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Viertes Kapitel ‐ Wiesenleute
ОглавлениеDer Elf saß unter den Blumen. Eigentlich war es sein liebster Aufenthalt, und er kannte keine
schöneren Stunden, als in ihrer Gemeinschaft zu weilen, sein Glück erschien ihm vollkommen, wenn
die Seligkeit der Blühenden ihm seine Einsamkeit in ein Fest glücklichen Bescheidens verwandelte. Er
saß auf einem halbentrollten Farnblatt, um ihn her erhoben sich schlanke Grashalme, die
unaufhörlich schaukelten und deren feine Stimmen die sanft bewegte Luft mit leisem Rauschen
füllten. Aus der Höhe mischte sich das Summen der Insekten in dies gleichmäßige Lied, wie wir
Menschen es von den Bäumen im Wind kennen.
Es war ein reger Verkehr im Graswald, und zwischen den vielerlei Kräutern zogen die Tiere ihre
Straße, alle beschäftigt und eifrig, aber fröhlich um des heiteren Tags willen. Man glaubt es kaum,
was alles lebt auf einem so kleinen Fleckchen Erde, wie der Elf es von seinem Platz aus übersah. Käfer
in den prächtigsten, schillernden Farben, Ameisen, Waldschnecken, geflügelte Würmchen und die
zahllosen kleinen Tiere, die auf den Pflanzen leben, von ihren Blättern oder ihrem Blütenstaub. So
winzige Erdbewohner waren tief im grünen Schattengrund beschäftigt, daß man sie für gewöhnlich
nur erblickt, wenn man lange Zeit aufmerksam hinschaut. Sie unterscheiden sich in ihrer Art und
Lebensgewohnheit ebensosehr voneinander, wie es größere Tiere tun, in ihren Interessen, ihrer
Gestalt und Farbe.
Es war leicht zu spüren, daß die Tiere des Graswalds viel kecker und beweglicher waren als die
Blumen, die voll Schüchternheit und geduldig auf ihr Geschick harrten. Der Elf beugte sich tief über
ihre Kelche, deren Licht und Farbe sich in seinem zarten Gesicht widerspiegelten, er sog ihre Frische
ein, ihren Duft, und als er vernahm, was ihre heimlichen Wünsche waren, rief er die Bienen zu ihnen.
Zwei kleine Käfer stiegen miteinander in den goldstrahlenden Kelch einer Blume hinab, beinahe
betäubt von dem warmen Duft und ganz in das Blütenlicht eingehüllt. Die Blume zitterte leise und
atmete schwer und tief.
»Elf, lieber Elf,« flüsterte sie, »was geschieht mir? Ich bin so glücklich.«
Der Elf nickte ihr mit glänzenden Augen zu.
»Der Frühling,« antwortete er, »der Frühling! Er durchdringt dein Wesen durch und durch. Halt still,
Liebe.«
Die Düfte, die der Waldwind heranschaukelte, wechselten ohne Aufhören, und dem Elfen war, als
trüge ihn die eine Sehnsucht unvermerkt in das Wunderreich der anderen. Eine selige Welt
vertauscht sich gegen die andere, dachte er, ich schließe meine Augen und bevölkere sie aus meinem
Herzen.
Dieser Wechsel verzauberte sein Gemüt immer wieder aufs neue, und er träumte fort in Farben,
Licht und Düften, unter den Liedern der Vögel. Wenn der Wind den Geruch der wilden Rosen aus
dem Gesträuch zu mir trägt, und ich lausche dem Gesang des Rotkehlchens, dachte er, so ist das Herz
auf ganz andere Art im Lieblichen geborgen, als wenn ich den kühlen Hauch des Flieders spüre und
höre die Amsel flöten. »Trag mich von Freude zu Freude, du warmer Frühling,« sagte er, »aber
behüte mein Herz, damit es nicht vor Glück zerspringt.«
Das Summen der Insekten über den Blumen klang hinter den lichtroten Vorhängen seiner
geschlossenen Augenlider wie fernes Orgelbrausen, in das aus noch größerer Ferne das Meer zu
rauschen schien. Es vermischte sich mit dem Flüstern der Blätter, den kaum vernehmbaren Stimmen
der Gräser und dem Läuten der Blumen, das so fein erklingt, daß ein menschliches Ohr es nur nach
langem, tiefem Warten erlauschen lernt.
Die Güte und der Reichtum der Natur überwältigten das Elfenkind. »Seid gesegnet, meine Sinne,«
rief es, »meine Augen, mein Gehör und du mein Herz, du Quelle und Pfand meines irdischen Wohls.
In den Augen wohnt der rasche Blick, der zu entflammen und froh zu ruhen vermag, der das Licht bis
tief in die Kammern des Herzens führt. Ich fühle die Berührung des Lebens mit allen Gliedern, wie das
Wasser den Windhauch spürt, der seine Oberfläche bewegt, jeder Sinn hat sein seliges Amt, aber du
hast das herrlichste, mein Herz, in dir wohnt das Heimweh.«
***
Die Fülle nahm nun von Tag zu Tag zu, das Blühen wollte kein Ende finden, immer wieder kamen
neue Tiere auf der Waldwiese an, verweilten für kurz oder lange oder blieben auch für immer. Eines
Morgens fand sich ein Wildtaubenpaar ein, man hatte sie schon von weitem lachen und plaudern
hören, die zwei, sie machten einen sehr glücklichen Eindruck. Die Linde, überhaupt der ganze Platz
schien ihnen ausnehmend zu gefallen, sie flogen innen im Baum von Ast zu Ast, untersuchten die
alten, dürren Stümpfe der abgebrochenen Zweige und prüften jedes Baumloch im Stamm. Als sie
aber merkten, daß eine Eule im Baum wohnte, wurden sie nachdenklich.
»Schon wegen des Bachs, wegen der Nähe des Wassers hätte ich hier gern gewohnt,« meinte die
junge Frau betrübt, »man hat es so bequem morgens mit dem Bad, und dann auch an der einen Seite
die Weite der Felder, an der anderen den dichten Wald; der Ort hat viel für sich. Sieh unten das Moos
im Sonnenlicht!«
»Ich lebe nicht mit einer Eule zusammen,« antwortete ihr Mann, »aus solcher Nachbarschaft
entsteht nichts Gutes. Ich habe nichts gegen die Eulen, ich verfolge sie nicht, aber sie sind mir
unheimlich.«
Und sie flogen mit lautem Flügelschlagen, das man noch lange in der Waldstille hörte, über die
Bäume hin, davon.
In der Frühe sah man bisweilen den Bussard zwischen den Stämmen jagen. Er flog lautlos und
geheimnisvoll, seine scharfen, farbigen Augen suchten am Boden, und seine graubraunen Schwingen
bewegten sich groß, feierlich und kraftvoll. Es war ein herrlicher Anblick, den mächtigen Vogel zu
beobachten, der allein lebte, vom Raub, in seiner Waldfreiheit.
Eines Tages kam eine Katze, o Gott! Sie setzte sich mitten auf die Wiese in die Blumen, blinzelte und
putzte sich sorgfältig und so arglos, als gäbe es in der Welt für sie keine Gefahr, und als habe sie
niemals einen bösen Gedanken gehabt. Es wurde eine Weile auffallend still auf der Waldwiese, nur
der Bach kümmerte sich nicht um das Tier, er rauschte fort, die kleineren Geschöpfe aber bekamen
zum größten Teil Herzklopfen. Wer ein sicheres Versteck hatte, beobachtete die Katze mit Spannung.
Es läßt sich auch in der Tat kaum etwas Schöneres denken, das zugleich mit so viel Schrecknis
verbunden ist, als eine Katze. Natürlich, wer sich gegen sie wehren kann, wer stärker oder
geschwinder als sie ist, der sieht und nimmt nur ihre anmutigen Seiten, deren sie viele hat, und
begreift nicht so rasch das Entsetzen, das sie kleineren Geschöpfen einflößt. Aber wenn man in
Betracht zieht, daß manche Tiere, denen sie nachstellt, kaum größer sind als eine ihrer Pfoten, so
begreift man eher, welchen Schrecken die Katze verbreiten kann.
Ganz besonders über diese Katze wäre vieles zu erzählen; es ist schade, daß es hier nicht angeht. Sie
war ursprünglich unter Menschen gewesen und ist auch in ihrer Gemeinschaft geboren und
aufgezogen worden. Aber dann wechselte der Besitzer des Hofes, auf dem sie lebte, und da Katzen
meistens eher an dem Ort hängen, an welchen sie gewöhnt sind, als an Menschen, so war auch diese
Katze geblieben; aber sie traf es schlecht mit den Nachfolgern der ausgewanderten Bauersleute und
entschloß sich deshalb eines Tages kurzerhand, ihr Heil in der Freiheit zu suchen. Sie hatte einen sehr
schweren Winter hinter sich und war oft drauf und dran gewesen, zurückzukehren, aber nun, mit
dem eingekehrten Frühling, schien ihr Los ihr beneidenswert.
Uku, die alte Eule, sah von ihrer sicheren Baumhöhle aus auf die Katze nieder. Die grünlichen Augen
waren wie zwei harte, glänzende Metallplättchen, alles an der Katze, auch das prächtig gestreifte
Fell, war auf das sauberste gehalten und so wohlbestellt, gesund und anmutig, daß es ein Entzücken
war. Uku sah, wie die Pfote am Gesicht entlang glitt und wie die kleine rosa Zunge die weichen
Härchen des Fells glättete. Nachdenklich sah der weise Vogel auf die Katze nieder. Wer würde
vermuten, dachte er, daß dies zärtliche Tier vom Wipfel eines Baumes oder vom Giebel eines Daches
niederspringen kann, ohne Schaden zu nehmen, wer ahnt hinter dieser kindlichen Gebärde die
Wildheit, die sie verbirgt, die geschmeidige Kraft und die unbeugsame zähe Eigenart der Katze? Ist es
so bestellt, daß sich mit der größten Kraft und Wildheit solch arglose Gebärde des Spiels und der
Harmlosigkeit vereinen kann, mit diesem Lächeln die furchtbarste Blutgier und mit soviel Anmut die
Falschheit?
Uku konnte nicht aufhören, die Katze zu betrachten, und sie dachte lange und sehr scharf über sie
nach, wie es so Art der Eulen ist. Sie weiß die größten und bissigsten Hunde in Respekt zu halten,
dachte sie, ja in manchen Fällen selbst den Menschen, und sieht doch aus wie ein schüchternes Kind.
Wie sie den Schein der Sonne genießt! Es ist wirklich sehr schwer zu sagen, was gut oder was böse ist
in der Natur, ich glaube, man kann es nur für sich selbst und sein eigenes Handeln wissen.
Wie ungebrochen sind diese harten Augen, wild und rein, fuhr sie fort zu sinnen, sie werden eines
Tages brechen, wie ein edler Stein unter einem Hammer, aber sie werden sich nicht trüben. Man
muß sagen, Uku kam geradezu in Begeisterung, und da eine Katze alles andere eher ist als die
Freundin der Eulen, so war diese Anerkennung des Vogels um so erstaunlicher. Aber Uku hatte
Grund, über die Katzen nachzudenken, sie hatte vor Jahren einmal zur Nachtzeit eine Katze sterben
sehen, die, von der Kugel eines Bauernsohns getroffen, auf dem Hof ihr Leben lassen mußte, auf dem
damals auch Uku viel verkehrte. Es war Mondschein gewesen, der junge Mensch stellte den Katzen
nach, weil sie seinem kleineren Federvieh Schaden taten. Seine Kugel ging der Katze durch die Brust,
schlug durch und öffnete sie an zwei Stellen. Das Tier war auf einen Baum geflüchtet, und anfänglich
hätte man glauben können, sie sei nicht verwundet, aber dann löste sich langsam, man möchte sagen
Kralle für Kralle, ihr schöner gefleckter Leib von dem Ast, den sie umklammert hielt. Es kam kein Laut
über ihre Lippen, erst am Fallen sah man, daß sie keine Gewalt mehr über ihren zähen, wohlgeübten
Körper hatte. Am Boden, im schrägen Mondlicht kreiste sie im Gras, und nun, wie mit ihrem letzten
Atem, kam ein Geschrei aus ihrem Mund, das Ukus Herz erstarren ließ, und der junge Mensch, der
herzugeeilt war, sprang betroffen zurück, als dieser Todeston sein Ohr traf. Es war ihre erste und
zugleich ihre letzte Klage, es war, als habe sie zu Lebzeiten das Klagen nicht gelernt. Dreimal
hintereinander stieß sie diesen langgezogenen Schrei aus, der keine leiblichen Schmerzen zu verraten
schien, sondern den wilden Wehelaut um ihr schönes, starkes Leben.
Die Natur umher lauschte wie in einer jähen Ahnung ihres Geschicks auf. Es ist furchtbar, die
Mächtigen im Tode schreien zu hören. Und doch hatten diese Töne nichts Jämmerliches, es lag kein
Hilferuf darin, kein Flehen um Erbarmen, sondern viel eher war es das metallische Verklingen der
gebrochenen Kraft; unbeschreiblich einsam durchdrang es die Mondnacht.
Voll Grauen war Uku damals auf und davon geflogen, tief bewegt von diesem Erlebnis und doch nicht
einzig entsetzt, sondern zugleich wunderbar erhoben. Sie hatte wieder und wieder denken müssen:
Wie gewaltig ist das Leben, das sich auch in mir offenbart, wie gewaltig ist der unvermeidliche Tod.
Man wird nun viel besser verstehen, weshalb sie so lange und nachdenklich auf die Katze schauen
mußte, die auf die Waldwiese gekommen war. Sie blieb übrigens nur für kurze Zeit und, soviel ich
weiß, ist sie nicht wiedergekommen.