Читать книгу Wartalun: Der Niedergang eines Geschlechts - Waldemar Bonsels - Страница 3

Erstes Kapitel

Оглавление

Inhaltsverzeichnis

Afra lag in der Mittagssonne im Korn. Über ihr bewegte sich im tiefblauen Himmel eine große rote Mohnblüte, nur ein klein wenig und so feierlich, wie es zu der Ruhe stimmte, die weit umher herrschte. Hin und wieder schaukelte ein Schmetterling vorüber, trunken von der Wärme und vom Licht, und sein Schatten huschte über das helle Kleid des jungen Mädchens. Neben ihr lag ein breitrandiger gelber Sommerhut mit blauen hängenden Bändern auf den Ähren, drückte sie sacht ein wenig nieder und spendete der ruhenden Stirn und den grauen Augen unter sich Schatten.

Afra verscheuchte die Träume, die mit dem warmen Licht und der willkommenen Müdigkeit des Sommermittags kamen, sie dachte in bitterer Betrübnis daran, daß der Schloßherr von Wartalun gestorben und mit ihm eine Zeit gesicherter Lebensarbeit und geordneter Verhältnisse für sie und für ihren Vater vergangen war. Es war alles ungewiß geworden. Es machte mißmutig, nicht zu wissen, was sich tun ließ, nicht zu wissen, welche Vorteile für ihren Vater und für sie aus den Veränderungen erwachsen würden, und die neue Herrschaft nicht zu kennen, die erwartet wurde.

Sie betrachtete die rote Mohnblüte, die im warmen Sommerwind schaukelte, hob langsam ihre braune Hand zu ihr empor, knickte gedankenlos den grünen Stiel mit seinen winzigen hellen Härchen und entblätterte über ihren ernsten Augen die Blume. Es sank mit lichten Purpurflügeln auf ihr Kleid und blieb wie Blut und Feuer in der zornigen Sonne liegen.

Eine Lerche stieg auf. Afra wandte den Blick, um den Vogel am Himmel zu finden, da sah sie zwischen den Ähren fern die grauen Schloßtürme von Wartalun aus den Eichen ragen, der eine trug einen Hahn, der andere das seltsam verschnörkelte Doppelkreuz, das auch im Wappen des Geschlechts zu finden war.

War Wartalun nicht ihr Eigentum gewesen, solange sie zurückdenken konnte? Nun erst, wo vieles sich ändern sollte, lernte sie erkennen, daß sie alles allein der Güte des Verstorbenen verdankt hatte und daß dieser Reichtum ihrer Kindheit sein tägliches Geschenk gewesen war. Der Gedanke quälte sie tief, das Bewußtsein, daß es Mächte gab, die ihr diese Schätze rauben konnten, ohne sie zu fragen, ohne sie zu beachten, als wäre nicht mehr, was sie wünschte und was ihr gefiel, auch ihr Eigentum.

Sie trug Verlangen danach, den neuen Herrn zu sehen, jetzt gleich, in diesem Augenblick, in dem sie litt. Daß sein Kommen erst mit dem Abend erwartet wurde, ließ sie ihn beinahe hassen, ihn, der sich ihr nicht zeigen wollte, mit dem sie abzurechnen hatte. Der Gedanke, daß der Verstorbene ihr einen Teil seines Besitzes hätte hinterlassen können, war ihr zuwider. Vielleicht das Forsthaus mit dem Buchenhain oder Wendalen mit seinen Moorgräben ... ihr Vater hatte ihr bestätigt: er hat niemand so geliebt wie dich.

Sie dachte ohne Trauer an die letzten Monate. An den scheidenden Winter und den kommenden Frühling mit seinen Stürmen, seinem zögernden Einzug in das ebene Land, das er über Feldern, Gärten und Rasenplätzen wie mit den schimmernden Wogen eines leuchtenden Meeres überzogen hatte. Das war die letzte Schönheit gewesen, die der alte Mann von der Terrasse des Schlosses aus gesehen hatte, wo sie, an seinen Tragstuhl gelehnt, über seinen Schlaf wachte, ohne zu wissen, daß es sein letzter war. Der Wind vom Garten war warm und feucht gewesen und von Blütenduft schwer. Aber eindringlicher als diese Stunde waren ihr die Winterabende im Gedächtnis geblieben, an denen sie ihm zur eintönigen Melodie des Kaminfeuers hatte vorlesen müssen. Dann hob er zuweilen die Hand als Zeichen, daß sie warten sollte, sah ihr in die Augen und fragte sie:

»Hast du verstanden, was du eben ausgesprochen hast?«

Sie nickte nachdenklich, weil sie fühlte, daß er dies wünschte.

Einmal, während sie las, hörte sie, daß er schluchzte, und hielt inne. Ihre erstaunten Blicke schienen ihn zu enttäuschen. Seine Bewegung quälte sie, und vorsichtig senkte sie den Blick, um zu erfahren, was er von ihr erwartete. Da begann er ihr von den mattgoldenen Tauben zu erzählen, die in den großen Wandteppich gewoben waren, gegen einen verblaßten blauen Himmel, in den die Zinnen einer alten Stadt ragten, aus deren Toren Reiter auszogen. Die Decken ihrer Pferde waren aus erloschenem Silber, und ihre Rüstungen glänzten nicht mehr. Wollte er, daß sie die Tränen vergaß, die sie bei ihm gesehen hatte? Sie vermutete es und fragte ihn, weshalb er geweint hätte. Da antwortete er ihr in einem Tonfall, den sie noch kaum bei ihm kannte:

»Weil ich deine Stimme gehört habe, als du last, und weil ich die Bewegungen deiner Lippen sah und den Schein des Feuers in deinem hellen Haar. Und weil ich die holde Mühe deiner Hand sah, als du die Seite des Buchs umwendetest. Ich sah auch deine Schultern, deine Knie und die Füße am Saum deines Kleides. Du hast mir schon als ganz kleines Mädchen, kaum daß du gehen konntest, am Morgen frische Blumen aus dem Garten gebracht, die dein Vater dir für mich gab ... jeden Tag bin ich dir begegnet wie dem Licht der Sonne, dem niemand entgeht, der atmet, aber ich bin niemals deinem Herzen begegnet. Meine Tränen, nach deren Sinn du mich gefragt hast, wirst du spät verstehen lernen, aber jede Liebe, die dir in deinem Leben begegnet, wird sie aufheben und bewahren und zu Gott bringen, zu dem ich gehe.«

Sie hatte sich damals eine Weile besonnen, was er meinen könnte, und sich gefragt, ob sie ihm Anlaß gegeben habe, mit ihr unzufrieden zu sein. Aber im Grunde fühlte sie deutlich, daß ihr etwas zugute gekommen war und daß der unerfüllte Wunsch, den er ausgesprochen hatte, nicht zu jenen gehörte, die sie erfüllen konnte. —

Auf dem Feldweg knatterte ein Leiterwagen heran, und sie hörte ein Pferd schnauben. Das rief sie aus ihren Erinnerungen in den hellen Tag zurück. Sie nahm ihren Hut vom Korn und drückte ihn neben sich in die Halme, damit der Fuhrmann sie nicht erspähen sollte, aber er saß zu hoch auf seinem Heufuder, reckte den Hals nach ihr, lachte, als er sie erkannte, und hielt die Pferde an.

Es war Martin. Er wußte, wie alle Dienstboten, daß Afra nicht hochmütig war.

»Du hast es gut«, sagte er, als er vor ihr stand und die Kornähren mit der Hand zur Seite bog. »Ist es erlaubt, einzutreten?«

Sie nickte, sah ihn an und blieb liegen.

Er ließ sich dicht neben ihr nieder, nahm den Strohhut von der heißen Stirn und lächelte.

»Einen Gruß könntest du schon sagen ...«

»Gott ...« machte sie lässig, und dann fügte sie mit forschenden Augen hinzu:

»Heute abend ...?«

»Das ist wahr«, sagte er mit einer Miene, als empfinge er eine betrübliche Nachricht, »heute abend kommen sie.«

Alle auf dem Gut dachten daran. Afra hörte mit an, wie Martin sich den neuen Herrn vorstellte.

Plötzlich unterbrach sie ihn:

»Du bist ein Narr«, rief sie. »Ihr seid alle Narren.«

»Weißt du es besser?«

»Ihr alle seht den neuen Herrn in euren Gedanken so, wie ihr ihn euch zu eurem Vorteil wünscht. Der Vater meint, daß er eine Vorliebe für neue Treibhäuser habe und Spalierobst bevorzugen würde, der Verwalter faselt von großem Geschick, einen Kornjuden zu überlisten, und der Förster weiß, daß er Schmetterlinge im Flug mit der Kugel treffen kann.«

»Wie du sprichst ...« sagte der Bursche. »Man könnte glauben, daß es so im Katechismus steht.«

»Man sagt immer zu viel«, meinte Afra nachdenklich, »aber wenn man sich langweilt ... man sollte sich nie langweilen.«

Martin zog Kirschen aus der Rocktasche und bot ihr die roten Kugeln dar, die an dünnen Stielen zwischen seinen Fingern hingen, aber sie kehrte seine Hand um, öffnete sie und suchte langsam drei Früchte heraus. Dann schob sie seine Hand zurück.

»Ich will ihn sehen«, sagte sie langsam, »das ist es, was ich von ihm weiß. Und noch eins: er wird mich sehen.« Sie ließ langsam die Blicke über den jungen Burschen gleiten, beinahe ohne den Kopf zu wenden, lächelte einsam und verschwieg, was sie noch hatte sagen wollen. Man durfte nicht sprechen. Es war gut, für sich zu behalten, was man wußte. Irgend etwas im Schatten seiner Augen und um seinen unbewachten Mund verlockte sie, sich in seiner unwissenden Anteilnahme gehen zu lassen. Aber dann dachte sie: er tut auch ohnehin, was ich will.

Martin empfand an Afras Seite etwas wie Wohlbehagen und Mißstimmung zugleich. Es mochte daher kommen, daß er zu Lebzeiten des Grafen gewohnt gewesen war, in Afra seine Herrin zu sehen, und daß sie nun zu seinesgleichen herabgesunken war. Wenigstens für einige Zeit, für diese Tage der Ungewißheit und des bangen Harrens. Auch ihm ging es wie den meisten der anderen, er war begierig, zu erfahren, was nun aus Afra werden würde. Er umkleidete sie in seinen Gedanken mit dem märchenhaften Zauberglanz von Macht und Reichtum, den die Liebe des alten Mannes um sie gewoben hatte. Es konnte wohl sein, daß alles, was seine Augen sahen, das Schloß, die Wälder, der Ackergrund, auf dem er lag, und sein eigenes Geschick in die Hände gegeben waren, die er neben sich sah, wie sie das blaue Band des Huts durch die Finger zogen. Und er wußte auch, daß er diese Hand dort dicht neben der seinen ergreifen konnte, ohne daß Afra ihn daran hindern würde. War es denn wirklich so? Es glühte in ihm empor, sein Entschluß, es zu tun, quälte ihn eigensinnig, sein Wunsch, dies Einfache zu tun, dies Unmögliche ...

Da tat er es, beinahe nur, um sich aus seiner unverstandenen Qual zu befreien. Was würde geschehen?

»Nicht einmal mein Pferd ist sicher mein eigen«, sagte Afra, »ich habe genommen, welches ich wollte. Würdest du um eines bitten, wenn alle dir erreichbar wären?«

»Es ist wahr«, sagte er und zog seine Hand von der ihren, »du konntest tun, was du wolltest. Der neue Herr ...«

»Sprich nicht von ihm«, warf Afra ein. Sie erhob sich, so daß sie im Korn saß, ordnete an ihrem Haar, das im Sonnenschein heller leuchtete als die goldenen Ähren. Martin stand mit verdrossenem Gesicht auf.

»Fährst du mit?« fragte er.

Sie stieg aufs Rad des Wagens und dann auf seine Schulter, mit raschem weichem Fuß, dessen Druck er erst zu verspüren glaubte, als sie bereits hoch im Heu saß und nur ein Zipfel ihres weißen Kleids zu ihm hinunterlachte.

»Geh du nebenher!« klang es aus dem Blau über ihm, und so schritt er neben dem Wagen dahin und rief den Pferden laute Worte zu.

Afra lag hoch und so, daß niemand sie sah. Sie stützte das Kinn in beide Hände, so daß ihre Ellbogen sich ins Heu gruben, und blinzelte in den Sonnenschein hinaus. Der ferne Wald zur Linken unter der Sonne lag in einem feinen blauen Schleier, der sich von den Wiesen her zu ihm zu heben schien. Sie schaute zu ihm hinüber, als sei er ihr Ziel, während der Wagen sie langsam, eingehüllt in den Duft welken Grases und vergangener Blumen, auf Wartalun zuschaukelte.

Wartalun: Der Niedergang eines Geschlechts

Подняться наверх