Читать книгу SHOWDOWN AM NORDKAP - W. G. A. KNOBLOCH - Страница 9
ОглавлениеÅlesund - 10. Oktober 2011
Nach dem Frühstück lief Wieland zur Rezeption und beanstandete die nicht funktionierende Mischbatterie. Man versprach ihm, sich sofort darum zu kümmern. Wenn der Mangel behoben sei, würde er so schnell wie möglich Bescheid bekommen.
Wieland hatte mit Inga verabredet, sich in einer Minute oben auf Deck 6 zu treffen. Um sich fürs Laufen fertigzumachen, suchte er schnell seine Kabine auf, zog warme Kleidung an und als letzte Haut den winddichten Anorak. Damit würde er allen Wetterunbilden trotzen.
Vor Antritt der Reise hatte Wieland den Vorsatz gefasst, jeden Tag vor dem Frühstück straffen Schrittes zehnmal Deck 6 zu umrunden, was in etwa einer Laufstrecke von 2500 Meter entsprach. Im Grunde war Wieland ein fauler Läufer. Doch er hatte geschworen, es würde keinerlei Zugeständnisse mehr an den inneren Schweinehund geben.
Für die zwei Geschosse hinauf benutzte er keinen der Lifte, was ebenfalls zu seinem Vorsatz gehörte. Er nahm die Treppe im hinteren Teil des Schiffes. Als er das Außendeck betrat, schlug ihm heftiger Wind entgegen. Vom Bug her wehte eine steife Brise und es war ziemlich frisch.
Bis zur Anlandung in Torvik um 10.15 Uhr würde es noch gut eine halbe Stunde dauern, also hatten sie genügend Zeit, um ihre Runden zu drehen. Inga traf er dort, wo die Rettungsboote hingen. Sie hatte um die Haare einen weißen Seidenschal gebunden, trug eine flauschige Jacke, schwarze Leggins und Turnschuhe. Sie sah wie eine richtige Joggerin aus.
»Es kann losgehen!«, rief Inga in den Wind hinein.
Sie liefen Runde um Runde, wobei ihnen das Laufen durch den Ausblick versüßt wurde. Sie konnten in alle Richtungen schauen, von Backbord aus auf die bewegte See und von Steuerbord auf die zerklüftete Küstenlandschaft. Auf einer ihrer Runden zeigte Wieland hinüber zur Küste.
»Inga, kein Vergleich zu den heimatlichen Waldspaziergängen, eine herrlich freie Sicht.«
»Bei uns in Niedersachsen gibt es nicht so viel Wald. Dafür kann man Radtouren durch Felder und Wiesen unternehmen. Sonntags bin ich immer irgendwo unterwegs. Magst du denn Spaziergänge nicht, Wieland?«
»Nur Waldspaziergänge nicht. Bei uns in der Dresdner Heide kenne ich jeden Baum, jeden Strauch. Und ich kenne beinahe jedes Eichhörnchen, das über die Waldwege hoppelt.«
Inga bekam einen Lachanfall und blieb abrupt stehen. So herzlich und lang andauernd hatte Wieland noch nie einen Menschen lachen sehen. Es schien überhaupt kein Ende zu nehmen und steckte derart an, dass auch er lachen musste. Die Pause kam ihm ganz gelegen. Vom schnellen Laufen war er etwas außer Atem geraten. Inga dagegen wirkte wie ein unruhiges Rennpferd kurz vor dem Start. Sie bewegte selbst im Stehen noch die Füße und trippelte unruhig auf der Stelle.
Nach der Lauferei verweilten sie ein paar Minuten mittschiffs an der Reling, um zusammen mit anderen Passagieren das Anlegemanöver im Hafen von Torvik zu verfolgen.
Die Trollfjord nahm einige wenige Paletten mit Waren an Bord, nichts, was ihr Interesse geweckt hätte. Auch hinter dem Hafen gab es kaum etwas zu sehen. Da waren ein paar Wiesen, auf denen ein paar bunt gescheckte Kühe friedlich ästen, und ein paar rote und gelbe Holzhäuser. Lediglich auf die teilweise bewaldeten Berge im Hintergrund lohnte sich der Blick. Diese thronten mächtigen Kulissen gleich über der kleinen Ortschaft.
Sie trennten sich, denn Inga wollte unbedingt noch in die Sauna. Er hatte sich für einen Rundgang durch das Schiffinnere entschieden. Sie verabredeten, sich kurz vor Ålesund wieder auf Deck 6 zu treffen.
Für den Rundgang würde ihm ein leichter Pullover genügen. Wieland entledigte sich in der Kabine somit seines Anoraks. Und weil er Durst verspürte, beschloss er, zunächst erst einmal in der Cafeteria auf Deck 5 einen Milchkaffee zu trinken. Dort angekommen, setzte er sich an einen freien Tisch, von dem aus er die vorbeidefilierenden Passagiere beobachten konnte.
Während er den Milchkaffee in kleinen Schlucken genoss, sah er sich die in sein Blickfeld kommenden Passagiere aufs Genaueste an. Seid er auf Hurtigruten-Schiffen unterwegs war, war es seine Angewohnheit, die Nationalitäten dieser Personen zu erraten. Hierfür hatte er im Laufe der Jahre einen siebten Sinn entwickelt und lag mit seinen Einschätzungen oftmals gar nicht so falsch.
Ihm fiel eine Frau auf, die sich schräg gegenüber hinsetzte. Er schätzte ihr Alter auf Mitte vierzig. Keine Norwegerin oder Engländerin, er tippte auf eine Süddeutsche. Die dunklen, halblangen Haare und die tiefbraunen Augen hätten auch einer Südeuropäerin gehören können, einer Italienerin oder Griechin. Dagegen sprachen ihre beherrschten, fast abgezirkelt wirkenden Bewegungen. Ihnen fehlte das typisch quirlige Element, das Frauen eigen ist, die aus südlichen Gefilden stammten. Ohne Zweifel, sie war attraktiv, wenn auch keine ausgesprochene Schönheit. Sie war jedoch der Typ Frau, dem man als Mann hinterherschaute. Vielleicht auch deshalb, weil sie sich in keine gängige Schublade stecken ließ.
Wieland wandte den Blick ab. Gott, er hatte schließlich nicht vor, seiner Frau untreu zu werden. Er liebte Eva nach den zwanzig Ehejahren immer noch so, als hätte er sie eben erst kennengelernt. Wieland hätte sie gern bei sich gehabt. Dem stand leider ihre Abneigung gegen die in ihren Augen unheimliche norwegische See entgegen. Als Kind beinahe in einem Feuerwehrteich ertrunken, war ihre Furcht, die sich beim Anblick jeder größeren Wasserfläche unweigerlich einstellte, bis heute geblieben. Sie war ihm zuliebe zwar ein einziges Mal auf einem Hurtigruten-Schiff mitgefahren. Leider hatte das Wetter in der ersten Woche nicht so mitgespielt, wie sie sich das vorgestellt hatte. Es war überhaupt nicht sommerlich gewesen, obwohl man als Reisebeginn Anfang Juli ausgesucht hatte. Das mäßige Wetter war ein Umstand, der Evas traumatische Ängste noch verstärkte.
Selbst in der zweiten Woche, als weiter oben im Norden sich das Wetter von der besten Seite zeigte, es keine Sonnenuntergänge mehr gab, weil die Sonne über dem Horizont stehen blieb, ehe sie langsam wieder in die Höhe stieg, änderte sich nichts an ihrem Befinden. Was ihn natürlich enttäuschte. Wegen des einzigartigen Naturschauspiels hatte er etwas anderes von ihr erwartet. Trotz des Appells, sie möge sich doch bitte die schönen Momente der Reise vor Augen führen, gelang es ihm nicht, ihr eine weitere Fahrt mit den Hurtigruten schmackhaft zu machen. Seiner Vorliebe für die Hurtigruten tat das zwar keinen Abbruch, er bedauerte nur, seine Leidenschaft für den Norden fortan wieder allein ausleben zu müssen. Was Eva, weil sie eine kluge Frau war, ihm ab und an auch gestattete. Die jetzige Reise war nun schon die dritte nach 2003 und die zwölfte seit Mitte der achtziger Jahre. Nun ja, ganz allein würde er auf der Reise nicht sein, das Schicksal hatte ihm schließlich eine erwachsene Tochter beschert. Er schmunzelte in sich hinein.
Nach dem gedanklichen Ausflug trank Wieland den Rest des Milchkaffees und schaute dorthin, wo soeben noch die dunkelhaarige Frau gesessen hatte. Doch diese war schon wieder unterwegs. Er sah sie ein paar Meter weiter im Bord-Shop verschwinden.
Auf Deck 8 blieb Wieland vor dem rechten Eingang zur Panorama-Lounge stehen. Einige auf einem Tisch liegende Prospekte weckten seine Aufmerksamkeit. Er las: Edvard Grieg, MS Trollfjord, October 2011. An der Wand hing ein DIN-A4-Bogen mit den Zeitangaben: 10.00 Uhr und 14.30 Uhr.
Wieland blätterte in einem der Prospekte. Auf English und German wurde ein musikalischer Event angekündigt. An Bord der Trollfjord befand sich der norwegische Pianist Rune Alver, welcher zweimal am Tag ein Klavierkonzert gab. Als Moderator fungierte Eilif B. Løtveit, ein Grieg-Experte.
Wieland war überrascht. Man hatte dieses Highlight bei der Buchung seiner Reise mit keinem Wort erwähnt. Das Vormittags-Konzert hatte er aus Unkenntnis nun schon versäumt, das am Nachmittag wollte er aber auf keinen Fall verpassen.
Inzwischen war es kurz vor 11.30 Uhr. MS Trollfjord näherte sich in sachter Fahrt dem Hafen von Ålesund. Wenn es ein Städte-Ranking gegeben hätte, dann müsste Wielands Meinung nach die Stadt Ålesund auf der Liste ganz weit oben stehen. Neben Bergen und Trondheim war Ålesund die Stadt, die er am meisten mochte. Das lag vor allem am Stadtberg Aksla, von dem man eine fantastische Aussicht hatte.
Wieland schaute auf die Uhr. Es wurde langsam Zeit, sich fertig zu machen und Ausschau nach Inga zu halten. Er zog in der Kabine rasch den Anorak über. Man wusste an der Küste schließlich nie, wie das Wetter in der nächsten Stunde werden würde. Zumal Inga und er einen Großteil der drei Stunden, die ihnen zur Verfügung standen, oben auf dem Aksla verbringen würden.
Wieland ging an Deck. Man sah den Stadtberg bereits, und ganz oben das Restaurant Fjellstua. Dieses hob sich durch seine helle Fassade von der üppigen Vegetation deutlich ab, welche die Flanken des Berges bedeckte. Das herbstlich bunte und noch immer dichte Blattwerk ergab ein prächtiges Bild, wobei die Pastelltöne von einem kräftigen Rot untermischt wurden.
Inga stand an der Reling und blickte auf die sich nähernde Stadt. Wieland machte sie auf den Berg aufmerksam. Er wies mit ausgestrecktem Arm auf die imposante Erhebung.
»Inga, schau! Das ist der berühmte Stadtberg von Ålesund. Ist das nicht ein toller Anblick?«
Das Schiff drehte um 180 Grad und näherte sich mit gedrosselter Fahrt dem Kai. Es dockte schließlich mit der Backbordseite an. Der Schwenk wurde ausgeführt, weil die Klappe zu den Ladedecks sich auf dieser Schiffsseite befand.
Das Anlegemanöver verfolgten wie immer zahlreiche Passagiere und unten auf dem Kai etliche Einheimische. Darunter eine junge Frau mit Kinderwagen, die wohl ihren Ehemann erwartete. Ob es jemand von der Besatzung war oder ein Passagier, das bekamen die beiden Deutschen nicht mit. Beide waren bereits unterwegs, um von Deck 4 aus an Land zu gehen.
Angetrieben vom Hydrauliksystem löste sich die Gangway aus der Bordwand. Lautlos sank sie dem Kai entgegen. Wenige Sekunden später setzte sie mit lautem Scheppern auf dem Beton der Kaianlage auf.
Ein Strom erwartungsfroher Passagiere ergoss sich auf die Kaianlage, um zu den bereitstehenden Bussen zu laufen.
*****
Die Frau wartete in halber Höhe. Der Mann brauchte eine Weile, um die Stufen hinauf zu klettern. Sein Atem ging schnell und stoßweise. Es dauerte etliche Minuten, ehe er sich vom Aufstieg erholte und zurück in den normalen Atemrhythmus fand.
»Wollen wir es wirklich tun?«, fragte er verunsichert.
Sie schaute ihn mit den dunklen Augen mahnend an. »Lieber, wir hatten ausgemacht, es darauf ankommen zu lassen. Einen besseren Ort als hier oben gibt es nicht.«
Er sah sich um, dann nickte er bestätigend. Die abseitige Lage und der steile Hang luden geradezu ein, das Vorhaben durchzuführen. Nur ein wenig Geduld war gefragt. In wenigen Minuten würden sie mit ihm allein sein.
»Bist du sicher, dass er kommt? Ich meine, er könnte mit den anderen auch den Bus genommen haben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe dir doch gesagt, sein Name stand nicht auf der Liste.«
Ihr Blick schweifte über die unter ihnen liegende Stadt. Es zogen einige Nebelschwaden herauf. Für die Touristen sicherlich nicht das, was diese sich vom Wetter erhofften. Für ihr Vorhaben kam der Nebel jedoch wie gerufen.
»Er wurde vorhin irgendwo aufgehalten. Wir haben also einen gewissen Vorsprung. Ein Glücksumstand, sonst hättest du die Stufen nicht vor ihm geschafft.«
Obwohl gerade erst siebenundsechzig, war er nicht mehr der Agilste. Die Belastbarkeit hielt sich in gewissen Grenzen.
»Und das Mädchen heute Morgen an seinem Tisch?«
»Ich glaube nicht, dass es zu ihm gehört. Er hat keine Kinder, und für eine Liebschaft ist es zu jung. Das Mädchen wird zufällig an seinem Tisch gesessen haben. Er wird allein sein, wenn er heraufkommt.«
*****
Sie wurden an der Rezeption abgefangen. Die junge Frau am Counter, eine hübsche groß gewachsene Blondine, winkte Wieland heran und teilte ihm mit, die Installation einer neuen Mischbatterie in Kabine 490 würde sich leider verzögern. Deshalb müsse er die Kabine tauschen. Da aber eine gewisse Anzahl freier Kabinen zur Verfügung stehe, könne er eine andere beziehen. Sie überreichte ihm die Schlüsselkarte für Kabine 622.
»Sag mal, Inga, welche Kabinennummer hast eigentlich du?«
»Die 763. Warum?«
Wieland entzifferte den Namen der jungen Frau auf deren Namensschild. »Frau Johannsen, könnte ich vielleicht eine Kabine neben 763 bekommen?«
Die Frau schaute in ihren Computer. »Kein Problem, die 767 ist ebenfalls frei. Sie können selbstverständlich auch diese beziehen.« Sie tauschte die Schlüsselkarten aus.
Inga schaute Wieland schelmisch an und flüsterte ihm zu: »Der Vater sollte immer in der Nähe der Tochter sein, nicht wahr?«
Frau Johannsen wandte sich erneut an Wieland. »Wir bedauern natürlich das Malheur und müssen uns für die Unannehmlichkeiten bei Ihnen entschuldigen.« Ihr Lächeln war herzlich. »Wenn Sie beim Umzug Hilfe benötigen, das Bordpersonal steht Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
Wieland bedankte sich. »Ach, wissen Sie, ich mache das schon allein. Ich werde allerdings erst später umziehen, den Trip hinauf zum Aksla möchte ich auf gar keinen Fall versäumen. Vielleicht hilft mir ja auch meine Tochter.«
»Selbstverständlich, Herr Schrader. Das respektieren wir natürlich. Wir wünschen Ihnen weiterhin eine angenehme Reise.«
Auf dem Weg zur Gangway stieß Inga Wieland in die Seite. »Das ist für die Tochter, Angeber! Übrigens, von der Sache mit der Dusche hast du mir vorhin ja gar nichts erzählt.«
»Einfach deswegen, weil ich nicht geduscht am Frühstückstisch saß. Verstehst du?«
Sie prustete los. »Köstlich! Ich glaube es nicht.«
Wieland hatte eine sogenannte Glückskabine gebucht. Was bedeutete, nicht er hatte sich eine Kabine auswählen können, sondern ihm war an Bord eine beliebige Kabine zugewiesen worden. Der Reisepreis für eine solche Kabine fiel dementsprechend niedriger aus. Nun bekam er für den gleichen Preis eine schöne Außenkabine oben auf Deck 7. Er lächelte hintergründig und machte innerlich einen Luftsprung. Etwas Besseres hätte ihm gar nicht passieren können.
Froh gestimmt machten sich beide auf den Weg in Richtung Stadtpark. Sie hielten sich nur kurz mit Sightseeing auf, um alsbald die Treppe in Angriff zu nehmen, die im Stadtpark ihren Anfangspunkt hatte und deren 418 Stufen hinauf auf den Berg führten.
Als sie etwa ein Viertel der Stufen geschafft hatten, blieben sie stehen und genossen den Ausblick. Die anfangs noch vorhandenen Nebelschwaden wichen langsam einem teilweise blauen Himmel, aus dem die Sonne durch immer größer werdende Wolkenlücken auf sie herab strahlte. Diese tauchte die Jugendstilhäuser unten am Hafen in ein helles, freundliches Licht, sodass die Schatten, welche die Wolken auf die Dächer und Fassaden geworfen hatten, nach und nach verschwanden.
Indem sie Rufe der Begeisterung ausstieß, zwischendurch aber auch in andächtiges Schweigen verfiel, genoss Inga den herrlichen Anblick. Um sie dabei nicht zu stören, blieb Wieland eine Weile stumm. Erst nach gefühlten fünf Minuten holte er sie in die Wirklichkeit zurück.
»Inga, wir müssen weiter, wenn wir nach ganz oben wollen. Die Aussicht von dort ist noch grandioser, das kann ich dir versprechen.«
»Natürlich!« Sie riss sich von dem Anblick los und stieg mit ihm in angemessenem Tempo die Stufen weiter nach oben.
An einer Kehre, etwa in halber Höhe, begegneten sie einem Pärchen, das im Schutz der aufsteigenden Felswand und mehrerer Büsche auf einer Bank saß. Der Mann hatte seinen breitrandigen Hut tief ins Gesicht gezogen, weswegen für Wieland nur die Mundpartie und das Kinn sichtbar waren. Die Frau hingegen erkannte er sofort. Es war jene vom Schiff, die ihm vor einer Stunde aufgefallen war.
»Hallo!« Wieland lüftete höflich seine Mütze. Die Frau lächelte flüchtig. Wieland fand das Lächeln seltsam, es wirkte irgendwie gequält.
Der Mann auf der Bank blieb reglos sitzen. Na ja, sagte sich Wieland, nicht jeder ist ein freundlicher Zeitgenosse. Aber vielleicht hatte der Mann irgendein gesundheitliches Problem und er beurteilte die Situation am Ende falsch. Schon wollte er fragen, ob er behilflich sein könne, hielt beim Blick in das abweisende Gesicht der Frau aber seine Worte zurück.
»Unfreundliche Leute«, sagte Inga, als sie die Stufen weiter nach oben stiegen. Sie konnte nicht einmal sagen warum, doch die Frau war ihr auf Anhieb unsympathisch gewesen. Und das Benehmen des Mannes fand sie irgendwie merkwürdig.
Wieland erwähnte: »Nach unserer Lauferei ist mir die Frau in der Cafeteria über den Weg gelaufen.«
»Ach! Und ich habe sie gesehen, als ich nach dem Saunieren Ansichtskarten kaufen ging. Da sah ich an ihrer Seite auch diesen Mann, derselbe, der vorhin neben ihr auf der Bank saß.«
Man hatte endlich den Aufstieg geschafft. Zwar war Wieland leicht außer Atem geraten und schnaufte, doch der Aufstieg hatte sich wie immer gelohnt. Er führte Inga zur Aussichtsterrasse, die sich auf der Restaurantvorderseite befand.
Sie genossen den Blick über Ålesund und die Inseln, die hinter der Stadt verstreut in der Ferne lagen. Inga fing das herrliche Panorama ein und hörte gar nicht mehr auf zu fotografieren. Erst als Wieland sagte, vom Restaurantinneren sei die Aussicht mindestens genauso schön, wandte sie sich ihm wieder zu.
Im Restaurant fanden sie zu ihrem Leidwesen die ganze Busladung vom Schiff vor. Glücklicherweise war die Ausfluggesellschaft bereits im Aufbruch begriffen. Das Restaurant leerte sich in wenigen Minuten und es kehrte Ruhe ein. Wieland steuerte auf die Fensterfront zu und deutete auf einen der Tische.
»Komm, wir nehmen hier Platz. Von hier haben wir eine wunderbare Aussicht.«
Sie bestellten zwei Milchkaffees, ein Stück Apfelkuchen und einen Keks. Letzteren für Inga, die meinte, zu viele Kalorien täten ihr nicht gut.
Die Aussicht war wirklich fantastisch. Ålesund zeigte sich von der schönsten Seite.
»Den Blick auf die Stadt und über die Inseln zu beschreiben, würde mir äußerst schwer fallen«, sagte Inga. »Mir würden einfach die Worte fehlen. Der Ausblick ist gewaltig. Ich könnte eine ganze Stunde so dasitzen und nur schauen.«
Dankbarkeit erfasste sie. Nach einer Minute des Schweigens sah sie ihm in die Augen: »Wieland, ich bin ja so froh, dass du mir das alles hier zeigst.«
Nicht eben passend zu Ingas emotionaler Äußerung musste Wieland an das Schiffsunglück vom September denken. Er sah vor seinem geistigen Auge die havarierte Nordlys unten am Kai liegen. Kurz vor Ålesund war auf dem Hurtigruten-Schiff die Maschine ausgefallen. Die Folge dessen war, dass man das Hurtigruten-Schiff zur Außenmole des Hafens schleppen musste. Er kam nicht umhin, Inga davon zu berichten.
»Weswegen ist denn das Schiff havariert?«
»Wegen eines Brandes im Maschinenhaus. Das Schiff ist knapp einer Katastrophe entgangen. Zwei Besatzungsmitglieder sind durch den Brand umgekommen und es gab Rauchvergiftungen. Zeitungsberichten zufolge hat die Besatzung durch ihr professionelles Verhalten aber Schlimmeres verhindert.«
»Wie konnte es zu dem Brand kommen?«
»Ich kenne es auch nur aus Zeitungsberichten. Es soll an einer nicht richtig befestigten Kraftstoffpumpe, die man zuvor neu eingebaut hatte, gelegen haben. Es sei unkontrolliert Kraftstoff ausgelaufen, der sich dann an den heißen Maschinenteilen entzündete.«
Inga riss die Augen auf. »Schrecklich! Kann so was auch auf unserem Schiff passieren?«
»Bestimmt nicht«, beruhigte Wieland. »Die Hurtigruten-Schiffe haben einen enorm hohen Sicherheitsstandard. Es ist wahrscheinlich, dass nach dem Unglück alle Schiffe noch mal untersucht wurden. Du musst also keine Bedenken haben.«
Der Wirt der Fjellstua trat an den Tisch, um das Geschirr abzuräumen. Offenbar hatte er Wielands Worte vernommen. Er nickte bedeutungsschwer und wies aus dem Fenster.
»Die Innenstadt musste wegen der enormen Rauchentwicklung zeitweise evakuiert werden. Ich konnte von hier oben alles beobachten, auch die Schieflage des Schiffes.«
»Es gab einen Wassereinbruch«, bestätigte Wieland.
Inga hielt die Hand vor den Mund. »Das hört sich ja schlimm an. Was ist denn noch alles passiert?«
Der Wirt deutete in Richtung des Fjordes. »Nun, durch den Einsatz von Pumpen und mithilfe eines Kranes konnte die Nordlys stabilisiert werden. Jetzt liegt sie hinten in Sula in der Fiskerstrand-Werft.«
»Danke für die Erläuterungen«, sagte Wieland und gab dem Wirt die Hand.
»Mich beeindruckt das immer wieder«, sagte Inga. »Viele Norweger sprechen deutsch, man fühlt sich deswegen gar nicht so sehr als Ausländer, eher schon, als gehöre man dazu.«
Sie verabschiedete sich und folgte Wieland. Es ging die gleichen 418 Stufen hinab, die hinauf geführt hatten. Der Abstieg vollzog sich in einem rascheren Tempo. Schon nach zehn Minuten erreichten sie das Stadtzentrum. Sie hatten fast noch eine Stunde, um sich in Ruhe umzuschauen. Inga interessierte sich in erster Linie für die Jugendstilhäuser auf der anderen Seite des Hafens und auch für die Kirche, deren Turm die Hausdächer überragte. Wieland sah sich erneut in der Pflicht, die Rolle des Fremdenführers zu übernehmen.
Der Weg führte sie vorbei an den schönen Jugendstilhäusern bis zum Apotheker Torget, von dort weiter die leicht ansteigende Kirke Gata hinauf zur Ålesund Kirche. Von Weitem schon sahen sie die Menschenansammlung. Es war Sonnabend und der Tag, an dem Hochzeitsfeierlichkeiten stattfanden. Inga und Wieland bekamen somit die Gelegenheit, sich ein Bild von einer hiesigen kirchlichen Hochzeit zu machen, wenn auch die eigentliche Trauung bereits vorüber war. Sie erreichten in dem Moment die Kirche, als ein Teil der Hochzeitsgesellschaft sich vor dem Portal für die Erinnerungsfotos versammelte.
Die Gesellschaft, die sich für den Fotografen vor dem Kirchenportal aufbaute, bestand aus etwa fünfundzwanzig Personen, augenscheinlich dem engeren Familienkreis des jungen Brautpaares. Auch vier kleinere Kinder befanden sich darunter, sowie ein Baby, welches von einer großgewachsenen Frau in weißer Bluse und blauem langen Rock im Arm gehalten wurde. Die Männer trugen ohne Ausnahme dunkle Anzüge, während einige der Frauen in farbenfrohe Trachten gekleidet waren.
»Inga, wie ich sehe, bewunderst du die Trachten der Frauen«, sagte Wieland.
Die Trachten hatten es Inga derart angetan, dass sie sich daran gar nicht sattsehen konnte. Verträumt sagte sie: »Ja, sind sie nicht wunderschön?«
»Sie sind wirklich schön anzusehen, da muss ich dir zustimmen. Es scheint unterschiedliche Trachten zu geben, kaum eine gleicht im Aussehen und in der Farbgebung der anderen.«
Eine ältere Dame mit silberweißem Haar, die mit ihnen zusammen nahe des Denkmals stand, das man zum Gedenken an die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges an der Kirchhofsmauer errichtet hatte, und die ebenso die Hochzeitsgesellschaft mit einem gewissen Interesse betrachtete, sagte in gut verständlichem Deutsch: »Das unterschiedliche Aussehen der Bunaden, wie die Trachten auf Norwegisch heißen, hat wenig mit Mode zu tun, sondern folgt im Wesentlichen der Tradition. Es gibt regionale Unterschiede, denn jede Region hat ihre Bunad. Die meisten Bunaden leiten ihren Namen von der Region ab, aus der sie stammen.«
Inga wandte sich der Frau zu. »Somit gibt es für Ålesund eine eigene Bunad?«
»Nein, die Ålesund-Kommune, die zu Sunnmøre, der südlichsten Küstenregion der Provinz Møre og Romsdal gehört, hat keine spezielle Bunad hervorgebracht. Es gibt hingegen Sunnmøre-Bunaden, Nordmøre-Bunaden oder Romsdal-Bunaden. Zur Küstenregion Sunnmøre gehören neben Ålesund auch die Kommunen Sula und Ulstein. Ich nehme an, Sie fahren mit dem Postschiff und haben diese Namen schon einmal gehört.«
»Ja«, sagte Wieland. »Von Sula haben wir im Zusammenhang mit der verunglückten Nordlys gehört. Das Schiff war doch dort in der Werft, nicht wahr?«
»Richtig, ein tragischer Unglücksfall.«
Inga deutete auf eine junge Frau in der vordersten Reihe der vor dem Kirchenportal stehenden Hochzeitsgesellschaft. Deren Bunad bestand aus einer weißen Bluse, die am Halsansatz durch eine große Silberbrosche zusammengehalten wurde, einem schwarzen Mieder, verziert mit Stickereien aus verschiedenen Rottönen und dem langen gleichfarbigen Faltenrock. Unter dem Rock waren gerade noch ein paar schwarze Strümpfe erkennbar.
»Aus welcher Region stammt diese Bunad dort?«
Die Frau lächelte. »Nun, ich kenne auch nicht alle Bunaden. Man sagt, es gibt circa zweihundert verschiedene. Doch diese, das kann ich mit Sicherheit sagen, ist eine Sunnmøre-Bunad, also eine aus unserer Region.«
»Und die Bunad, die von dem Mädchen da vorn getragen wird? Die mit dem roten Mieder, das mit Stickereien besetzt ist, welche wohl Schneekristalle symbolisieren?«
»Oh … da bin ich mir nicht ganz sicher.« Die Norwegerin überlegte einen Moment. »Die Bunad könnte eventuell aus Hordaland stammen. Die Hauptstadt der Provinz ist Bergen. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass das Mädchen unverheiratet ist.«
»Kennen Sie es denn?«, fragte Inga neugierig.
»Aber, nein!« Die Norwegerin lachte. »Ich erkenne das an den roten Strümpfen.«
Wieland kombinierte. »Also tragen verheiratete Frauen schwarze und unverheiratete rote Strümpfe, richtig?«
»So ist es«, bestätigte die ältere Dame.
»Mein Vater ist ein schlauer Fuchs.« Inga warf Wieland einen schelmischen Blick zu.
Der schaute Inga mit einer vielsagenden Miene an und stieß sie leicht in die Seite. Er fand, sie übertrieb. Der netten Norwegerin die Tochter vorzuspielen, das musste nicht sein. Es genügte völlig, wenn sie es auf dem Schiff machte.
Inga tat so, als hätte sie seinen mahnenden Blick nicht bemerkt. »Nur gut, dass die Sonne scheint und die Temperaturen angenehm sind, so können wir die Trachten in ihrer vollen Pracht bewundern. Stellt euch mal vor, es würde regnen, das wäre doch eine Katastrophe, oder?«
Ihr Interesse galt nun auch dem Brautpaar. Sie betrachtete es mit unverhohlener Neugier, wobei in ihr Gesicht dieser undefinierbare Ausdruck zurückkehrte, der Wieland schon in Bergen aufgefallen war, als in Bryggen diese Mädchen in ihren Schwesterntrachten den Abschied ihrer Freundin von deren Mädchendasein feierten. Irgendetwas beschäftigte Inga. Sie schien beim Anblick des Brautpaares an etwas erinnert zu werden, was sie stark berührte. Wieland machte sich erneut so seine Gedanken.
Das Brautpaar, sie in einem langen weißen Kleid, seitlich ins Haar gestecktem Schleier und einem Blumenstrauß in der Hand, er im dunklen Einreiher mit heller Weste und silberfarbenem Binder, machte einen glücklichen Eindruck. Es lächelte in die Kamera. Aber man sah den frisch Vermählten trotz des Lächelns an, wie ergriffen sie waren.
Inga schien sich an dem Brautpaar nicht sattsehen zu können. Nur langsam löste sich ihr Blick von dem schmucken Paar. Erst als der Fotograf mit seiner Arbeit fertig war und die Gesellschaft am Portal sich auflöste, kehrte die Unbekümmertheit in Ingas Gesicht zurück.
»Wann trägt man eigentlich eine Bunad?«, wollte Wieland von der älteren Dame wissen, auch um Inga aus ihren Gedanken zu reißen.
»Zu Hochzeiten wie dieser hier, zu Taufen, Feierlichkeiten und natürlich zum Nationalfeiertag am 17. Mai. Ich sehe, Sie sind sehr interessiert. Gibt es nicht auch in Deutschland Trachten?«
Inga kam Wieland zuvor. »Ja, schon. Wir beide kommen aber aus einem Landstrich, wo es solche Traditionen kaum gibt. Was mich noch interessieren würde, wo bekommt man eine Bunad und was kostet eine solche eigentlich? Und … wenn ich fragen darf, wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?«
Die Norwegerin lachte. Sie schritt mit ihnen die Straße in Richtung Hafen hinunter. »Mein Deutsch habe ich in der Schule gelernt. Offensichtlich war ich eine fleißige Schülerin.«
Inga schaute sie bewundernd an. »Ich habe schon vorhin auf dem Aksla gesagt, ich bin begeistert, wie viele Norweger unsere Sprache sprechen.«
»Nun ja.« Das aparte Gesicht der älteren Dame legte sich in feine Falten. »Wir Norweger haben schließlich eine Vergangenheit, die uns mit Deutschland konfrontierte. Ich will Sie als Vertreter einer jüngeren Generation aber nicht mit den alten Geschichten belasten, dazu ist der Krieg viel zu lange her. Freuen wir uns doch, wie gut sich unsere Völker heute verstehen.«
»Es tut gut, so etwas aus dem Mund einer so netten Dame, wie Sie es sind, zu hören«, sagte Wieland und erwiderte mit Herzlichkeit den Abschiedsgruß der Norwegerin, die ihnen beide Hände hinhielt und freundlich lächelte.
Auf dem Weg zum Schiff sagte Inga: »Die alte Dame ist nun gar nicht dazu gekommen mir die Frage zu beantworten, wo man eine Bunad kaufen kann und was eine solche kostet. Oder werden diese etwa in Handarbeit selbst geschneidert?«
»Darauf werden wir im Laufe unserer Reise sicherlich eine Antwort erhalten«, tröstete Wieland. »Ich kann mir auch gut vorstellen, dass man uns in den Husfliden-Läden dazu etwas sagen kann.«
»Was bedeutet Husfliden?«, wollte Inga wissen.
»Husfliden nennt sich eine Vereinigung norwegischer Handwerker. Das Wort Husflid bedeutet so viel wie Heimkunst. Die Handwerker verkaufen ihre Produkte zudem in einer eigenen Handelskette. Du wirst somit in vielen Orten solche Geschäfte finden. Vielleicht ist dir in Bergen ja Bryggen Husflid aufgefallen, wo es die handgestrickten Norwegerpullover gab?«
Inga erinnerte sich. »Das Geschäft in dem schmalen roten Holzhaus in Bryggen, nicht wahr?«,
»Genau! Du hast ein gutes Gedächtnis.«
»Großmutter sagt, ich hätte ein fantastisches Gedächtnis. Vielleicht stimmt das sogar. Was ich einmal gelesen oder gesehen habe, das vergesse ich nicht so schnell. Deshalb fällt mir das Lernen überhaupt nicht schwer. Und im Übrigen, ich habe auch einen guten Orientierungssinn.«
»Na, wenn das so ist, dann führe uns mal ganz schnell zum Schiff zurück. Wir müssen uns beeilen.«
»No Problem!«, sagte Inga und bog links in die Straße ein, die nach Wielands Kenntnis auf kürzestem Weg zum Hafen führte. Was bewies, dass das Mädchen nicht geflunkert hatte.
Sie schafften es rechtzeitig zum Klavierkonzert. Eilif B. Løtveit hatte mit der Einleitung eben erst begonnen. Er stimmte die Zuhörer, die sich zahlreich im Panoramasalon versammelt hatten, auf Norwegisch und Deutsch auf den Musikevent ein. In seiner Eigenschaft als Musikkonsulent des Edvard-Grieg-Museums in Bergen und anerkannter Grieg-Experte sprach er zum Thema – Edvard Grieg als Mensch und Künstler – die Einführungsworte. Im Plauderton wob er manche Anekdote aus dem Leben des Komponisten ein.
Der Pianist, ein Mann mit energischem Kinn und lockigem grau melierten Haar, referierte den ersten Programmpunkt auf Englisch. Danach setzte er sich an den Flügel und griff mit großer Geste in die Tasten. Es wurde still im Salon. Leise und gefühlvoll erklangen die Auftaktakkorde zu »Hochzeitstag auf Trollhaugen«.
*****
Man hatte lange darüber diskutiert, was eigentlich schief gelaufen war. Sie gestand ihre Fehleinschätzung ein, denn wie sie auf dem Berg erkennen musste, schien er doch mit dem Mädchen verbandelt zu sein. Die Frage war nur, auf welche Weise?
»Gut, ich habe mich geirrt«, gab sie widerwillig zu. »Es war ein Fehler, einen zweiten wird es nicht mehr geben.«
»Was schlägst du also vor?«
»Wir müssen herausfinden, was er vorhat. Es kann doch kein Zufall sein, dass Schrader an Bord ist. Es steckt mit hundertprozentiger Sicherheit eine Absicht dahinter.«
Er schaute sie mit müden Augen an. »Und, was hast du dir vorgestellt?«
Sie lächelte hintergründig. »Ich habe vor dem Frühstück an der Rezeption seine Kabinennummer erfragt. Das dumme Mädchen hat mir die Geschichte, die ich auftischte, ohne Weiteres abgenommen und gezwitschert wie ein Singvögelchen. Dann habe ich am Vormittag nach seiner Kabine gesehen und in der Dusche jemand hantieren gehört. In dem Kartenschlüsselhalter neben der Tür steckte eine Karte, wahrscheinlich die, welche die Person, die sich in der Dusche zu schaffen machte, dort hineingesteckt hatte. Die Person wird die Karte nun vermissen.«
Er kam nicht umhin, ihr seine Bewunderung auszudrücken. »Du bist eine raffinierte Person!«
Doch er wollte nicht den Eindruck erwecken, als überließe er ihr das Feld. Es lag schließlich zu allererst in seinem Interesse, das Problem einer Lösung zuzuführen. »Marion, ich schätze deine Ideen. Doch es ist meine Sache zu entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Ich möchte nicht, dass wir wieder im Nebel stochern.«
»Ach, Richard! Du bist doch auf mich angewiesen, das weißt du. Und ich hatte bisher immer die besseren Ideen. Erinnere dich nur an den Fall Michaelis. Am Ende ist doch alles so gelaufen, wie du es wolltest.«
Er schaute sie mit einem verlorenen Lächeln an. Was sie sagte, war nicht von der Hand zu weisen. Ohne sie war er beinahe hilflos. Es war nur verdammt schwer, sich das ständig vor Augen führen zu müssen. Aber Marion war seine Stütze. Wie sie ihm Michaelis vom Hals geschafft hatte, das war wirklich beeindruckend gewesen.
»Also, was schlägst du vor, Marion?«, fragte er mit matter Stimme.
»Wir werden seiner Kabine einen Besuch abstatten. Er ist mit dem Mädchen in diesem Konzert. Eine sehr gute Gelegenheit. Es wird schnell gehen, mehr als einen Koffer wird er nicht dabei haben. Vielleicht finden wir einen Hinweis, was seine Anwesenheit auf dem Schiff erklärt. Es muss einen Grund geben. Ich vermute nach wie vor, er will unsere Existenz zerstören. Richard, wenn dir das Mädchen mal allein unter die Finger gerät, versuche bitte herauszubekommen, in welchem Verhältnis sie zu ihm steht, du weißt schon. Es wäre schon wichtig, das zu wissen.«
*****
Das Konzert endete mit dem Zug der Zwerge. Rune Alver blieb nach dem letzten leise verhallenden Ton einen Moment lang reglos sitzen, ehe er sich erhob, um mit einer tiefen Verbeugung den Beifall der Zuhörer entgegen zu nehmen.
Inga klatschte begeistert. »Ich bin zwar kein ausgesprochener Grieg-Fan, aber hier an Bord und dazu noch mit dieser Sicht auf die See und die Berge, da bleibt einem doch gar nichts anderes übrig, als ins Schwärmen zu geraten. Es ist einfach wundervoll!«
Wieland ging es ähnlich. Auch er hatte die letzte Stunde sehr genossen. Die Musik passte wie keine zweite zu der grandiosen Landschaft, die an ihrem Schiff vorüberzog. Er freute sich bereits auf das Konzert am nächsten Tag.
»Ich glaube, ich werde erst einmal umziehen«, riss er Inga aus ihrer Schwärmerei.
»Ich helfe dir natürlich.«
Gemeinsam stiegen sie hinab auf Deck 4 und folgten dem langen, schmalen Gang, der zu seiner Kabine führte. Er öffnete mit der Schlüsselkarte die Zugangstür.
Schon beim Eintreten hatte er das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Weshalb konnte er nicht sagen. Aber da war etwas, was die Alarmsensoren im Gehirn aktivierte. Sie meldeten ihm, pass auf, hier erwartet dich etwas.
Inga bemerkte die Spannung in seinem Gesicht. »Ist irgendwas?«
Wieland nickte. Seine Blicke strichen langsam über das Mobiliar und richteten sich schließlich auf den Garderobenschrank auf der rechten Seite. Eine Tür stand halb offen. Er zögerte einen Moment. Dann öffnete er die Tür ganz, warf einen Blick ins Innere und zeigte dorthin, wo auf einem Kleiderbügel sein Anorak hing.
»Ich könnte schwören, ich hätte ihn nicht auf diesen Bügel hier gehängt, sondern auf den daneben … Außerdem bin ich mir sicher, dass die Tür geschlossen war, als ich ging.«
Inga schaute ihn verwundert an. »Also, ich würde mir nie merken können, wo ich was hingehängt habe und welche Tür zu war oder nicht. Da streikt mein fotografisches Gedächtnis. Denkst du etwa, es hat sich jemand an deinen Sachen zu schaffen gemacht?«
»Ich bin mir fast sicher. Am besten, ich schaue mal in die Taschen und auch in den Koffer.«
Inga setzte sich auf die Couch, die parallel zur Bordwand unter dem Bullauge stand. Sie schaute zu, wie er die Seitentaschen des Anoraks leerte.
Wieland schüttelte den Kopf, alles schien vorhanden zu sein. Nicht anders verhielt es sich mit den Innentaschen. »Es fehlt nichts. Mit dem Inhalt des Anoraks ist alles in Ordnung. Also schauen wir mal in den Koffer.«
Während er den Koffer aufs Bett bugsierte, angelte Inga einen Labello-Stift aus ihrer Umhängetasche und bearbeitete ihre trockenen Lippen. Damit fertig stand sie auf und warf einen Blick ins Bad.
»Die Mischbatterie in der Duschkabine fehlt«, stellte sie fest. »Auf den Anschlüssen sind nur Pfropfen drauf.«
Wieland nahm ihre Bemerkung kaum wahr. Rasch öffnete er den Kofferdeckel. Auf den ersten Blick schien es so, als würde sich alles an seinem Platz befinden. Auch der Fotoapparat. Den hatte er vor dem Konzertbesuch sicherheitshalber im Koffer verwahrt. Wieland nahm ihn heraus und schaltete auf Betrieb. Er wählte die Funktion Bilder anschauen. Auf dem Display erschien eine Aufnahme von Eva, also eine, die er vor Längerem gemacht hatte. Er scrollte durch die Aufnahmen, mal vor und mal zurück. Egal, in welche Richtung er scrollte, das Ergebnis blieb immer gleich.
»Merkwürdig! Inga, es fehlen zwei, drei Aufnahmen von denen, die ich gestern erst gemacht habe. Bilder, als wir in Bryggen waren. Merkwürdig, die habe ich doch nicht etwa gelöscht? Nein, das habe ich sicherlich nicht. Das ist unmöglich! Außerdem dürfte das Bild von Eva nicht erscheinen, wenn ich den Fotoapparat anschalte.«
Wieland dachte einen Moment nach. Dann schaute er Inga an und sagte im Brustton der Überzeugung: »Inga, da war jemand an meinem Koffer!«
»War der Koffer denn verschlossen?«
»Sicher! Ich verlasse niemals die Kabine, ohne ihn abzuschließen.«
Inga stand auf und schaute sich die Schlösser am Koffer an.
»Richtig altmodisch … Der hat ja noch Schlösser, für die man so winzig kleine Schlüssel benötigt. Sag mal, wie alt ist eigentlich der Koffer?«
Wieland verzog das Gesicht. »Vielleicht zwanzig Jahre, der hat mich auf fast all meinen Reisen begleitet. Und passiert ist nie was.«
»Meiner hat ein Zahlenschloss, das kann keiner ohne Weiteres knacken. Aber die Schlösser da, die kann ich mit einer Haarspange öffnen. Wollen wir wetten?«
Sie griff in ihre Umhängetasche, wühlte darin herum und förderte nach einer Minute angestrengten Suchens eine Haarspange zutage.
»Gib mir bitte mal die Schlüssel.«
Wieland tat ihr den Gefallen. Inga verschloss damit den Koffer. »Da wollen wir doch mal sehen …«
Sie fingerte mit der Haarspange in einem der Schlösser herum. Es dauerte keine drei Sekunden, da machte es Klick und der Überwurf sprang auf.
Wieland staunte. »Eine beeindruckende Vorführung. Inga, wo lernt man denn diese Tricks?«
»Ich kenne da jemanden …«, sagte sie ausweichend.
»So … ? Deine Vorführung ist aber kein Beweis dafür, dass tatsächlich jemand den Koffer auf diese Art geknackt hat. Das ist nur eine Vermutung, mehr nicht. Für mich steht lediglich fest, dass der Koffer geöffnet wurde, auf welche Weise auch immer.«
Einen Moment lang schien Wieland ratlos zu sein.
»Was willst du also tun?«, fragte Inga.
»Darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. Der einzige Beweis wären die gelöschten Aufnahmen. Dem Schiffspersonal allerdings verständlich zu machen, dieser Tathergang sei das Motiv für den Einbruch gewesen, würde mir äußerst schwer fallen. Ich vermute, man würde mir sowieso nicht glauben. Ich werde also nichts tun.«
»Ist wohl das Beste so«, pflichtete ihm Inga bei. »Da du ohnehin in die andere Kabine umziehst, besteht vielleicht nicht mehr die Gefahr, von dem Einbrecher belästigt zu werden. Trotzdem, Wieland, in der nächstgrößeren Stadt kaufen wir für dich einen neuen Koffer, okay?«
Wieland war angetan von ihrem Sinn fürs Praktische. Er lächelte Inga zu. »Die berühmte weibliche Fürsorge …«
»Na, wenn du nicht selber drauf kommst!«
Die nächste große Stadt würde Trondheim sein. Molde, das sie am Abend anliefen, schien ihm wegen des nicht allzu langen Aufenthaltes keine gute Wahl zu sein. Eine Stunde für eine Einkaufstour war einfach zu knapp bemessen. Sein Koffer musste also bis morgen noch seinen Dienst tun. Er packte das Gepäckstück und rollte es aus der Kabine, gefolgt von Inga, die die Tür hinter sich zuschnappen ließ.
In der neuen Kabine räumte Wieland den Koffer aus und verstaute einen Großteil der Kleidung im Schrank. Dann duschte er ausgiebig. Anschließend zog er frische Unterwäsche und ein anderes Hemd an.
Als Wieland eine halbe Stunde später Deck 6 betrat, entdeckte er Inga, die mittschiffs an der Reling stand und sich angeregt mit einem Schiffsoffizier unterhielt. Das Gespräch schien sich um die über ihren Köpfen hängenden Rettungsboote zu drehen, denn der Offizier zeigte mit der Hand mehrmals hinauf.
Als Inga Wieland erblickte, verabschiedete sie sich von dem Offizier und lief ihm entgegen.
»Es gibt ja so vieles, was ich nicht weiß«, sagte sie. »Wieland, stell dir vor, in so ein Boot passen hundertfünfzig Passagiere. Wenn man die insgesamt vier Boote betrachtet und dazu noch die Rettungsinseln, dann kann uns wirklich nichts passieren. Außerdem, der Offizier weiß ja wohl, wovon er spricht. Er ist nämlich der Safety Officer, also derjenige, der für die Sicherheit auf dem Schiff und die Koordinierung der eventuell notwendigen Rettungsmaßnahmen verantwortlich ist. Mich beruhigt außerdem, dass alle Offiziere an Bord Norweger sind. Da gibt es keinerlei Sprachprobleme.«
»Genau!«, pflichtete Wieland bei. »Das macht den Unterschied zu manchem Kreuzfahrtschiff aus. Da kommt es schon mal vor, dass Offiziere verschiedene Sprachen sprechen. Ob die im Ernstfall und unter Druck immer alle Anweisungen des Kapitäns verstehen, ist zu bezweifeln.«
»Da können wir hier ja von Glück reden.«
»Vielleicht nicht von Glück, das System auf den Hurtigruten ist einfach ein anderes. Das ist auch ein Grund, weshalb viele Reisen nicht unbedingt ein Schnäppchen sind. Sicherheit und Qualität haben eben ihren Preis.«
Inga stimmte zu. »Ja, das muss wohl so sein. Ist auch irgendwie verständlich.«
»Mal `ne Frage, Inga. Wie hast du dich denn mit dem Offizier verständigt?«
»Wir haben uns auf Italienisch unterhalten.«
Wieland glaubte, sich verhört zu haben. »Italienisch?«
»Ja, hatte ich dir vergessen zu erzählen, dass ich neben dem Studium noch Italienisch lerne?«
»Das hast du! Aber was ist mit dem Offizier?«
Inga nahm Wieland beim Arm und lotste ihn hinunter auf Deck 5, wo sie in der Cafeteria ein freies Plätzchen fanden. Wieland holte für sie beide einen Cappuccino.
»Also, der Offizier«, nahm Inga den Faden auf, »er heißt übrigens Anders Stjernen, hat sein Italienisch auf einem Kreuzfahrtschiff gelernt. Auf einer Costa-Dingsbums, oder wie der Pott hieß. Da hat es ihm aber nicht besonders gefallen und er ist wieder zurück nach Norwegen. Wenigstens hat er die Sprache erlernt. Und da ich inzwischen ganz gut Italienisch spreche, haben wir uns eben auf Italienisch verständigt. So einfach ist das.«
Es offenbarten sich ungeahnte Talente. Wieland war jedenfalls beeindruckt.
*****
Sie waren für die erste Sitzung um 18.30 Uhr eingeteilt. Wieder trafen sie sich vor dem Bordrestaurant. Dieses Mal war Wieland vor Inga da. Ihm war ein bisschen seltsam zumute. Er musste an die geplante Vater-Tochter-Inszenierung denken.
Er sah Inga inmitten anderer Passagiere den Gang entlang kommen. Sie trug Stiefeletten mit halbhohen Absätzen, die schlanken Beine steckten in schwarzen gemusterten Strumpfhosen. Ihr schwarzer, leicht ausgestellter Rock endete zwei Handbreit über dem Knie. Was er sah, bescherte ihm ein Aha-Erlebnis, gleichzeitig beunruhigte es ihn ein wenig.
Als sie näher trat und sich wie selbstverständlich bei ihm unterhakte, registrierte er weitere Details ihres Outfits. Inga trug einen schwarzen ärmellosen Rollkragenpullover, der von einer Bernsteinkette geschmückt wurde. Die Haare hatte Inga aufgesteckt, und hinten drapierte eine schwarze Samtschleife das Haargeflecht.
Wieland flüsterte Inga zu: »Töchterchen, musstest du dich so aufpeppen? Ich fürchte, du erregst damit nur unnötiges Aufsehen.«
»Wieso, gefalle ich dir nicht?«
»Natürlich gefällst du mir. Ich frage mich allerdings, welche Reaktionen du an unserem Tisch hervorrufen wirst.«
Sie schritten durch das recht gut gefüllte Restaurant und hielten Ausschau nach Tisch 58. Sie fanden den Tisch weiter hinten nahe der mittig im Raum platzierten ovalen Buffetanlage. Das Küchenpersonal benutzte diese, um die Speisen, die man auf Platten und Kasserollen aus der Küche herangeschafft hatte, auf die Teller zu verteilen. Im Moment war man dabei, die Vorspeisenteller herzurichten.
Drei Passagiere saßen bereits am Tisch, eine ältere Frau und zwei Männer unterschiedlichen Alters. Wieland trat heran und stellte sich und Inga wie abgesprochen vor.
»Guten Abend! Wir wurden diesem Tisch zugeteilt. Mein Name ist Schrader und das hier … das ist meine Tochter.«
Die Frau, oder besser gesagt ältere Dame, sagte kurz und knapp: »Mecklenburg, angenehm.«
Sie bedachte Inga mit einem langen, vielsagenden Blick. Wieland dagegen wurde mit einem äußerst kurzen bedacht.
Der Passagier links von der Dame, ein älterer Herr mit weißem Haar sowie Schnur- und Kinnbart, lächelte freundlich.
»Herbert Langenstein, schönen guten Abend. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich sitzen bleibe.« Er deutete auf den Stock, der an seinem Stuhl lehnte, und hob mit Bedauern seine Hände.
Der andere, ein Mann Ende dreißig mit über der Stirn gelichtetem Haar, erhob sich und bot Inga eilfertig einen Stuhl an. Sich ihr zuwendend, sagte er: »Bitteschön, Fräulein Schrader!«
Und anschließend zu Wieland: »Ich bin Dietmar Wollenweber aus München. Sehr erfreut!«
Inga lächelte und setzte sich. Wieland nahm rechts neben ihr Platz.
»Damit es nicht zu Missverständnissen kommt, mein Nachname ist Dornbusch, so wie das Gestrüpp, an dem man sich so arg wehtun kann.« Inga schaute in die Runde, als wollte sie sich überzeugen, ob ein jeder die Richtigstellung verstanden habe. Anschließend richtete sie ihren Blick auf die ältere Dame. »Und Sie kommen aus Mecklenburg?«
Wieland wagte nicht, in Ingas Gesicht zu schauen. Ihre Frage schien eine Retourkutsche auf den Blick zu sein, mit welchem die Frau sie eingangs bedacht hatte. Er unterdrückte nur mühsam ein Grinsen.
Die Körperhaltung der Angesprochenen versteifte sich. »Da haben Sie sich verhört, junge Frau. Mein Name ist Mecklenburg. Frau Mecklenburg! Wenn Sie sich das bitte merken könnten!«
Inga machte eine entschuldigende Geste. »Selbstverständlich, Frau Mecklenburg!«
»Ich nehme an, Frau Dornbusch, Sie sind verheiratet?«, erkundigte sich Dietmar Wollenweber. »Ich frage deshalb, weil man mir gesagt hat, dieser Tisch sei nur für Alleinreisende reserviert. Entschuldigung, so habe ich das jedenfalls verstanden.«
Inga sah ihm geradewegs in die Augen. »Ich bin geschieden, Herr Wollenweber. Letztes Jahr. Und nun ist Papa der Mann an meiner Seite.«
Wieland, der sich am Gespräch bisher nicht beteiligt hatte, strich sich über den Dreitagebart und rückte die Brille zurecht. »Meine Tochter hatte den unbedingten Wunsch, mal mit auf die Hurtigrute zu kommen.«
»Ach!«, sagte Langenstein. »Gehe ich richtig in der Annahme, Sie sind schon öfters gefahren?«
Wieland nickte bestätigend. »Schon mehrfach, ich liebe den Norden. «
»Dann können Sie uns ja in Bezug auf die Ausflugsziele ein paar Tipps geben. Ich würde mich darüber freuen.«
»Gerne! In Trondheim kann ich Ihnen einen Stadtrundgang empfehlen, dabei sollte die Besichtigung des Nidaros-Doms nicht fehlen. Ich werde mit meiner Tochter ebenfalls zum Dom kommen, zuvor jedoch die Festung Kristiansten besichtigen. Von dort oben hat man eine wunderbare Aussicht über die Stadt. Kommen Sie doch einfach mit.«
»Die Festung werde ich mir schenken müssen …« Langenstein deutete erneut auf seinen Stock. »Ein kleine Verstauchung, nichts von Bedeutung. Es wird von Tag zu Tag besser.«
»Wo ist eigentlich die sechste Person?«, fragte Inga in die Runde. »Es stehen doch sechs Gedecke auf dem Tisch.«
Ehe jemand antworten konnte, wurden die Vorspeisenteller serviert, was die Aufmerksamkeit aller beanspruchte.
»Oh, Klippfischbolhinos, ein wahrer Genuss!« Inga strahlte, als wäre es ihre Leibspeise.
Frau Mecklenburgs Miene schien in etwa auszudrücken, Kindchen, du wirst doch nicht etwa sagen wollen, dass du weißt, was Bolhinhos sind. Sie verzog den Mund zu einem minimalen Lächeln. Dann nahm sie mit spitzen Fingern das Vorspeisenbesteck in die Hand.
Wielands Sensoren schalteten auf Alarm. Er ahnte, zwischen der vornehm tuenden Dame und Inga würde es irgendwann krachen. Freundinnen fürs Leben würden die beiden wohl nicht werden. Darauf wettete er.
»Entschuldigung!« Eine etwas blass aussehende Dame mittleren Alters trat an den Tisch. »Der Seegang hat mir ein wenig zu schaffen gemacht. Deshalb meine Verspätung. Nun hat der ja Gott sei Dank nachgelassen. Ach ja, ich bin Annegret May, und wie ich sehe, die letzte fehlende Person an diesem Tisch. Einen schönen guten Abend allerseits.«
Annegret May nahm zwischen Herrn Langenstein und Wieland Platz.
Langenstein sagte: »Schön, dann sind wir ja komplett. Drei Damen und drei Herren, das passt ja wunderbar.«
Die Dame Mecklenburg bedachte ihn mit einem gezwungenen Lächeln. Für Wieland ein Zeichen, dass diese sich in der Runde nicht unbedingt wohlfühlte. Sie machte auch keinerlei Anstalten, irgendein Gespräch führen zu wollen. Sie thronte nach wie vor in kerzengrader Haltung auf dem Stuhl und schien völlig desinteressiert zu sein. Mit der hochgeschlossenen hellbeigen Seidenbluse, der Porzellanbrosche unter dem steifen Kragen und der strengen Frisur ähnelte sie einer Gouvernante, so wie man sie in uralten Filmen zu sehen bekommt. Wieland stellte fest, sie hatte das Frau ausdrücklich betont. Er fand allerdings, die Bezeichnung Fräulein würde eher passen.
Der Hauptgang folgte, Hühnchen Livéche.
Frau Mecklenburg richtete ihren Blick auf Inga, als erwarte sie, dass sich diese auch hierzu äußern würde. Inga tat so, als bemerkte sie den Blick nicht.
Wieland stieß Inga unter dem Tisch leicht an, was diese als Aufforderung verstand, der Dame Mecklenburg mit ein paar Worten den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Inga kostete von dem Hühnchen, ehe sie das Wort ergriff. »Superb! Sehr zart das Hühnchen. Mit Liebstöckel verfeinert. Vorzüglicher Geschmack. Ich verwende manchmal auch Selleriekraut, ist mir fast lieber.« Inga hatte es leichthin gesagt, so als stünde Hühnchen Livéche täglich auf ihrem Speiseplan.
Wollenweber, der links neben Inga saß und ihr an den Lippen hing, sagte anerkennend: »Da spricht die Meisterköchin!«
Die Dame Mecklenburg bekam urplötzlich Schluckprobleme und fing heftig an zu husten. Sie ergriff ihre Handtasche, zog ein gehäkeltes, winziges Taschentüchlein hervor, um es sich schnell vor den Mund zu halten. In der Annahme, sie habe sich verschluckt, klopfte Langenstein ihr kräftig den Rücken.
»Gut, gut!«, wehrte die Mecklenburg unwirsch ab und schaute verschämt nach links und rechts.
Langenstein erhob sein Weinglas. »Ich mache mal den Vorreiter. Da wir uns in dieser angenehmen Runde zusammengefunden haben, scheint es mir angebracht, wenn wir einmal gemeinsam auf unser Wohl anstoßen, auf das Kennenlernen und die schönen Tage hier auf dem Schiff. Zum Wohle allerseits!«
Alle ergriffen ihre Gläser, auch die Dame Mecklenburg. Dann wurde das Hühnchen Livéche, mit Gemüserisotto und Linsenragout in andachtsvoller Stille und mit Genuss verzehrt. Selbst Inga schaffte es, mehr als fünf Minuten zu schweigen.
Der Nachtisch, warmer Apfelkuchen mit Vanilleeis, war offenbar zu profan, als dass sich Inga hierzu geäußert hätte. Sie fragte Wieland, ob er so gut sei, ihr das Vanilleeis abzunehmen. »Diese Kalorienbombe will ich mir auf keinen Fall antun.«
Wollenweber warf ein: »Na, da übertreiben Sie aber! Wenn ich Sie so ansehe …«
Frau Mecklenburg erhob sich, nahm ihre braune Handtasche vom Stuhl und schaute kurz reihum. Mit schwacher Stimme sagte sie: »Ich darf mich für heute verabschieden, das Bett ruft. Ich nehme an, ich werde Sie morgen beim Konzert wiedersehen?«
Auf dieses Stichwort hatte Annegret May gewartet. Sie wandte sich an die am Tisch Verbliebenen. »Waren Sie denn heute auch bei den Konzerten? Ein wunderbares Erlebnis, nicht? Ich habe diese Reise extra wegen der Konzerte gebucht. Edward Grieg war schon immer meine große Leidenschaft. Zwar kannte ich den Pianisten noch nicht, ich finde aber, er interpretiert Grieg wirklich ausgezeichnet. Finden Sie nicht auch?«
Wieland hatte sein Stichwort. »Ich habe bei der Buchung gar nicht gewusst, was mich erwarten würde. Ich musste umbuchen. Ursprünglich wollte ich mit der Nordlys fahren, selbiges Schiff, welches im September havariert ist. Man hat davon in den Zeitungen und auch im Fernsehen berichtet. Ist es jemanden von Ihnen vielleicht wie mir ergangen?«
Alle schüttelten die Köpfe. Es fragte aber auch niemand nach, was mit der Nordlys eigentlich passiert war.
Wollenweber wandte sich an Inga. »Und dann hat Ihr Vater Sie ebenfalls auf unser Schiff gebucht? Konnten Sie sich denn so schnell freimachen? Ich meine, von Beruf, Familie und sonstigen Verpflichtungen?«
»Auf Ihre Frage eine direkte Antwort! Ich bin Studentin, da ist man zeitlich flexibel.« Inga legte ihre Hand auf Wielands linke. »Papa wusste natürlich, dass ich gern in den hohen Norden reisen würde, das war schließlich einer meiner Kindheitsträume. Ja, und da hat er eben gesagt, Ingalein, komm doch einfach mit auf die Reise. Und nun bin ich hier. Ist das nicht wunderbar?«
Die Unterhaltung lief in eine Richtung, die Wieland nicht so recht behagte. Da unterdessen alle am Tisch mit ihrer Nachspeise fertig waren, war für ihn der geeignete Zeitpunkt gekommen, um die Runde zu verlassen. Er erhob sich, deutete eine leichte Verbeugung an und warf Inga einen auffordernden Blick zu. »Sie werden uns beide entschuldigen, meine Tochter und ich wollen in der Bar zur Abrundung des Tages noch einen kleinen Drink nehmen. Wir wünschen allseits einen schönen guten Abend.«
Auf dem Weg hinauf zur Bar sagte Inga: »Schade, das Gespräch fing gerade an, interessant zu werden.«
»Ich glaube, fürs Erste hat der Small Talk gereicht. Inga, du darfst mich nicht überfordern. Es ist gar nicht so einfach, sich nicht zu verplappern.«
»Verzeihung, Wieland.« Sie machte ein schuldbewusstes Gesicht.
Man fand am halbrunden Bartresen zwei freie Plätze und machte es sich auf den Hockern bequem. Wieland studierte sogleich die bereitliegende Getränkekarte. Der Keeper kam heran und schaute ihn fragend an. Wieland winkte ab und meinte, er müsse erst einmal in Ruhe das Getränkeangebot durchgehen und würde sich melden, wenn er bereit sei, eine Bestellung aufzugeben. Was der Keeper sogleich akzeptierte und sich einem Gast widmete, der, wie Wieland vermutete, wohl für eine größere Gesellschaft verschiedene Getränke bestellte.
Inga schaute sich unterdessen in der Bar um. Im Hintergrund bemühte sich ein Solomusiker um gute Stimmung, getanzt wurde auf der kleinen Tanzfläche jedoch nicht. Allerdings waren die Tische alle gut besetzt. Die Atmosphäre, die dort herrschte, konnte durchweg als locker bezeichnet werden. Inga gefiel, was um sie herum passierte. Sie hatte nun ihrerseits das Bedürfnis, eine nette Unterhaltung zu führen.
»Wieland, bis du nicht bald mit der Karte durch?«
»Inga, entschuldige bitte! Was würdest du denn gerne trinken, vielleicht ein Gläschen trockenen Sekt?«
»Oh ja, das wäre nicht schlecht.«
»Ich für meinen Teil werde einen Scottish Single Malt trinken. Wie ich sehe, haben die hier einen 16-jährigen Isle of Jura. Einen solchen habe ich vor zig Jahren das letzte Mal im Glas gehabt.«
»Wieland, mir scheint, du bist nicht nur ein Kenner vom Aquavit, sondern auch von allen möglichen Whiskysorten.«
Wieland hob bescheiden abwehrend die Hände. »Ein wenig nur, man ist schließlich in der Welt herumgekommen. Da lernt man dies und das dazu.«
Er bestellte die Getränke. Inga nahm sich vor, ihn später auf sein Wissen zu testen. Jetzt war es ihr wichtiger, etwas über sein Leben zu erfahren, denn er hatte bisher nur wenig von sich preisgegeben.
»Wieland, ich glaube, jetzt bist du mal an der Reihe, was von dir zu erzählen«, sagte sie und hob ihr Sektglas.
»Skål, Inga!« Er stieß sein Glas, in dem fingerbreit der Whisky goldgelb schimmerte, vorsichtig gegen das ihre. Nach dem ersten winzigen Schluck gingen seine Mundwinkel in die Höhe.
»Teufel, ist der gut! Sanft und nussig. Die Süße kommt übrigens vom Oloroso, die Lagerung ist ähnlich wie beim LINIE. Aber das wolltest du sicherlich nicht von mir hören. Du hast natürlich recht, ein bisschen was von mir musst du natürlich wissen. Nur, womit fange ich am besten an?«
*****
Als sie Wieland und das Mädchen bemerkten, die vorn am Bartresen hockten, fuhren sie hoch und eilten zum heckseitigen Ausgang. Über die hintere Treppe erreichten sie Deck 6 und suchten dort die Kabine Nr. 687 auf.
Sie schaltete das Licht ein, verriegelte die Tür und zog am Fenster die Vorhänge zu. Er schenkte inzwischen aus der auf dem Schreibtisch stehenden halb vollen Rotweinflasche zwei Gläser ein.
»Richard, dass er dich fotografiert hat, steht fest«, sagte sie, setzte sich auf die Couch und nippte an ihrem Glas.
»Ja, zweimal in Bryggen und dann, als ich Zachariasbryggen betrat. Du warst nur zweimal mit auf dem Bild, nämlich in Bryggen. Statt mit mir ein Bier trinken zu gehen, bist du zu diesem Kiosk gelaufen und hast Zeitungen gekauft.«
»Wir haben in der Kabine zwar nichts weiter gefunden, was uns weiter hilft … leider. Allerdings waren die Bilder eindeutig, daran ist nicht zu rütteln. Es war allerdings äußerst unklug von dir, die Aufnahmen zu löschen. Ihn wird es stutzig machen, wenn er es bemerkt.«
Sie schaute ihn strafend an. Ihr Blick sprach Bände. Er sagte nichts. Denn er wusste, er hatte einen wirklich dummen Fehler begangen. Er biss sich auf die Unterlippe.
»Und, was schlägst du jetzt vor?«, fragte sie
Er zuckte mit den Schultern. Im Augenblick fiel ihm nicht viel ein. Zudem brauchte er einen Moment, um die Rüge zu verdauen, die, wie er zugeben musste, durchaus berechtigt war. Früher wäre ihm ein solcher Lapsus nicht passiert. All die Jahre ohne eine Aufgabe wie früher hatten dazu geführt, dass er vollkommen aus der Übung gekommen war. Allerdings, das gab er zu, war er nie der Stratege gewesen. So auch jetzt nicht, als es darum ging, ihr weiteres Vorgehens zu planen. Sein Kopf war total leer.
Hingegen reifte in ihrem Hirn ein Gedanke. Weil sich dieser aber noch entwickeln musste und somit noch nicht spruchreif war, schwieg sie. Es würde etwas dauern, bis sie sich ihm gegenüber äußern würde. Erst mussten sich die Details zu einem Ganzen fügen. Danach müssten sie allerdings rasch handeln, das war ihr jetzt schon klar. Es müsste allerdings funktionieren, denn eine zweite Chance bekämen sie so schnell nicht wieder.
»Wir haben noch diese Schlüsselkarte?«, fragte sie.
»Natürlich!« Er griff in seine Jackentasche und hielt sie hoch. »Schau, hier ist sie.«
»Gut! Für heute ist es zu spät. Richard, du musst morgen im Laufe des Tages, wenn er wieder unterwegs ist, unbedingt prüfen, ob sie noch funktioniert. Es ist möglich, was ich nicht hoffe, dass derjenige, dem die Karte fehlt, den Verlust gemeldet hat. In diesem Fall wäre es sehr wahrscheinlich, dass man den Code gelöscht hat. Dann müssten wir die Problemlösung, an der ich arbeite, leider aufgeben. Das hieße, wir müssten uns umorientieren, was uns erneut ein Stück weit zurückwerfen würde. Ach ja, du solltest doch mit dem Mädchen sprechen, war sie denn nie allein?«
Er schüttelte den Kopf. »Immer ist dieser Kerl dabei!«
»Sie war heute in der Sauna«, sagte sie. »Vielleicht sauniert sie morgen wieder. Ich werde mich dazu gesellen und versuchen, mit ihr ins Gespräch zu kommen.«
»Gute Idee! Mache das, vielleicht erfahren wir ja doch was, obwohl ich nicht glaube, dass sie involviert ist. Mich interessiert aber schon, wieso die beiden ständig zusammenhängen.«
Sie zog die Stirn in Falten. »Wir leben seit ein paar Jahren in der Ungewissheit, er könnte irgendwann wieder auftauchen und unsere Existenz gefährden. Ich möchte dem endlich ein Ende setzen. Ich könnte mir in den Hintern beißen, wir hätten Schrader schon in Marxzell ausschalten sollen.«
»Stimmt, damit hast du natürlich recht, Liebling«, sagte er und trank den Rest Rotwein. Dann begann er, sich fürs Bett bereit zu machen. Sie hörte, wie er im Bad die Zähne putzte. Sie hätte gern noch eine Zigarette geraucht, was in der Kabine leider untersagt war. Vielleicht würde sie später noch mal an Deck gehen. Sie musste in Ruhe nachdenken. Die Zigarette würde dabei helfen.
Sie verfiel ins Grübeln. Der bisherige Misserfolg nagte an ihr. Entmutigen lassen würde sie sich aber keinesfalls, auch wenn einiges schief gelaufen war. Sie kannte sich selbst gut genug, in gewissen Situationen konnte sie eiskalt sein. Auch jetzt würde sie keine Schwäche zeigen. Wäre er den Berg allein hochgekommen, dann hätte sich das Problem schon längst erledigt. Beim nächsten Mal durfte nichts mehr schief gehen. Auf gar keinen Fall!
Sie wischte alle negativen Gedanken beiseite, trank ihr Glas aus, setzte sich an den Schreibtisch und fing an, sich vor dem Spiegel die Haare zu bürsten. Wie eine Dreiundfünfzigjährige wirkte sie wahrlich nicht, fand sie. Manche Vierzigjährige wäre froh, so auszusehen wie sie. Aber sie tat schließlich was dafür. Joggen, Fitnessstudio, Sauna, gute Kosmetik und nicht zu vergessen, die gesunde Ernährung. Auf Richard musste sie aufpassen, der tat für seine Gesundheit einfach zu wenig. Die Atemprobleme, die er neuerdings hatte, bereiteten ihr Sorgen. Siebenundsechzig, das war doch kein Alter! Er trank in der letzten Zeit einfach viel zu viel. Sie würde in Zukunft besser auf in achtgeben müssen.
Sie stand auf und schaute ins Bad. Er war mit der Abendtoilette fast fertig. In ihr Gesicht stahl sich ein gewisses Lächeln. Wenn etwas funktionierte, dann war es das Eine. Er war noch genauso wild auf sie wie am ersten Tag.