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Drittes Kapitel.

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Es war noch früh am Morgen, als Fred Musgrave in Oxford anlangte und den Weg vom Bahnhof nach der Universität, in der sein Onkel eine stattliche Reihe von Jahren mehr gefürchtet als geliebt worden war, zurücklegte. Das mächtige alte Gebäude hob sich düster von dem trüben grauen Märzhimmel ab; die weiche Steinmasse, aus der die meisten Häuser in Oxford gebaut sind, war an verschiedenen Stellen abgebröckelt und machte einem phantastischen Beobachter unwillkürlich den düsteren Eindruck von Verfall und Tod. Fred Musgrave aber war kein Phantast, er dachte an nichts weiter, als dass es ein sehr kalter Morgen war und dass er sich auf das warme Esszimmer seines Oheims freute. Selbst die an allen Fenstern herabgelassenen Vorhänge flössten ihm keine Besorgnis ein; an einem Wintermorgen ist es ganz natürlich, dass um halb acht Uhr die Fenstervorhänge noch nicht zurückgezogen sind.

Es war daher ein grosser Schreck für ihn, als der Diener Williams mit sehr langem Gesichte die Thür öffnete und auf Freds Frage nach des Dekans Befinden antwortete: „Es ist leider alles vorüber, junger Herr. Alles vorüber. Der Herr Dekan ist gestern abend bald nach elf Uhr sanft eingeschlafen, junger Herr.“

Die Haushälterin bestätigte unter Seufzern und Thränen seine Aussage. Weder sie noch der Diener hatten ihren verstorbenen Herrn sonderlich geliebt — es wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, das zu thun — aber wenn der Herr des Hauses stirbt, so ist es natürlich, dass man ein trauriges Gesicht macht und seufzt, selbst wenn der Verstorbene ein alter Mann und ein Tyrann gewesen ist. Freds Trauer dagegen war aufrichtig, von Herzen kommend, obgleich er nicht im stande war, gleich Worte dafür zu finden.

„So unerwartet!“ rief er betrübt.

„Das kann man nicht eigentlich sagen, junger Herr,“ warf die Haushälterin ein, indem sie an ihren schwarzen Haubenbändern zupfte. „Seit drei Tagen hatte ich alle Hoffnung aufgegeben, und als der Doktor gestern früh hier war, sagte auch er mir, dass an Aufkommen nicht mehr zu denken sei.“

„Warum riefen Sie mich nicht telegraphisch herbei?“

„Ich wagte nicht, es zu thun, denn ich wusste nicht, ob es dem Herrn Dekan recht gewesen wäre. Vorgestern sagte ich zu Williams — nicht wahr, Williams, Sie wissen doch noch? —: ‚Was meinen Sie, müssen wir nicht nach Mr. Frederick telegraphieren?‘ sagte ich. Williams war ganz meiner Meinung. Aber sehen Sie, junger Herr, ich getraute mich nicht, es dem Herrn Dekan zu sagen. Als Mr. Breffit gestern hier war, sprach ich mit ihm darüber, aber auch er meinte, es sei eine gewagte Sache, auf eigne Hand zu handeln. ‚Meinethalben thun Sie es,‘ sagte er, ‚aber es kann unter Umständen,‘ sagte er — —“

„Was Mr. Breffit gesagt hat, ist mir sehr gleichgültig,“ unterbrach Fred, dem nichts daran lag, die Einzelheiten des Gesprächs zu hören, sie kurz; „das Resultat bleibt dasselbe: nämlich, dass ich durch Ihre Schuld daran verhindert worden bin, von meinem Onkel Abschied zu nehmen.“

„Das thut mir herzlich leid, herzlich leid, junger Herr,“ erwiderte Mrs. Simpson in sehr beleidigtem Tone.

Auch der Diener sprach sein aufrichtiges Bedauern darüber aus und setzte hinzu, dass Mrs. Simpson vollständig unschuldig an dieser Unterlassungssünde sei. Mr. Fred hätte den alten Herrn gut genug gekannt, um zu wissen, dass jeder Diener, der sich erlaubt hätte, dem Dekan einen derartigen Vorschlag zu machen, auf der Stelle entlassen worden wäre.

Mr. Fred wusste es. Ebenso genau wusste er, dass sowohl Williams als Mrs. Simpson bei weitem freundschaftlichere Gefühle für ihn hegten, als sie sie je für den alten Mann, der ihnen hohen Lohn gezahlt, sie aber sonst wie Sklaven behandelt hatte, empfunden hatten. „Ich sehe es ein,“ sagte er nach kurzem Ueberlegen, „dass Sie nicht anders handeln konnten; es thut mir nur leid, dass Doktor Drysdale nicht eher daran dachte, an mich zu telegraphieren.“

Dann erkundigte er sich nach der Krankheit seines Onkels, nach ihren Einzelheiten, und dann — da wir, was auch geschieht, essen müssen — setzte er sich an den Esstisch nieder und nahm sein Frühstück ein.

Nachdem er es beendet hatte, begab er sich hinauf und blickte zum letztenmal in das ernste, ruhige Gesicht, das ihn nie so unfreundlich und schrecklich gedünkt hatte, als die meisten andern Menschen es stets fanden. Sein Onkel war nie sein Freund, nie sein Vertrauter gewesen; nie hatte Fred sich eines Liebeswortes oder einer Liebkosung von ihm zu erfreuen gehabt, aber trotzdem konnte und wollte der junge Mann es nicht vergessen, dass er alles, was er war und besass, dem Dahingeschiedenen verdankte. Er erinnerte sich des Tages noch gar wohl, an dem er als fünfjähriger Knabe zum erstenmal vor den gefürchteten Verwandten hingetreten war und von ihm die in kühlem Tone gemachte Mitteilung erhalten hatte, dass er von jetzt ab für ihn sorgen und ihn erziehen wolle, vorausgesetzt, dass Fred sich gut betrage und ihm nie Schande bereitete. Wie oft hatte Fred sich die Frage vorgelegt, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn der Dekan sich seiner nicht angenommen hätte. Er war eine arme Waise gewesen und hatte nicht einen Verwandten in der weiten Welt besessen. Sein Vater, der als Kaufmann und Besitzer eines Porzellanwarengeschäfts ein ziemlich grosses Vermögen erworben hatte, verlor durch eine unglückliche Spekulation alles, was er besass, und starb am nämlichen Tage, da sein Bankerott öffentlich bekannt gemacht wurde, am Herzschlage. Da hatte der Dekan der St. Cyprianer Universität, der seit dem Tage, da sein Bruder Kaufmann geworden war, alle Beziehungen zu ihm abgebrochen hatte (seinen Begriffen nach war der Kaufmannsberuf eines Gentleman und eines Musgrave unwürdig), sich des einzigen Sohnes seines Bruders erinnert, ihn zu sich genommen und so erzogen, als wenn er sein eignes, leibliches Kind gewesen wäre. Er war keine zärtliche Natur; er verwöhnte den jungen Burschen nicht durch Geschenke; er bezeigte wenig Teilnahme an seinen Interessen, aber er liess es ihm an nichts fehlen; er duldete ihn bei sich, er vertrug sich mit ihm, und das war etwas, was er noch mit keinem lebenden Wesen, mit Ausnahme des Rektors der Universität, gethan hatte.

Fred hatte sich — ausser in gymnastischen Uebungen — wenig in der Schule und auf der Universität ausgezeichnet; aber er war fleissig gewesen, hatte sich stets gesittet und manierlich betragen und nie Schulden gemacht. Die ab und zu vorgekommenen Zwistigkeiten mit seinem Onkel hatten gewöhnlich ihren Grund in ganz unbedeutender Meinungsverschiedenheit gehabt und fast immer damit geendigt, dass der junge Mann dem Alten den Willen that — oder sich doch den Anschein gab, es zu thun. Dabei hatte er sich stets so gutmütig und liebenswürdig benommen, dass der alte Mann ihm nie lange hatte zürnen können. Für Fred waren diese kleinen Zänkereien allmählich mehr amüsant als ärgerlich geworden. Er hatte sich daran gewöhnt und brachte ihnen mit der Zeit ein gutes Teil Geduld und Langmut entgegen. Er hatte den Charakter seines Onkels verstehen gelernt; ob aber sein Onkel dem seinigen dasselbe Verständnis entgegenbrachte, war eine Frage, die wir dahingestellt sein lassen wollen.

Nun war alles vorüber. Der arme Waisenknabe von ehemals war plötzlich nicht nur sein eigner unumschränkter Herr, sondern auch der Besitzer eines grossen Vermögens geworden. Er schämte sich vor sich selber, dass ihm dieser Gedanke sofort in den Sinn kam und sich nicht vertreiben lassen wollte. Dass er der einzige Erbe seines Onkel war, daran zweifelte er keinen Augenblick; wer sollte es sonst sein? Und an diesen Gedanken knüpfte sich selbstverständlich sogleich der, dass ihn fortan nichts abhielt, sich um Susie Moore zu bewerben.

Im Augenblicke, da ein König seinen letzten Atemzug gethan hat, nimmt sein Nachfolger Feder und Papier und schreibt seinen Erlass an das Volk. Das Herkommen verlangt es, dass er es thut und dass er darin seinem Schmerze um den Toten Ausdruck gibt; aber trotzdem enthalten solche Erlasse, wenn man sie genau betrachtet, nichts weiter als die Mitteilung: „Ich mache die Mitteilung, dass ich den Thron bestiegen habe. Ich lebe hoch!“ Im Privatleben geschehen ähnliche Dinge, die sich nun einmal nicht umgehen lassen. Dem Lebenden gehört die Welt, er muss seine neuen Pflichten, seine Verantwortlichkeiten und Vorteile ins Auge fassen und man darf einen Erben, dessen Kummer mit einer seltsamen Erregung, die fast der Freude gleicht, gemischt ist, nicht zu hart beurteilen. Fred gab sich alle Mühe, derartige unkindliche Gefühle zu unterdrücken und sich nur dem Schmerze um den Verlust seines Wohlthäters hinzugeben. Ob es ihm gelang, seinen guten Vorsatz auszuführen, blieb trotzdem zweifelhaft. Im Laufe des Vormittags erschien der Rektor, um ihm sein Beileid auszusprechen.

„Mein lieber Sohn,“ sagte der alte Mann, „du glaubst nicht, wie sehr, sehr leid es mir thut — schrecklich leid — wenn du doch zur Zeit gekommen wärest! Ich mache mir selber Vorwürfe, dass ich dich nicht eher gerufen habe; aber ich gebe dir mein Wort, dass ich bis gestern nachmittag keine Ahnung davon hatte, wie schlecht es mit meinem armen Freunde stand. Sobald ich das erkannte, telegraphierte ich nach dir; leider Gottes zu spät. Wenn du ihn noch lebend angetroffen hättest, hätte er dir sicher vergeben — sicherlich. Ich will damit nicht sagen, dass du dir besondere Vorwürfe zu machen hättest; es ist, weiss Gott, kein Verbrechen, ein Lustspiel zu schreiben. Aber ...“

„Ich glaube nicht, dass mein Onkel mir im Grunde des Herzens wirklich böse war,“ erwiderte der junge Mann ein wenig verwundert. „Aber selbst wenn er mir gezürnt hat, so bin ich doch fest überzeugt, dass er mir vor seinem Tode vergeben hat.“

„Vielleicht — hoffen wir es,“ antwortete Doktor Drysdale, der die Absicht gehabt hatte, mehr zu sagen, sie aber offenbar änderte. Es war ja möglich, dass der Dekan sein beabsichtigtes Testament nicht mehr zu Papier gebracht, oder dass er es noch in letzter Stunde widerrufen hatte. Jedenfalls war es, da die Thatsache früher oder später ans Tageslicht kommen Musste, das Gescheiteste, einstweilen zu schweigen. Er begnügte sich daher mit einigen frommen Redensarten über die Unsicherheit aller irdischen Dinge und mit Entschuldigungen über seines toten Freundes Eigenart, die Fred ein wenig überflüssig dünkten.

Das ganze Verhalten des Rektors war ihm ein Rätsel. Hatte derselbe die Absicht, ihm Vorwürfe zu machen, dass er seinem Onkel gegenüber bis zuletzt trotzig und hartnäckig auf seinem Stücke bestanden hatte? Wenn Fred die Vorwürfe auch nicht ganz ungerechtfertigt finden konnte, so dünkte ihn doch die Zeit, sie zu erteilen, ein wenig schlecht gewählt. War es denn ein Verbrechen, ein Drama zu schreiben? Freilich, hätte er eine Ahnung gehabt, dass es der letzte Wunsch seines Wohlthäters sein sollte, ihn eine andere Karriere einschlagen zu sehen, so hätte er ihm doch wohl willfahrt und nicht seinen Willen durchzusetzen gesucht. Es ist die Pflicht jedes Menschen, sich den Wünschen seiner Wohlthäter zu fügen, das sah Fred jetzt plötzlich klar ein, und nachdem Doktor Drysdale ihn verlassen hatte und der junge Mann sich allein befand, sagte er sich seufzend, dass sein Gewissen ihm sicherlich noch lange Zeit Vorwürfe machen und keine Ruhe lassen würde.

Es gab in den nächsten Tagen so viel für ihn zu thun, dass Fred wenig Zeit hatte, über sich selber nachzudenken. An jedem Morgen sandte ihm Mr. Breffit einen schriftlichen Rat, eine Instruktion, und am Begräbnistage erschien der Rechtsanwalt in Person und brachte den Bruder von des Dekans verstorbener Frau mit, einen Sir James Le Breton, ehemaligen indischen Beamten, mit dem der Dekan, obgleich oder vielleicht weil er ihn nie gesehen hatte, auf ziemlich freundschaftlichem Fuss geblieben war. Auf Mr. Breffits Veranlassung hatte Sir James eine Einladung erhalten, seinem Verwandten die letzte Ehre zu erweisen.

Fred und er waren die einzigen Leidtragenden, die der Dekan hinterliess. Trotzdem war das Begräbnis sehr prunkvoll und das Gefolge sehr zahlreich. Eine Menge hervorragender Gelehrter und Männer der Wissenschaft war aus London herübergekommen, aber sie zeigten es alle, dass sie nur einer Pflicht hatten genügen wollen, und machten sich, sobald die Feier vorüber war, zumeist eilends wieder auf den Heimweg. Nur einige wenige nahmen in des Dahingeschiedenen Wohnung noch ein Frühstück ein, und nachdem auch diese sich verabschiedet hatten, sagte Breffit mit feierlicher, ernster Miene, dass es nun wohl an der Zeit sei, das Testament zu verlesen.

Der Rektor und Sir James Le Breton waren zu Testamentsvollstreckern ernannt und sollten für diesen dem Toten geleisteten Dienst als Zeichen der Erkenntlichkeit die Summe von je hundert Pfund Sterling erhalten. Die wertvolle Bibliothek des Testators war der St. Cyprianer Universität vermacht worden; die Diener erhielten ansehnliche Legate; dann verkündigte Mr. Breffit nach einer Pause mit einem Seufzer, dass „mein Neffe Frederick Musgrave“ die Summe von zehntausend Pfund Sterling erben sollte, und dass das ganze übrige Vermögen an barem Gelde und Grundbesitz „meiner Tochter Laura Fenton“, und im Falle von deren Tode dem nächsten lebenden Verwandten zufallen sollte.

Ob für gewöhnlich der Beruf eines Anwalts unterhaltend ist, hängt natürlich davon ab, was man für einen Begriff mit dem Worte unterhaltend verbindet; mögen nun aber auch die Pflichten eines Anwalts im allgemeinen etwas langweilig sein, so können sie doch gelegentlich dadurch etwas belebt werden, dass sie wirklich dramatische Situationen schaffen, und man wird Herrn Breffit nicht jede Befriedigung missgönnen, die er vielleicht darüber empfand, seine Zuhörer förmlich verblüfft zu haben. Sir James Le Breton, ein magerer, weisshaariger, alter Herr, der sich über das ihm zugefallene Amt des Testamentsvollstreckers nicht sonderlich gefreut und sich darüber nur mit dem Gedanken an die dafür in Aussicht gestellten hundert Pfund Sterling getröstet hatte, sprang auf und rief: „Da schlage das Wetter drein! Seine Tochter, Laura Fenton! Ich habe mir immer eingebildet, diese reizende Nichte sei seit Jahren gestorben und verdorben.“

Freds Erstaunen und Verwunderung waren noch grösser, da er bisher keine Ahnung von der Existenz einer Person dieses Namens gehabt hatte. Er sass mit offenem Munde da und sprach kein Wort.

„Ich bin über ihre Person und über ihren Aufenthalt völlig im Dunkeln,“ sagte Mr. Breffit. „Als der Dekan Musgrave mir zum erstenmal die Ehre erwies, unter meinem Beistande ein Testament zu verfassen, war seine Tochter lange verheiratet, und er dachte nicht im entferntesten daran, ihr etwas zu hinterlassen. Er erwähnte ihrer kaum mir gegenüber. Aus andrer Quelle erfuhr ich indes, dass des Dekans einzige Tochter vor etwa zwölf Jahren eine Ehe schloss, zu der ihr Vater seine Einwilligung versagte, dass er seitdem jede Verbindung mit ihr abbrach und dass sie und ihr Gatte gleich nach ihrer Verheiratung nach Neuseeland auswanderten. Wenn sie noch am Leben ist, so ist sie vermutlich in Neuseeland.“

Sir James Le Breton rieb ungeduldig sein linkes Ohr und meinte: „Wie, zum Teufel, sollen wir die Frau jetzt herschaffen?“ Worauf Mr. Breffit bemerkte: „Dafür haben wir Zeitungen, mein Verehrtester.“

Der Rektor, der bisher geschwiegen hatte, sagte in entschuldigendem Tone, dass es niemand zu verargen sei, wenn er seiner Tochter zürne, weil sie gegen seinen Willen mit ihrem Musiklehrer davongelaufen sei, dass er es aber wohl begreifen könne, wie ein Mann am Rande des Grabes vor allen Dingen noch einmal auf die Stimme der Vaterliebe und dann erst auf — auf andere Pflichten geachtet habe u. s. w.

Mr. Breffit war andrer Ansicht. Es lag ihm fern, die Handlungsweise seines verstorbenen Klienten einer Kritik zu unterziehen, aber er konnte doch die Bemerkung nicht zurückhalten, dass ihm nie ein unbeugsamerer, härterer Charakter begegnet sei, als der Dekan. Damit war die Sache erledigt. Ein kurzes Stillschweigen trat ein. Dann erhoben die Anwesenden sich, um das Zimmer zu verlassen. Der Rektor klopfte Fred mit teilnehmender Miene auf die Schulter; da man aber in derartigen Momenten selten ein passendes Trosteswort findet, so verabschiedete er sich schweigend von ihm und drückte ihm beim Hinausgehen nur noch einmal ernst und wehmutsvoll die Hand.

Mr. Breffit war weniger zartfühlend. Er hatte bei seinen häufigen Besuchen in des Dekans Hause Fred näher kennen gelernt und ihn lieb gewonnen. Zwischen dem Rechtsanwalt und dem mutmasslichen Erben des Dekans hatte sich ein ausgesprochen freundschaftliches Verhältnis entsponnen. Als beide jetzt allein waren, bemerkte Mr. Breffit daher offenherzig: „Weiss Gott, es ist eine Sünde und Schande! Das hätte ich ihm auch geradeswegs ins Gesicht gesagt, wenn ich mir den mindesten Erfolg von meinen Worten versprochen hätte. Aber Sie wissen ebensogut wie ich, dass Ihr Onkel ein Mensch war, bei dem guter Rat nie Zugang fand.“

„Ich sehe es nicht ein, dass sein Thun eine Sünde und Schande ist,“ sagte Fred. „Da er eine Tochter hatte, finde ich es natürlich, dass er zuerst für sie sorgte und erst in zweiter Reihe meiner gedachte. Was mich allein in Erstaunen setzt, ist der Umstand, dass weder er noch sonst jemand mir gegenüber der Existenz dieser Tochter je Erwähnung gethan hat.“

Der Rechtsanwalt zuckte die Achseln. „Das geschah deshalb, weil jeder sie als tot für ihn betrachtete, und er mutmasslich seit Jahren diese Ansicht teilte. Ausserdem liebte Ihr Onkel es nicht, über seine Familienangelegenheiten zu sprechen. Offen gesagt, ich hatte mehr als einmal den Gedanken, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie möglicherweise nicht sein Erbe sein könnten, wie jeder es voraussetzte, aber da ich für meinen Verdacht keinen genügenden Grund hatte, so hielt ich es für das beste, zu schweigen und mich nicht in Dinge zu mengen, die mich nichts angingen.“

„Sie thaten recht daran,“ erklärte Fred. „Derartige Mitteilungen versetzen einem den Atem, aber ich kann mich im Grunde nicht beklagen. Zehntausend Pfund Sterling sind ein schönes rundes Sümmchen.“

„Ist das wirklich Ihre Ansicht? Glauben Sie wirklich von den Zinsen von zehntausend Pfund Sterling leben zu können? Bilden Sie sich etwa ein, bisher von einem derartigen Einkommen gelebt zu haben?“

„Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Mein Onkel gab mir eine Jahresrente von dreihundert Pfund Sterling.“

„Als Taschengeld. Und bezahlte alle Ihre übrigen Ausgaben.“

„Das ist wahr. Er bezahlte alles, was ich brauchte. Aber falls es mir gelänge, mein Geld zu fünf Prozent zu verzinsen ...“

„Kein Gedanke! Welcher Mensch gibt Ihnen jetzt fünf Prozent? Und Sie haben nicht einmal einen Beruf, der seinen Mann ernährt! Ich sage es Ihnen ganz offen: Wäre ich nicht fest überzeugt davon, dass Ihre Cousine, Mrs. Fenton, längst tot ist, so würde ich Ihre Lage augenblicklich für sehr kritisch halten.“

„Warum sollte meine Cousine nicht leben und sich ihres Lebens freuen?“

„Einfach darum, weil sie seit zwölf Jahren nichts von sich hat hören lassen. Ueberlegen Sie es selbst! Ein Mädchen heiratet einen Musiker, der sicherlich kein grosser Meister in seiner Kunst ist, denn dann würde er nicht auswandern und sein Glück in einem andern Weltteil versuchen. Sie ist das einzige Kind eines reichen Mannes — vergessen Sie es nicht, dass der Dekan eine Menge wohlhabender Verwandter beerbte und für seine Person so gut wie gar nichts brauchte, dass sein Vermögen mithin von Jahr zu Jahr grösser wurde. Meiner Berechnung nach beläuft es sich jetzt mindestens auf zweimalhunderttausend Pfund Sterling. Nun frage ich Sie: Ist es unter solchen Umständen anzunehmen, dass eine Frau eine solche Reihe von Jahren hätte vorübergehen lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen, die Verzeihung ihres Vaters zu erlangen?“

„Sie mögen recht haben. Ich will nur sehen, ob es Ihnen wirklich gelingt, sie auszugraben.“

„Ich hoffe, dass sie dazu zu tief unter der Erde liegt. Selbstverständlich werde ich indes alles aufbieten, um sie zu entdecken, und ich will nur hoffen, dass unsre Bemühungen den Erfolg haben werden, dass uns über kurz oder lang von irgend einem Orte der Totenschein der Frau Laura Fenton, geborene Musgrave, zugeschickt wird.“

„Ich danke Ihnen für Ihr freundliches Interesse an meinem Ergehen. Aber es kommt mir wie eine Sünde vor, meine Hoffnungen auf den Tod der Armen zu bauen. Meinethalben mag sie leben und sich noch recht lange ihrer Erbschaft freuen!“

„Machen Sie sich für alle Fälle auf diese Möglichkeit gefasst. Und wenn Sie meinen Rat befolgen wollen, so erwählen Sie in der Zwischenzeit einen andern Beruf. So schön das dichterische Talent ist, hat es noch nie seinen Mann ernährt, und es hat wohl keinen Dichter gegeben, der nicht sein Leben lang gedarbt und gehungert hätte. Sehen Sie, wir Juristen kommen auch nicht allzu rasch auf einen grünen Zweig — aber allmählich gelingt es uns doch fast immer, etwas zurückzulegen; ein Dichter dagegen — — es ist nun einmal ein unsicherer Beruf; sehen Sie das nicht ein?“

In diesem Punkt fand gutgemeinter Rat bei Fred jedoch taube Ohren.

Die Erbin

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