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Zweites Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Nachts hörte Afra Pferdegetrappel im Hof, Hundebellen, Stimmen und das Knarren eines Wagens. Der Lichtschein der Laternen drang vom Hof her durch die kleinen Fenster ihres Stübchens ein, wanderte an der Zimmerdecke und huschte rasch und ängstlich über die Gegenstände des Raums. Sie erhob sich hastig und voll ruhloser Gedanken. Seit dem Tode des alten Herrn hatte sie ein Stübchen im Hause ihres Vaters bezogen, der als Gärtner des Gutes im Wirtschaftsgebäude eine Wohnung innehatte. Sie hatte nicht gewagt, ihre Zimmer im Schloß, der fremden Herrschaft gegenüber als ihr Eigentum zu behaupten; verdrossen und beinahe rachsüchtig wollte sie abwarten, ob man sich unterfangen würde, ihr ihre alten Rechte streitig zu machen, aber niemals hätte sie ertragen können, aus dem Hause gewiesen zu werden.

Leise öffnete sie einen Flügel des Fensters, der Lindenduft zog süß und schwül zu ihr herein. Die tiefhängenden Äste des uralten Baumes, der fast den ganzen Schloßhof beschattete, verhüllten ihr den Ausblick. Sie erkannte nur die alte Staatskarosse des Hauses, hörte eine etwas weinerliche, zarte Frauenstimme und Martins wenig ergebene Antworten auf ihre unverständlichen Fragen oder Befehle. Dann wurden im Schloß die Fenster hell, erst im Speisesaal, dann unten in den Wohnräumen, so daß sie die weißen Säulen der Terrasse schimmern sah, endlich im Zimmer des alten Herrn und zuletzt sogar im Ahnensaal, dessen knarrende Torflügel mit ihren geschnitzten Figuren sie zu sehen glaubte, als sie es hörte.

Dann wurde es langsam Fenster für Fenster wieder dunkel, nur im Treppenhaus glommen noch Lichter, und die Hunde kamen nicht zur Ruhe. Sie sah noch Melchior, den alten Diener, mit gesenktem Haupt die Treppe niedersteigen, offenbar besann er sich, als er die Hunde hörte, ob er sie beruhigen müsse; aber er ließ es und verschwand in der Dunkelheit mit dem letzten Licht. Afra dachte an die beunruhigten Hunde, die alle an den Ketten lagen, die sonst die vertraute Nacht bevölkert und sie oft auf einsamen Wegen begleitet hatten. Es war gewiß nicht dieser Gedanke, der sie so tief bewegte, aber plötzlich warf sie den Kopf hart auf die Bank des offenen Fensters mit einem wilden, eigensinnigen Schluchzen. Ihr war, als seien Räuber in das Schloß eingedrungen. Schliefen denn umher alle diese Geduldigen, war keiner da, der ihrer gedachte, keiner, der vor den rechtlosen Eindringling hintrat und gebieterisch auf Afra wies, ihm bedeutend, daß es gelte, mit ihr zu teilen. Zu teilen? Ein kalter Zorn ließ sie auffahren. Niemals würde sie teilen, nie! Ihr war, als müsse sie aufspringen und hinauseilen durch den schlafenden Schloßgarten, weit hinaus bis an die dunkle Fichtenstraße, die zur Begräbnisstatt des toten Herrn führte. Sie sah den eisernen Sarg mit seinem einen Kranz aus Rosen, der längst verwelkt war, den sie ihm hatte winden müssen, denn nur sie sollte um ihn trauern, nur sie sollte ihn für seine letzte Fahrt mit Blumen schmücken. Sie sah sich an dem kalten schweren Eisen rütteln: Wach auf, du, mit deiner Liebe zu mir, sie stehlen dein Schloß, deine Macht, deine Liebe zu mir treten sie mit Füßen der Verachtung, und sie verhöhnen mich, dein Glück.

Es regnete sacht in die blühende Linde, draußen in der Nacht, in der auch der Tote schlief. Je mehr Afra sich vergegenwärtigte, was dieser Todesschlaf bedeutete, um so heißer stieg in ihr, wie eine brennende junge Seligkeit, das Bewußtsein dafür auf, daß sie selbst lebte und daß sie stark und jung und schön war. Ihr war, als sei ihr Verhältnis zu dem Toten, das er einst in bebender Ehrfurcht gerühmt hatte, nun um vieles deutlicher und gezeichneter erstanden. War er nicht um vieles benachteiligter als sie?

Im Einschlafen durchdachte sie ruhiger noch einmal die letzten Wochen, die sie mit ihm durchlebt hatte, auf alle seine Aussagen hin, forschte eifrig nach dem Sinn seiner traurigen Worte, die sie damals kaum beachtet hatte, und prüfte jedes daraufhin, wie weit es eine Verheißung für ihre Zukunft enthalten könnte. Sie sah seinen weißen Bart dicht vor sich, fühlte seine Greisenhände auf ihrem Scheitel: »Du arme Reiche«, sagte er. Und als sie schwieg: »Wie hat meine Liebe zu dir mich reich gemacht. Sag, was hast du denn von mir empfangen können?«

Hieß das nicht, daß er bereit sei, noch viel zu geben?

Nun befahl sie Martin, ihr das Pferd zu satteln, das war schon im Traum. Sie saß in ihrem Kleid aus hellem Tuch auf einem schwarzen Pferd, umritt das Schloß, lockte die Hunde und stürmte über die Felder, die ihr gehörten. In Wendalen erwarteten die Tagelöhner sie in ihrem Sonntagsstaat, verneigten sich, und die Kinder streuten Blumen. So hatte sie es einst gesehen, als sie den Grafen an seinem letzten Namenstag hinausbegleitet hatte. Nun lag er im Sarg, aber er schaute sie an und lächelte zu all ihrem Tun. Damals, auf dem Heimweg, hatte er lange in ihr Gesicht geschaut, das stolz, heiß erhoben vom Glück des Tags und übermütig beseligt gelächelt hatte. —

Als es Morgen wurde, hörte es auf zu regnen. Der junge Tag erhob in kühlem Wehen sein lichtes, blaues Leben, in dem alles in tiefer Stille auf die aufgehende Sonne wartete. Die Haustiere und die Vögel im Garten waren noch nicht erwacht, als Afra sich erhob und in einer ganz neuen, zitternden Seligkeit an ihrem jungen Dasein langsam begann, sich an den weit offenen Fenstern anzukleiden, die den Blütenduft der Linde und alle Hoffnung der erneuten Erde zu ihr einließen. Dies war die liebste Stunde ihres Tags, in der niemand ihren erwachten Sinnen etwas streitig machte, in der ihr alles zu eigen war, was sie sah, erdachte oder ersehnte. Sie schaute vorgebeugt hinaus in den verschwiegenen Hof, auf dem noch nichts sich regte, nur vor den Starenkästen am Lindenstamm saßen schon die Alten, zum ersten Ausflug gerüstet, und sie meinte die feinen Stimmchen der Jungen zu hören, deren zarte Laute sich in das kaum vernehmbare Flüstern der Blätter mischten. Die Tore des Hofes waren noch geschlossen. Die breiten Laubgänge des Efeus sahen wie dunkle Verkleidungen am Mauerwerk aus, wie schwere, grüne, zerfetzte Teppiche, die das Alter des dicken Gemäuers verhüllten. Er war beinahe ein wenig eng, dieser Hof, aber seine hohe Eingeschlossenheit und seine Schatten von den Wänden des Hauses gegen Westen verliehen ihm eine traumhafte Versunkenheit, die durch die Farben der Zeit und durch die Zinnen der Mauern in dieser Stille in das Bereich alter Märchen gerückt wurde.

Afras blondes Haar war so schwer und weich wie alte Seide. In der Ahnengalerie des Herrenhauses, dicht unter der getäfelten Decke hing das Bildnis einer jungen Frau, deren Haare den ihren glichen. Auch sie hatten diesen seltsamen gedämpften Glanz von Kupfer und Asche, der sich, ins Licht getaucht, in ein beinahe farbloses Gold verwandeln konnte und der aus Stirn und Schläfen hervorbrach, fast ohne daß man erkannte, wo der Wuchs der Haare begann. Aber den hochherzig versunkenen Blick der längst Verstorbenen haßte Afra, wie auch ihren kleinen lieblichen Mund, dessen Trotz ihr töricht erschien, weil er nichts verbarg. Ihr eigener Mund war breit und fast ein wenig zu groß, und da niemand ihr noch gesagt hatte, welch betörender Zauber voll Lebenssüßigkeit und Daseinswonnen sich in seiner ruhenden Schönheit offenbarte, achtete sie ihn beinahe gering, diesen großen Mund.

Die Sperlinge wurden im Efeu wach, als Afra über den Hof ging, ihr Schritt hallte von den Steinwänden wider. Sie klopfte an Martins Kammerfenster neben dem Pferdestall, sein Gähnen erweckte ihr Mitleid. Er solle nur öffnen, das Weitere würde sie schon selbst besorgen; aber er kam doch hervor, um ihr zu helfen, das Pferd zu satteln, und murmelte schlaftrunken allerhand von seinen Aussichten, sich noch einmal niederlegen zu können. Afra verschmähte es, ihn nach der neuen Herrschaft zu fragen.

»Wohin reitest du denn?« fragte er. Er glaubte ihr diese Teilnahme schuldig zu sein.

»Heb den Baum am Tor«, sagte sie.

Sie zog den Sattelgurt fester. »Du schläfst ja noch«, tadelte sie nachlässig. Martin fand ihre Bemerkung zutreffend und am Platze. Sie wollte noch, daß er die Wolfshunde freimachen sollte, Aja und Fenn, deren Ketten sie hörte.

Dann sah er ihr nach, und über dem Anblick, wie sie die Landstraße entlang steil und fest zu Pferde, vom Bellen der Hunde wie von ergebenem Beifall geleitet, dahinritt, vergaß er seine Müdigkeit. Eine seltsame heiße Erwartung hielt ihn gefangen. Wartalun gehört Afra, war das Resultat seines einfältigen Grübelns. Drüben in den angebauten Wirtschaftsgebäuden hinter den Birken der Landstraße sah er die ersten Tagelöhner, eine Pumpe klang, ein Hahnenruf. Ihm schien ein ereignisreicher Tag zu beginnen, und er war zu wichtig, um ihn zu verschlafen, man mußte nachdenken, um sich über alles klar zu werden.

Die Morgensonnenstrahlen fielen, immer noch kühl und ohne Kraft, über die Dächer der Kornschuppen von Wendalen, als Afra dort anlangte. Sie hatte sich auf den schmalen Pfaden durchs Moorgelände Zeit gelassen, hatte in der Heide das Pferd eine Weile durch die kaum erblühten Sträucher geführt und tief in Gedanken zugesehen, wie ihr suchender Fuß Schritt für Schritt die silbernen Perlen des Taus am Boden zum Fallen brachte. Je länger der Tag wurde, um so eindringlicher wachten alle Gedanken mit ihm auf, und ihr war, als zerstörten sie ihr ganz langsam ihre Kraft. Denn Afra war sich ihrer Kräfte noch nicht bewußt, wenn sie sie nicht in ihrer Wirkung erprobte; erst die Gelegenheit, sich bewähren zu müssen, fand sie stark.

Das schöne Pferd hielt den kleinen Kopf gesenkt wie seine Herrin, die immer um einen Schritt voraus war und die Zügel nachhängen ließ. So schritten sie gegen den großen Horizont des ebenen Landes über den roten Teppich der Heide dahin. Die Wölfe eilten ruhelos, die schwarzen Schnauzen am Boden, in weitem Bogen voraus, scheuchten Wildenten aus den Moortümpeln auf und einmal, in einem kleinen Birkenwäldchen, schon nahe am Vorwerk, ein junges Reh. Aber auf Afras leisen Pfiff wandten sie, wie von unsichtbaren Fäusten zurückgerissen, die Köpfe und kehrten um. Sie hingen in seltsamer Treue an Afra, niemand nahm sich ihrer mit mehr Zeit und Geduld an, niemand schlug sie grausamer.

Erst als sie in den Hof einritt und die Knechte sie grüßten, besann sie sich darauf, was sie als Grund für ihr Kommen angeben sollte. Man würde sie nach der neuen Gutsherrschaft fragen, vielleicht war der Verwalter schon unterwegs nach Wartalun. —

Sie saß wieder zu Pferde, als er kam, und in einer uneingestandenen Furcht vor einem Verrat der Ängste ihrer Seele begrüßte sie ihn hochmütig und ohne den Kopf zu senken. Harmlos fragte er dies und das, aber sie wußte, worauf er wartete. Seine Einladung, im Zimmer ein Frühstück einzunehmen, lehnte sie ab. Die Tücke und Unterwürfigkeit dieses arbeitsamen und wohlgeschickten Mannes, die sie bislang mit kaum amüsierter Herablassung festgestellt hatte, erschien ihr heute hassenswert. Anfangs erkühlte er sichtlich unter ihrem veränderten Wesen, dann begann er langsam ihre Zurückhaltung mit großer Höflichkeit zu beantworten, die schnell zur Ergebenheit wurde, je mehr das Mädchen sie gelassen einstrich. Oh, er würde vermuten, daß die Würfel gefallen seien und daß, was die einen hofften, die anderen fürchteten, Wahrheit geworden sei, daß sie nach dem Willen des Verstorbenen Herrin von Wartalun geworden war.

Die heimliche Freude, die ihre unbeabsichtigte Täuschung ihr eintrug, wurde rasch zu unbezähmbarer Sucht, diese Rolle zu spielen. Mit kühlem und geheimnisvollem Lächeln sah sie auf den Neugierigen herab, der ihr zu gefallen und zu dienen trachtete. Doch plötzlich verachtete sie sich in dieser Lage, aber ohne ihre Haltung zu ändern, nickte sie kühl und hastig, nahm umständlich das Pferd herum und pfiff den Hunden.

»Bis morgen!« rief sie, so ernst, daß es beinahe traurig wirkte. Draußen empfing die frohe Sonne sie, wogende Felder und bald wieder die Melancholie und Verlassenheit ihrer Heide. Es erfüllte sie mit bitterer Genugtuung, daß sie jemanden zurückließ, dem ihre Hoffnung Gewißheit geworden war, als hätte sie ihrem zögernden Schicksal Gewalt angetan.

»Du bist der erste, der das Schloß verläßt, wenn es mein ist«, rief sie laut. Dann war ihr, als müßte sie weinen, und ihre aufsteigende Qual beantwortete sie mit einem harten Lachen, das seltsam böse aus diesen weichen, unerwachten Lippen drang und in herbem Widerspruch zur Anmut ihrer freien Haltung stand.

Im Moorgrund waren Arbeiter am Werke. Hohe Torfmauern spiegelten sich schwarz in den stillen Gräben, alles versprach einen heißen Tag. Den Gruß eines Landmannes, den sie kannte, erwiderte sie mit einem kecken Scherz. Der Alte blieb stehen, schützte die Augen und sein breites, wohlgefälliges Lächeln mit der schweren braunen Hand und sah ihr nach. Nah am Kreuzweg, als schon Moor und Heide zurückblieben und die Türme des Schlosses aus den Eichen schauten, traf sie einen Fremden, der sie grüßte, sehr höflich und auf eine Art zögernd, als habe er eine Frage zu stellen. Sie sah zurück und hielt das Pferd an. Beide schwiegen eine Weile, die Wölfe sahen abwartend zu ihr empor. Sie rief sie barsch an, mehr um den Gehorsam der Hunde zu zeigen, als weil eine Befürchtung nahelag. Sie sah in das Gesicht des jungen Mannes, der hinzutrat. Ein schmales und sehr blasses Angesicht hob sich zu ihr empor, unsicher im Wesen und Blick durch eine goldene Brille, deren Gläser blinkten. Er war schwarz gekleidet, trug ein seltsam mitgenommenes Hütchen aus Filz und erschien ihr zart von Figur, beinahe ein wenig gebrechlich. Seine schmale Hand, mit der er befangen sein Kinn hielt, fiel ihr auf; solche Hände wünschte sie sich ...

»Verzeihen Sie mir, mein gnädiges Fräulein«, sagte er zögernd, aber nicht unsicher, »wie lange würde ich von hier aus brauchen, um bis Wandelen zu gelangen?«

»Wollen Sie denn zu Fuß gehen? Übrigens heißt das Vorwerk Wendalen.«

»Wendalen, gewiß ... ich irrte.«

Sie stemmte die Rechte leicht in die schlanke Hüfte, schaute über Land, als erwöge sie ernstlich die Antwort, um sie treffend geben zu können. Ihre Art der Herablassung war voll Anmut, von einer holden Sicherheit überlegenen Geistes und frohen Herrentums. Er vergaß, was er wissen wollte, und sah sie bewundernd an.

»Ich habe von dort bis hier fast eine Stunde mit dem Pferde gebraucht, aber Sie sehen, es ist naß. Sie würden zwei Stunden brauchen an einem Tage wie heute. Und der Weg ... kennen Sie den Weg denn?«

»Nein«, sagte er, »ich bin hier fremd, auch muß ich bei solcher Entfernung meinen Plan aufgeben, ich habe nicht gewußt, wie weit es ist, es hätte mich sehr interessiert, da ich diese Frühmorgenstunde nicht besser zuzubringen wußte. Im Schlosse schliefen sie noch alle.«

Afra lächelte. Er sah ihr Lächeln mit Bestürzung. Es wirkte auf ihn wie Sonnenschein im Frühling und wie der traurige Gedanke an einen frühen Tod.

»Es ist nicht ganz richtig, daß alle schliefen. Aber jetzt? Kehren Sie denn jetzt um?«

»Ja«, sagte er, hilflos und so befangen, daß eine heiße Freude am Triumph ihrer Überlegenheit ihr Blut klopfen ließ; sie sprang vom Pferde, und in der überwindenden Unbefangenheit, die ihr Wesen auszeichnete, sagte sie:

»So gehen wir miteinander. Es tut Joni gut, ein wenig ledig dahinzutraben.« Mit der Gerte wies sie auf das Pferd und sagte: »Das ist Joni.«

»Sie stellen mir Ihr Pferd vor, mein gnädiges Fräulein, gewiß, um mich daran zu erinnern, daß ich Ihre große Liebenswürdigkeit angenommen habe, ohne Ihnen meinen Namen zu nennen. Verzeihen Sie mir.«

Und er nannte undeutlich und rasch einen Namen, den sie kaum zu verstehen für nötig hielt, und verbeugte sich dabei, nicht ganz in der üblichen Richtung und auf eine Art, die ihm im Schreiten mißlang.

»Und darf ich auch Sie bitten«, fuhr er fort, »mir die Ehre zu erweisen, zu sagen, wer Sie sind?«

Afra sah hinüber zu den Türmen von Wartalun, wartete, bis er ihren Blick sah, und meinte:

»Tut es etwas zur Sache?«

Er glaubte ihr die Gelegenheit nehmen zu müssen, darüber nachzudenken, daß dies wenig höflich sei, und sagte rasch:

»Oh, gewiß nicht, gewiß nicht. Meine Bitte war sicherlich recht töricht. Der Vorzug Ihrer freundlichen Begleitung sollte mir genug sein, und er ist es, sicherlich, mein gnädiges Fräulein.«

Sie strich ohne Bedenken sein Entgegenkommen ein wie ihr Recht, obgleich sie ihn beneidete.

»Wie kommen Sie nur so früh hierher?« fragte sie, und was an ihrer Frage hätte Neugierde sein können, wirkte im Tonfall ihrer Stimme einzig wie eine kindliche Bitte.

»Ich habe dort im Schloß geschlafen«, sagte er, »und eigentlich schlecht; ich bin ohne meinen Willen und beinahe zufällig gekommen; es ergeht mir oft so, daß mir eine fremde Umgebung anfangs keine Ruhe schenkt.«

»So, im Schloß?« meinte Afra und legte in ihr Lächeln eine neckische Bewunderung. »Das klingt ja fast, als wollten Sie mir sagen, daß Sie den Schloßherrn von Wartalun persönlich kennten.«

»Ich vermute, daß ich es bin«, antwortete er bescheiden.

Und ohne zu beachten, daß die Zügel in ihrer Hand bebten, daß ihr Schritt wankte und ihr Angesicht sich langsam in jäher Erstarrung mit tödlicher Blässe überzog, fuhr er fort:

»Es sind unerwartete Umstände, die mich herführen, und seltsame Verhältnisse, die ich vorfinde. Ich finde mich schwer in ihnen zurecht. Der verstorbene Graf von Wartalun, den Sie zweifellos gekannt haben, mein gnädiges Fräulein, war nur sehr fern mit mir verwandt, und die Erbschaft seiner Güter hatte niemand von uns erwartet. Die Familien waren zu Zeiten meines Vaters entzweit, wir hörten nie mehr voneinander, da kein Zwischenglied hätte vermitteln können, auch trug die große äußere Entfernung zur Entfremdung bei. Die letzte Nachricht, die zu uns drang, waren vereinzelte unsichere Annahmen über eine spät noch geplante Verheiratung des alten Herrn.«

Sie achtete, auch als er nun weitersprach, kaum auf seine Worte. Als sie mit großer Mühe ihre Fassung zurückerrungen hatte und ihre Gedanken ordnen konnte, empfand sie zunächst nur eins, daß die Art, wie er von sich als vom künftigen Schloßherrn gesprochen hatte, nicht völlige Gewißheit darüber kundgab, ob er es in der Tat sei. So waren die Würfel noch nicht gefallen. Das hielt ihr Mut und Sinne in zitternder Spannung wach und ließ sie vergessen, daß sie eben noch eine arge Niederlage erlitten hatte, von der er noch nichts wußte. Mochte er, wenn er nun erfuhr, wer sie war, denken was er wollte. Sie fühlte, daß keiner der Gedanken, die er sich darüber machen würde, sich jemals in Zorn oder Verachtung gegen sie kehren könnte. Seine angstvolle, vorsichtige und höfliche Art weckte Vertrauen und zugleich Neid und Geringschätzung in ihr. Es kam in ihrem Herzen etwas hinzu, das beinahe wie Hilfsbereitschaft war und sie tief beruhigte. Sie wußte plötzlich, daß das Bild, das sie vom neuen Herrn im Sinne getragen hatte, dem des Verstorbenen geglichen hatte, sie sah mit einem raschen Lächeln über die Gestalt ihres Begleiters. Das herrische Angesicht des Toten, sein schwerer, breitschultriger Körper erschienen ihr, und sie glaubte seine dunkle Stimme zu hören und den unnahbaren und grollenden Eigensinn darin, oder die herbeilassende Güte seiner Züge, wenn er wohlgesinnt und froh Abrechnung hielt über Pflichttreue und Verdienst seiner Untergebenen. Und nun sollte dieser zierliche schwarze Herr in den verlassenen Sattel steigen, diese schmächtige Hand sollte am Zügel ruhen, den die Faust des Toten gehalten hatte? Afra reckte sich auf in den Sonnenschein und lächelte.

Ihre jähe Bewegung ließ ihn innehalten.

»Verzeihung, vielleicht langweilt Sie dies alles«, sagte er leise. »Mich beschäftigt es, bitte verstehen Sie, und man ist sicherlich allgemein geneigt, vor einer so selbstverständlichen Liebenswürdigkeit, wie die Ihre es ist, ohne Bedenken über das zu sprechen, was einen bewegt.«

Afra wurde rot vor Freude und schwieg. In ihrem Glück über die völlig ungewohnte Art der Anerkennung, die ihr zuteil wurde, vergaß sie, daß eine Antwort notwendig sei. Er legte ihr Schweigen wie eine selbstbewußte Bestätigung seiner Befürchtung aus.

Aber nun besann sie sich und machte es gut. Ihr lag am Triumph, den der Augenblick zuließ, und sie vermied es unbewußt, ihre Worte anders zu setzen, als es ihr in diesen kurzen Augenblicken einer fremden Rolle nützlich erschien.

»Mir liegt alles am Herzen, was die Schicksale Wartaluns betrifft«, sagte sie eifrig und vorsichtig. »Ich habe den Grafen gekannt und geliebt und einen Teil seiner Sorgen und Angelegenheiten geteilt. Ihre Offenheit ist eine Freude für mich.«

Sie glühte vor Stolz darüber, daß diese Worte, von denen sie fühlte, daß sie ihr wohlgelungen waren, ihn bewegten. Einen Augenblick zögerte er mit der Antwort, es schien, als wollte er aufs neue nach ihrem Namen fragen. Irgend etwas machte ihn unsicher. Gewiß war es jene eigen unüberwindliche Sicherheit der jungen Dame an seiner Seite, eine Sicherheit, die sich so wunderbar mit dem Zauber einer kindlichen Freude daran verband. Ihm schien, als verberge sie ihm etwas, dann wieder, als machte sie sich heimlich ein wenig über ihn lustig.

Er dankte ihr warm. Als er in ihre Augen sah, erschrak er. Gott, dachte er, gibt es so viel Kraft, so viel Jugend, so viel Allmacht des Frühlings in einem Menschengesicht? Das Leuchten ihres Haars verzauberte seine Gedanken in Träume, so gewalttätig, daß er selbstvergessen und fast ergebungsvoll diesen Wandel in seinem Empfinden wie ein heißes Emporschweben in eine ganz neue Welt hinnahm.

»Sie, die Sie augenscheinlich aus diesem Lande und aus dieser Gegend sind, gnädiges Fräulein«, sagte er stockend, und dann schwieg er plötzlich, weil er sah, daß ihn diese Worte zu etwas führten, das er nicht hatte sagen wollen.

»Wartalun ist wunderschön«, sagte Afra, und erst daran, daß er nach diesen Worten unbefangen zu sprechen begann, wußte sie, daß sie ihm damit aus seiner Verwirrung geholfen hatte. Und während er erzählte, mußte sie wieder und wieder denken: Nun erst wird das Leben schön. Ich habe wie ein Kind gespielt und geschlafen. Ihr war, als liebte sie diesen Mann neben sich, weil er der erste war, der ihr Gelegenheit gab, neue Kräfte ihres Wesens in heißem Daseinsglück zu verspüren und zu erproben.

Sie warf die Stirn zurück und gab der Sonne ihr Haar. Ihre Lippen bekamen etwas von jenem irdischen Daseinslicht, das zuweilen die Lippen junger Frauen umglüht, die sich zum erstenmal über schwerem Wein schließen, so daß das tiefe Blut der Erde im Lebensblut ihres Leibes in die Lippen emporsteigt, als blühten wieder die Reben ...

Nun verstand sie ihn wieder, konnte, zurückkehrend aus sich, seinen freundlichen Worten folgen:

»Als dann die Nachricht zu mir kam, dies alles sollte mir zufallen«, sagte er, »traf sie mich ohne rechte Kraft, mich ihrer zu freuen. Ich war ganz mit meinen Studien ausgefüllt und hatte kein anderes Ziel im Auge, als ihre Vollendung. Jeder Besitz, der über die Ansprüche meines Daseins hinausgeht, hat mich fast immer noch beunruhigt. Ich trage schwer am Gefühl der Verantwortlichkeit, nehme es auch vielleicht mit der eigenen Innenwelt und mit den Aufgaben, die sie mir stellt, ein wenig zu schwer ...«

Er lächelte traurig vor sich hin und schien ganz zu vergessen, vor wem er sprach. Ihm war, als spräche er vor sich hin, wie er gewohnt war, es oft auf einsamen Spaziergängen zu tun.

»Meine Frau«, fuhr er fort, »wollte dann, daß ich unser neues Eigentum selbst verwalten sollte. Ihr war es seit langem ein lieber Wunsch, die Stadt zu verlassen, die sie niemals recht geliebt hat. Und schließlich hat sie wohl recht damit, wenn sie meint, auch hier ließe sich für mich Zeit erübrigen, meinen Studien zu leben. Aber je mehr ich beginne, langsam die ganze Größe dieses Besitzes zu ermessen, alle Pflichten einzusehen, die sich mir aufbürden werden, um so mehr beunruhigt mich mein Entschluß. Es ist auch alles noch ungewiß.«

»Wieso?« fragte Afra.

Er schien eine andere Antwort erwartet zu haben, ging aber gleich auf ihre Frage ein.

»Mein Verwandter teilte seine letzten Lebensjahre mit einem jungen Ding, zu dem er eine große Vorliebe gefaßt zu haben schien. Ich kenne nur ihren Vornamen, mir wurde von ihr nur als von einer gewissen Afra berichtet und daß sie die Tochter des Gärtners sei. Ein seltsam unverständlicher und außerordentlich altväterisch verfaßter Brief ist vor dem Testament in meine Hände gelangt. Er wirkt eher wie eine philosophische Lebensbetrachtung als wie das rechtsgültige Dokument einer letzten Verfügung. Das Testament selbst hat noch nicht eröffnet werden können, da ich noch Papiere beizubringen habe. Aber das ist nur noch eine Frage von Tagen.«

»Ist Ihnen so gleichgültig, was darin steht?« sagte Afra.

»Eigentlich nicht mehr. Gewiß, es ist mir wichtig.«

»Und der Brief?«

Er sah sie an.

»Interessiert Sie der Inhalt des Briefs?«

»Ja«, sagte Afra.

»Der Alte war sicherlich ein Sonderling, aber zweifellos ein Mann von hochherzigem Charakter und voller vergrübelter und verschlossener Werte. Über die Art des jungen Mädchens geht aus dem Briefe nicht viel hervor, da wohl kaum alles das tatsächlich stimmen wird, was er von ihr hielt, was der Alternde in sie hineinlegte. Aber vielleicht werden Sie mich in Einzelheiten unterrichten können? Das Kind wird Ihnen doch sicherlich zu Gesicht gekommen sein. Was mir die Bedienten sagen, war ebenso unverständlich wie mysteriös. Sie scheinen sie nicht gerade zu lieben.«

Er lächelte vor sich hin.

»Haben Sie das Gesinde nach Afra ausgefragt?«

Er erschrak über den Klang ihrer Stimme und sah sie erstaunt an. Ihre Augen glänzten hart und einsam und wiesen ihn ab.

»Verzeihen Sie, daß ich dies Thema vor Ihnen berühre, aber seien Sie versichert, die Beziehungen des alten Herrn zu diesem Kind waren derart, daß sie vor jedem Angesicht gerühmt werden dürfen. Bitte, verstehen Sie nicht falsch, was Sie zweifellos nur aus dem Klatsch Urteilsloser oder Neidischer gehört haben.«

Sie antwortete kalt:

»Solch ein Klatsch würde mich niemals erreicht haben.« Und hingerissen von einer plötzlichen Erbitterung, die sie alles vergessen ließ, fuhr sie fort: »Sprechen Sie nicht von seiner Liebe zu Afra, zu diesem >jungen Ding<, wie Sie sagen. Sprechen Sie auch nicht von seinem Wert, ich will es nicht! Lassen Sie sich an seinen äußeren Gütern genügen ...«

Ein wildes Aufschluchzen beschloß ihre heißen Worte. Sie suchte nach einem Halt. Es bot sich ihr nichts als der Hals ihres Pferdes, so warf sie stürmisch den Arm um den Nacken des Tieres und schluchzte, am ganzen Körper bebend und von Scham, Wut und Bewegung geschüttelt, ohne Halt und so friedlos und aufgelöst fort, daß ihm in heißer Bedrängnis zumute war, als sei durch kein Heil von Menschenkraft je wieder etwas an diesem Unverständlichen gutzumachen, das sein ahnungsloses Herz an diesem Sommermorgen angerichtet hatte.

Und während er sich in großer Hilflosigkeit darum bemühte, das junge Mädchen zu beruhigen und den Grund ihres Leids zu erfahren, während er eine ungeordnete Fülle liebevoller und wirkungsloser Worte stammelte und sogar wagte, ihre Schulter mit seiner Hand zu berühren, dachte Afra mitten im Sturm ihrer aufgewühlten Gefühle plötzlich klar und bestimmt:

War es klug so, wie ich gehandelt habe? Ja, es war klug, und für ihn und für meine Stellung zu ihm war es zweifellos so richtig. Sie wußte nicht weshalb, wußte nicht, daß sie ein tiefes Gefühl von Schuld in das Herz dieses Mannes gesenkt hatte, den unermüdlichen Wunsch, die Schmach vor ihr abzudienen, in die er sie gestoßen hatte. Sie schluchzte leise fort, rührte sich nicht und lauschte. Über seine Worte mußte sie plötzlich lächeln, und sie schluchzte fort in der Bewegtheit des neuen Gefühls, von dem er nichts ahnte. Einmal, als das Pferd den Kopf senkte und hob, stieß ihre Schulter härter, als er es gewollt hatte, mit seiner Hand zusammen, die gar so gern ein wenig Beruhigung gebracht hätte.

Sie hob den Kopf und sah ihn an. Er trat sofort zurück.

»Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie — verzeihen Sie mir«, sagte er. »Ich weiß nicht, ich weiß in der Tat nicht, was ich verfehlt habe und wie ich es gutmachen kann.«

»Ich bin Afra«, sagte sie und fuhr fort, ihn anzuschauen. Sie senkte den Blick nicht, als sei ihr alles unendlich wichtig, was sie ihm mit ihren Worten zu erkennen gegeben hatte und wie diese Offenbarung auf ihn wirkte. Und während er sie anstarrte, dachte sie: Ich kann mich jetzt unmöglich so gelassen zeigen, wie mir zumute ist, es würde die Hälfte dessen zerstören, was ich erreicht habe, er muß denken, ich wäre sehr verzweifelt. Denn Afra fühlte nach ihrer kurzen Erfahrung nun gut und für immer, daß dieser Mann sich nur schwer und mühsam mit den äußeren Erscheinungen des Lebens abzufinden wußte und mit den Frauen noch um vieles schwerer. Es schadet gewiß nicht, noch eine Weile recht traurig zu sein, dachte sie, und während er nun zu ihr sprach, gefaßter, ernst und sehr würdevoll, mußte sie hinter ihren Händen, die sie vor ihr Gesicht geschlagen hatte, lächeln. Sie genoß den Reiz der Erinnerung an ihre harten Worte ohne Falsch, denn von allem, was geschehen war, hatte sie nichts berechnet. Wenn er jetzt sähe, wie ich empfinde, so würde er mich verachten, dachte sie. Und dann wußte sie plötzlich, daß sie ihn ein wenig geringschätzte, weil er sich täuschen ließ, weil er nicht empfand, wie es um sie stand, und weil er es nie verstehen würde.

Es ist gut, allein zu sein, dachte sie, es macht stark.

Wartalun: Der Niedergang eines Geschlechts

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