sich stets durch heiteren Ton und angeregte Stimmung aus. Der General sah gern fröhliche Gesichter um sich und ging seinen Gästen — was gute Laune anbetraf — stets mit bestem Beispiel voran. Ein Offizier a. D., der über ein grosses Vermögen zu verfügen hat, eine reizende junge Frau und eine herrliche Besitzung in Süd-Kensington besitzt, hat alle Ursache, guter Laune zu sein. Der General liebte die Geselligkeit und seine Frau teilte diese Liebhaberei von Herzen. Mrs. Moore fiel das ganze Verdienst zu, bei den in ihrem Hause in der Cromwellstrasse stattfindenden Gesellschaften immer mit richtigem Takte die zu einander passenden Gäste zusammen einzuladen und jedes störende Element davon fernzuhalten. Sie war des Generals zweite Frau und fünfundzwanzig Jahre jünger als er. Ihre Stieftochter Susie hatte eben ihr achtzehntes Jahr erreicht und war im Laufe des letzten Winters in die Gesellschaft eingeführt worden. Obgleich Mrs. Moore vier eigne kleine Kinder hatte, war sie doch eine ganz vortreffliche Stiefmutter, der Susies Wohl lebhaft am Herzen lag. Das bewies sie dadurch, dass sie zu ihren Gesellschaften stets einige junge Leute einlud, die sie als gute Partieen betrachtete, und bei Tische immer einen oder den andern von ihnen neben Susie zu placieren wusste.

Zum heutigen Diner waren zwei derartige gute Partieen eingeladen, nämlich Mr. Frederick Musgrave und Hauptmann Claughton vom vierten Garderegiment, die beide in dem kleinen Theaterstücke, das nach Tische aufgeführt wurde, eine Rolle übernommen hatten. Es hiesse eigentlich nicht strenge bei der Wahrheit bleiben, wenn man Hauptmann Claughton eine gute Partie nennen wollte. Zwar hatte er eine gute Erziehung genossen und besass ein hübsches Aeusseres; gab viel Geld aus und hatte einen ziemlich wohlhabenden Vater. Leider war er aber nicht dessen ältester Sohn und es war daher anzunehmen, dass das Geld, das der junge Gardeoffizier ausgab, nicht immer ihm selber gehörte. Mr. Musgrave dagegen war eine entschieden nicht zu unterschätzende Partie. Es war allgemein bekannt, dass er der Erbe seines Onkels, des Dekans der St. Cyprianer Universität, war, eines kränklichen alten Mannes, der, wie Mrs. Moore von sehr glaubwürdiger Seite gehört hatte, nie mehr als die Hälfte seines Einkommens verbrauchte und alles andre zurücklegte und ersparte. Mr. Musgrave durfte man also mit gutem Gewissen ermuntern. Und in der That wurde Mr. Musgrave in so auffallender Weise ermuntert, dass er mit Blindheit hätte geschlagen sein müssen, wenn er nicht bemerkt hätte, dass man ihn vor allen andern Bekannten des Hauses auszeichnete und bevorzugte. So fand z. B. heute die dramatische Vorstellung nur statt, um Fred die Freude zu bereiten, seinen neuen kleinen Einakter aufführen zu sehen. Da er bereits ein Lustspiel geschrieben hatte, das von einer Londoner Bühne angenommen worden war und allabendlich auf ihr dargestellt wurde, so sah man klar, dass er etwas von dergleichen Dingen verstand, und übergab ihm daher auch das Amt des Regisseurs. Dadurch, dass er Susie täglich in einer Kunst unterwies, die ihr bisher fremd gewesen war, und somit häufig in ihre Nähe kam, traf man zwei Fliegen mit einer Klappe, denn erstens hatte man die Aussicht, einen höchst amüsanten Abend zu veranstalten, über den viel gesprochen werden würde, und zweitens rückte man dem Zeitpunkte, da die Stieftochter glücklich an den Mann gebracht wurde, voraussichtlich um ein beträchtliches näher.

Fred Musgrave bot alles auf, um den Abend amüsant zu machen; vielleicht war er auch nicht abgeneigt, den zweiten Wunsch seiner Wirtin zu erfüllen; jedenfalls begann er daran zu denken, und die offene Verehrung, die Hauptmann Claughton Susie zollte, bestärkte ihn noch in seinen Absichten. Der schlanke, gewandte Claughton mit seinem kurzgeschnittenen schwarzen Haar, seinem eleganten Schnurrbarte, seiner musterhaft sitzenden Uniform, seinem ihn vortrefflich kleidenden Klemmer, schlug während des Diners Miss Moore gegenüber einen Ton der Vertraulichkeit an, der den andern jungen Mann höchlichst beleidigte. Da der andre junge Mann jedoch sehr gutmütig und liebenswürdig war, blieb er trotzdem bei guter Laune und fragte sich nur im stillen, ob Miss Moore wirklich an einem derartigen Courmacher Gefallen finden könnte. Bald hoffte er, dass dies nicht der Fall sei, bald fürchtete er ein wenig, dass es doch möglich wäre. Und warum sollte sie auch nicht? Denn trotz seiner Abneigung gegen den jungen Offizier musste Fred es zugeben, dass er ein sehr liebenswürdiger Bursche sei, und Susie kannte Claughton jetzt schon lange genug, um zu wissen, dass er seine Bewunderung nicht jedem weiblichen Wesen, das seinen Pfad kreuzte, darbrachte. Dass er sie bewunderte, war nur eine Huldigung, die Susie von Rechts wegen zukam; hoffentlich legte sie ihr keinen zu grossen Wert bei, hoffentlich war sie zu vernünftig, um sich aus Claughtons Verehrung das mindeste zu machen.

Susie Moore besass zwar kein Aeusseres, durch das sie den Ruhm grosser Schönheit erlangen konnte, aber sie gehörte — wie ihre Stiefmutter einmal richtig gesagt hatte — „doch immerhin zu den Hübschen“. „Sie hat Schick,“ hatte diese unparteiische Kritikerin erklärt. „Wenn man ihr Gesicht einzeln zerlegt, lässt es vielleicht manches zu wünschen übrig; aber sie hat einen reinen Teint, wunderschöne braune Augen, prächtiges Haar und einen angenehmen Ausdruck. Ausserdem ist sie so echt wie Gold.“

Dies letztere Lob verdiente Susie allerdings in reichem Masse. Ich hoffe, die jungen Damen, die dies Buch lesen, nehmen es mir nicht übel, wenn ich einen leisen Zweifel darein setze, dass man von einer jeden von ihnen dasselbe sagen könne, zumal keine diese Bemerkung auf sich selbst, sondern nur auf ihre Nächsten beziehen wird. Von Susie konnte man es getrost sagen — sie war in der That echt und treu wie Gold. Und vielleicht waren es eben ihre Unschuld und Ehrlichkeit, die Hauptmann Claughton, der das Leben und die Frauen längst gründlich kennen gelernt hatte, am meisten anzogen. Möglicherweise waren es auch diese Eigenschaften gewesen, die Frederick Musgraves Interesse erweckt hatten, obgleich er einen andern Charakter besass als Claughton und bisher wenig Gelegenheit gehabt hatte, sich Menschenkenntnis zu erwerben.

Auf ihn konnte man mit gutem Rechte dieselbe Bezeichnung anwenden, die Susie zuerteilt wurde. Trotz seiner siebenundzwanzig Jahre war Fred noch immer harmlos und vertrauensvoll wie ein Kind. Seine Begeisterung für alles Schöne war noch so frisch, so von Herzen kommend, dass sie jeden, der einen derartigen Charakter zu würdigen verstand, wohlthuend berühren musste. Fred glaubte noch daran, dass alle Menschen gut seien — ganz besonders die ihm nahestehenden Menschen —; für ihn war die Klage um die Schlechtigkeit der Welt eine blosse Redensart. Da er sich bei allen seinen Nebenmenschen stets grosser Beliebtheit zu erfreuen gehabt hatte, so hatte er sich daran gewöhnt, seinen eignen Weg zu gehen und es der Mitwelt überlassen, sich nach demselben zu richten. Wäre sein Charakter nicht so rein und sein Gemüt nicht so gut beanlagt gewesen, so hätte die Nachsicht und Freundlichkeit, die jeder ihm darbrachte, leicht schädlichen Einfluss auf ihn haben können; so aber nahm er sie als etwas ihm Gebührendes hin, ohne sich dadurch verwöhnen zu lassen. Er lebte mit aller Welt, und selbst bis vor kurzem mit seinem wunderlichen alten Onkel in Eintracht und Frieden. Freds Aeusseres war noch anziehender als das Hauptmann Claughtons. Er war ein grosser, breitschulteriger, schöner Mann mit blondem Haare und Barte, blauen Augen und regelmässigen Zügen. Sein Talent hatte er bisher nur durch das einzige Lustspiel, mit dem er Erfolg gehabt hatte, offenbart, aber dass er welches besass, davon waren sowohl er als auch seine Bekannten fest überzeugt.

Wenn das Leben einem so viel gute Dinge bietet, als da sind: Gesundheit, Schönheit, Kraft, Beliebtheit und ein reicher Onkel, muss man ein ganz abnormes Gemüt besitzen, wenn man sich nicht dieser Vorteile freut. Fred Musgrave besass dies abnorme Gemüt nicht — er freute sich ihrer nach Kräften. Er freute sich des Diners bei General Moore — trotz der kleinen Sorgen, die seinen Kopf während desselben durchzogen; er freute sich der Vorbereitungen zu den Aufführungen und gab Susie, mit der er ihre Rolle gewissenhaft einstudiert hatte, noch ab und zu kleine Winke, die nicht zu vergessen er ihr dringend ans Herz legte; und am meisten freute er sich der Aufführung selbst, die vom ersten bis zum letzten Worte ein fortgesetzter Triumph für ihn war. Zwar war Hauptmann Claughton in ihr Susies Liebhaber — das hatte sich nicht ändern lassen —, aber er war ein so schlechter Schauspieler und führte seine Rolle so mässig durch, dass er sehr wenig Beifall und Anerkennung erntete. Fred dagegen wurde mit Lob überschüttet und bekam die schmeichelhaftesten Dinge über sein Stück zu hören. Nach dem Schlusse der Vorstellung wurde getanzt. Mrs. Moores kleine Gesellschaften wurden immer durch einen kleinen Tanz beschlossen.

„Ein reizender Kerl, dieser junge Musgrave!“ bemerkte ein alter Herr, der eben neben der Generalin stand und lächelnd dem Tanze zuschaute. „Man bekommt nicht alle Tage eine so glückliche Vereinigung von inneren und äusseren Vorzügen zu Gesicht. Wie schade, dass er sich nicht dazu entschliessen kann, einen richtigen Beruf zu erwählen!“

„O,“ erwiderte Mrs. Moore, „er scheint mir im stande zu sein, sich vollauf zu beschäftigen. Aber er wird es voraussichtlich nie nötig haben, sein Geld selber zu verdienen.“

Mrs. Moores Freund, ein Mann, der ein erfahrungsreiches Leben hinter sich hatte, lächelte ungläubig. „Soviel ich weiss, ist er von seinem Onkel, dem Dekan Musgrave, dem unangenehmsten, unverträglichsten alten Unholde, den die Erde trägt, vollständig abhängig. Wie, wenn es sich dieser Onkel nun einfallen liesse, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen und sein Vermögen einem anderen Verwandten zu hinterlassen!“

„Das wird er sich nicht beigehen lassen!“ versicherte die Generalin ganz erschreckt.

„Sagen Sie das nicht mit solcher Bestimmtheit. Alte Leute sind wunderlich,“ erwiderte der andre. „Ich selber hatte einen Onkel, der sich mit sechsundsechzig Jahren verheiratete, und wollen Sie es glauben, dass der Mann noch drei Kinder bekam, ehe er starb? Natürlich hinterliess er ihnen sein ganzes Geld, obgleich er seit Jahren die Gewohnheit gehabt hatte, den Sommer in unserm Hause zu verbringen und über die Küche zu räsonnieren. Uebrigens ist mir so, als hätte ich einmal gehört, der alte Musgrave habe einen verlornen Sohn gehabt, den er vor vielen Jahren aus seinem Hause verjagt hätte.“

„Mir ist etwas derartiges nie zu Ohren gekommen,“ antwortete Mrs. Moore. „Ich weiss nichts davon, dass er je Kinder gehabt hat.“

„Doch, doch! Wie ist mir denn? Es war ja kein verlorner Sohn, sondern eine verlorne Tochter! Ja, ja — jetzt weiss ich es ganz genau — es war eine Tochter!“

Mrs. Moore machte im Geiste Notiz von dieser Mitteilung. Sie wusste herzlich wenig von Mr. Musgrave und seinen Verhältnissen, und doch mochte es ihr möglicherweise nächstens zur Pflicht werden, Erkundigungen danach einzuziehen.

Unterdessen tanzte Fred, der von den Wolken, die andre an seinem Horizonte heraufziehen sahen, keine Ahnung hatte, vergnügt mit der hübschen Susie Moore, und nachdem der Tanz vorüber war und beide sich in den an das Ballzimmer stossenden kleinen Salon begeben hatten, begann Susie in der Unschuld ihres Herzens sich nach Freds Lebensweise, nach seinem Thun und Treiben, nach seinen Zukunftsplänen, über die sie ebensowenig unterrichtet war als ihre Mutter, zu erkundigen. Fred war dies Verhör nicht unangenehm; er hatte nichts zu verheimlichen, und es freute ihn, Miss Moore ein derartiges Interesse an seiner Zukunft nehmen zu sehen.

„Mein höchster Ehrgeiz,“ teilte er ihr mit, „ist der, ein berühmter dramatischer Dichter zu werden. Meiner Ansicht nach ist dieser Ehrgeiz zu loben — leider aber denkt mein Onkel in dieser Beziehung anders als ich.“

„Ihr Onkel und Sie sind wohl häufig verschiedener Meinung?“ fragte das junge Mädchen.

„Das kann ich eigentlich nicht behaupten; wir werden ganz ausgezeichnet miteinander fertig. Ob wir verschiedener Meinung sind oder nicht — das ist mir oft selber nicht klar, da mein Onkel grundsätzlich — aus Lust am Widerspruch — widerspricht, was man auch behaupten mag. Es würde ihm das Herz brechen, jemand zuzugeben, dass er mit ihm in irgend einer Beziehung übereinstimme. Was nun meine schriftstellerische Thätigkeit betrifft, so missbilligt er sie im höchsten Grade — aber das ist eben nichts Seltenes bei ihm. Ich glaube, wenn man mir den Posten eines Premierministers anböte und ich ihn annähme, so würde er selbst damit nicht zufrieden sein.“

„Ist Ihnen durch diese seine Charaktereigentümlichkeit das Zusammenleben mit ihm nicht sehr verleidet worden?“

„O nein. Ich bin an seine Art gewöhnt und lasse ihn ruhig gewähren. Er ist nun einmal so und nicht anders. Ab und zu haben wir natürlich auch einmal einen kleinen Streit — augenblicklich sind wir gerade mitten in einem solchen —, aber derartige Zwischenfälle gehen gewöhnlich rasch vorüber und dann sind wir wieder ganz gute Freunde wie vorher.“

„Damit wollen Sie wahrscheinlich sagen, dass Sie schliesslich doch immer thun, was er will, nicht wahr?“

„Wenigstens fast immer. Mir ist unterdessen gewöhnlich der Wunsch vergangen, etwas zu thun, was er missbilligt.“

„Er muss aber doch sehr gut gegen Sie gewesen sein,“ bemerkte Susie nach kurzem Nachdenken. „Sie scheinen doch nur Ihrem Vergnügen zu leben.“

„O, Miss Moore, wie grausam sind Sie, mir etwas derartiges zu sagen! Nichts Widerwärtigeres als ein Mann, der nur seinem Vergnügen lebt. Sehen Sie, ich geniesse alles, was sich mir bietet, aber deshalb ist mir der Genuss doch nicht Lebenszweck. Meine Vergnügungen sind sehr harmloser und unschuldiger Natur. Ich spiele in meinen Mussestunden Cricket; ich liebe die Jagd und nehme daher Einladungen dazu sehr gern an; ich übernehme gern eine Rolle in einem kleinen Theaterstücke — das ist doch gewiss nichts Schlimmes, nicht wahr?“

„Nein. Ich wollte Sie nicht kränken. Ich wollte nur sagen, dass Sie mit Ihren vielen Talenten meiner Ansicht nach weit mehr leisten könnten, als Sie in Wirklichkeit thun.“

„Ich verstehe Sie. Sie wollen mir sagen, dass ich keinen rechten Beruf habe. Gestatten Sie, dass ich Ihnen eine ausführliche Antwort auf diesen Vorwurf gebe! Nachdem ich mein Abiturientenexamen abgelegt hatte, fragte mein Onkel mich, welche von den — seiner Ansicht nach — eines Gentleman würdigen Karrieren ich einmal einzuschlagen beabsichtige. Darunter verstand er nur eine sehr geringe Auswahl. Seemann zu werden war natürlich etwas ganz ausser Frage Stehendes; es blieben also nur: die Armee, die Kirche, die Rechte und die Diplomatie übrig. Ich entschied mich für die Armee. Er war nicht sehr erbaut von dieser Wahl und wusste sie mir rasch zu verleiden. Zur Diplomatie eignete ich mich nicht, da ich wenig Sprachtalent besitze; zum Geistlichen hatte ich nicht die mindeste Neigung, und so fügte ich mich denn endlich meines Onkels Wunsch und begann Jura zu studieren. Aber dies Studium war mir von Anbeginn an verhasst. Es ist so trocken und langweilig. Leider habe ich von früher Jugend an ein ausgesprochenes Dichtertalent in mir gespürt, und da sich dies Talent nicht unterdrücken liess, so begann ich, anstatt ordentlich die Rechte kennen zu lernen, Theaterstücke zu schreiben. Meiner Ansicht nach ist das eine ebensogut ein Beruf, als das andre. Aber mein Onkel will das nun einmal nicht einsehen.“

„Da ist er wohl jetzt sehr erzürnt auf Sie?“

„O, er sagt, er hätte sich noch nie in seinem Leben so sehr über jemand geärgert, als jetzt über mich; aber das ist eine blosse Redensart. Er war sicherlich schon zahllose Male ebenso zornig und enttäuscht, und wird es bis zu seinem Todestage noch recht oft sein.“

Susie lachte. „Der arme, alte Mann! Thäten Sie nicht aber doch gescheit daran, sich dem, was er gern sieht, zu fügen?“

„Das ist ein Ding der Unmöglichkeit, da bisher noch niemand entdeckt hat, was mein Onkel wirklich gern sähe. Weit lieber möchte ich alles thun, was Sie gern sähen, Miss Moore.“

„Ich? O, ich bin ja nicht Ihr Onkel.“

„Nehmen wir einmal an, Sie seien meine Tante und erteilen Sie mir als solche einen Befehl. Sie sollten sehen, welch ein gehorsamer Neffe ich unter Umständen sein kann.“

Susie lehnte die ihr zugeschriebene Verwandtschaft lachend ab, aber da Fred sie dringend bat, ihm ihre Ansicht über seine Handlungsweise offen zu sagen, gab sie zu, dass sie eigentlich völlig seiner Meinung sei. Jeder Mensch müsse nur das thun, wozu er Neigung und Beruf in sich verspüre, und wenn man ihm das höchste Amt im Reiche anböte und er einsähe, dass er sich nicht dazu eignete, so sollte er darauf verzichten und einen einfachen Beruf, der ihm zusagte, erwählen.

Das Gespräch begann eine gefährliche Wendung zu nehmen, und wenn Fred, als er die Gesellschaft verliess, Susie Moore seine Liebe trotzdem nicht offen erklärt hatte, so lag es einfach daran, dass er ein gewissenhafter junger Mann war, der einsah, dass er einen solchen Schritt nicht thun dürfe, ohne seines Onkels Erlaubnis dazu eingeholt zu haben. Aber durch die Blume hatte er ihr dennoch angedeutet, was er für sie fühlte, und seine Andeutungen hatten Susie sichtlich nicht unangenehm berührt. Als Fred daher jetzt seiner Wohnung in St. James zuschritt, pfiff er eine lustige Melodie vor sich hin und sah lauter Bilder einer glücklichen, sonnigen Zukunft sich umschweben. Er war fest entschlossen, gleich am nächsten Tage nach Oxford zu reisen und sich mit seinem Onkel zu versöhnen, was sicherlich kein schweres Stück Arbeit sein würde. Der alte Mann hatte ihm schon häufig gezürnt und war, sobald Fred den ersten Schritt zur Versöhnung that, immer geneigt gewesen, seinem Neffen zu vergeben. Ja, Fred hegte die feste Ueberzeugung, dass er zu seines Onkels Glück oder Behaglichkeit dringend notwendig sei, und dass der schreckliche alte Mann durch ihre Entfremdung weit mehr litte, als er selber. „Ich werde ihm wahrscheinlich einige Zugeständnisse machen müssen,“ überlegte er im stillen. „Vielleicht verlangt er, dass ich noch ein Jahr lang studiere — auch den Gefallen will ich ihm thun. Mir bleiben ja immer noch Mussestunden, um Dramen zu schreiben. Dass es, sobald ich von meinen Heiratsplänen zu sprechen anfange, eine schreckliche Scene geben wird, weiss ich im voraus, aber er wird sich wieder beruhigen und zu der Einsicht gelangen, welch ein Glück es ist, dass meine Wahl auf Miss Moore fällt. Die Familie Moore ist weit und breit sehr geachtet — er kann nichts gegen sie einzuwenden haben.“

Er stürmte die Treppe zu seiner Wohnung hinan und trat ins Wohnzimmer. Da gewahrte er das Telegramm des Rektors, das seit sechs Stunden auf dem Tische lag und seiner wartete.

„Komm so schnell als möglich her. Dein Onkel ist gefährlich erkrankt.“

Der junge Mann war mit einem Schlage ernüchtert und zugleich im höchsten Grade erschreckt. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, dass sein Onkel leidend sei, und die Nachricht traf ihn daher völlig unvorbereitet. Leider konnte er dem Rufe nicht sofort Folge leisten. Der erste Zug nach Oxford ging erst fünf Uhr dreissig Minuten ab und die nächste Turmuhr verkündete eben erst die dritte Morgenstunde. Da es nicht mehr der Mühe lohnte, sich ins Bett zu legen, so kleidete der junge Mann sich um, packte die für eine kleine Reise notwendigen Sachen zusammen und setzte sich dann mit seiner Cigarre aufs Sofa nieder. Sein Temperament war ein sehr glückliches und neigte immer mehr zur Hoffnung als zur Furcht. Daher gab Fred sich auch jetzt der sicheren Ueberzeugung hin, er würde seinen Onkel schon wieder ganz hergestellt und gesund antreffen. Trotzdem that ihm der kurze Aufschub herzlich leid. Sein Onkel konnte daraus den Schluss ziehen, Fred sei herzlos und völlig gleichgültig gegen die Gesundheit dessen, dem er so unsäglich viel verdankte. Wie gut er dem alten Manne war, das sah er jetzt plötzlich klarer denn je ein. Wer weiss, ob er ihn nicht weit mehr liebte, als der alte Mann glaubte oder mit Gegenliebe vergalt. Aber derartige Gefühle kann man nicht abwägen und abmessen. Das Geheimnis von des Dekan Musgraves Liebe oder Abneigung blieb in seinem Innern verschlossen und ging mit ihm ins Grab hinab.

Die Erbin

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