Читать книгу Unter der Sonne geboren - 1. Teil Der kleine König - Walter Brendel - Страница 7
Der verhasste Vater
ОглавлениеLudwig, der Vater des Sonnenkönigs, kam am 27. September 1601 in Fontainebleau zur Welt. Nach 50 Jahren war er der erste Dauphin, der in Frankreich geboren wurde. Er wuchs fern vom Hof unter der Obhut der Madame de Mouglat und des Leibarztes Jean Héroard auf. Letzterer führte ein genaues Tagebuch und hinterließ damit ein einzigartiges Dokument über die Prinzenerziehung aus einer Zeit, die kaum schriftliche Quellen über Kinder kennt. Das empfindsame Kind litt unter der strengen, durch Schläge geprägten Erziehung und der Trennung vom vergötterten Vater.
1615 dann die Hochzeit mit der spanischen Prinzessin Anna von Österreich. Während seine Schwester Elisabeth (1602–44) mit dem spanischen Thronfolger, dem späteren Philipp IV. von Spanien (1621–1665) vermählt wurde.
In ihrer Eile, die Hochzeit vollzogen zu sehen, verschloss die Regentin, Maria von Medici, die Augen vor der Tatsache, dass Ludwig für diese Prüfung noch in keiner Weise bereit war. Mit fünfzehn Jahren - der König war so alt wie die Braut - war Ludwig ein schmächtiger, bartloser, überaus schüchterner Jüngling, der die Schwelle der Pubertät noch nicht überschritten hatte. Obwohl seine Ängste nur allzu offensichtlich waren, geleitete Maria ihn am Abend des Hochzeitstages in einer Prozession in das Schlafgemach der Braut und zwang ihn, in das Ehebett zu steigen. Dann zog sie die Vorhänge des Baldachins zu und entfernte sich mit ihrem Gefolge.
Zwei Stunden später kehrte Ludwig in sein Zimmer zurück und zeigte seinem Leibarzt seine gerötete Eichel, wobei er erklärte, er habe es „zweimal getan“. Von Heroard nach der Reaktion der Braut gefragt, berichtete er nur: „Ich habe sie gefragt, ob sie wollte, und sie hat ja gesagt.“ Schwer zu sagen, ob er bewusst log, oder ob es die Unerfahrenheit war, die ihm verwehrte, sein Scheitern zu ermessen. Sicher ist, dass mehr als vier Jahre vergehen sollten, bevor er sich dem Ehebett ein zweites Mal näherte und Anna endlich in jeder Hinsicht zu seiner Frau machte.
Um seine Schüchternheit, seine Angst vor Frauen, seinen Widerwillen vor Körperlichkeit und seine sexuellen Tabus zu überwinden, hätte Ludwig ermuntert werden müssen, sich mit seiner jungen Frau vertraut zu machen, indem man ihm gestattete, so oft wie möglich mit ihr allein zu sein und sie auch bei der täglichen Aus-übung der königlichen Amtsgeschäfte an seiner Seite zu haben.
Aber genau das war es, was seine Mutter fürchtete. Maria wollte ihren Einfluss auf den Sohn mit niemandem teilen, darum hatte sie nicht die Absicht, der neuen Königin, die nach der Etikette einen höheren Rang einnahm als sie, den Vortritt zu lassen. Noch weniger aber wünschte sie, dass Ludwig durch das Eheleben endlich erwachsen wurde und seine Verantwortung als Herrscher in vollem Umfang wahrnehmen konnte. Darum tat sie alles, um die beiden Ehegatten so häufig wie möglich zu trennen, behandelte sie wie Bruder und Schwester statt wie Mann und Frau und beschränkte ihre Begegnungen auf kurze protokollarische Besuche. Außerdem versäumte sie keine Gelegenheit, die Schwiegertochter in den Augen des Sohnes in ein schlechtes Licht zu rücken, eine Sabotage, die nach ihrer Rückkehr aus dem Exil in Blois systematische Formen annahm: „Die Königinmutter“, schrieb Madame de Motteville, die Gesellschaftsdame Annas von Österreich, „war überzeugt davon, dass sie nur dann absolute Macht über den jungen Prinzen besaß, wenn seine Gemahlin, die Prinzessin, mit ihm nicht im Einklang war, daher bemühte sie sich mit großem Eifer und mit Erfolg, das gegenseitige Unverständnis der Eheleute aufrechtzuerhalten, so dass die Königin, ihre Schwiegertochter, von nun an weder Wertschätzung noch irgendeine Liebenswürdigkeit erfuhr.“
Was sich in den drei Jahren des ersten Bruchs mit dem Sohn ereignete, bestätigte Maria in ihren Überzeugungen. Während ihrer Abwesenheit erlebte das königliche Paar nämlich einen ersten glücklichen Moment. Obwohl er vom Herzog von Luynes mit Gewalt in das Bett der Gemahlin gezogen werden musste, benahm Ludwig sich am 25. Januar 1619 endlich wie ein Ehemann. Dem venezianischen Botschafter zufolge soll er bei dieser Gelegenheit zu Anna gesagt haben, dass „er ihr ganz angehören würde, dass er niemals eine andere Frau anrühren würde und dass er Kinder mit ihr haben wollte“.
Ob wahr oder falsch, diese Erklärung wird unterstützt durch die Tatsache, dass sich das Verhalten des Königs gegenüber seiner Frau sichtbar wandelte. Er blieb zwar misstrauisch, rätselhaft und unberechenbar, aber das hinderte ihn nicht daran, höflich, fast galant mit Anna umzugehen und bereitwillig mit ihr an den höfischen Vergnü-gungen teilzunehmen. Doch diesem glücklichen Zustand war keine Dauer beschieden. Wahrscheinlich war Ludwig enttäuscht, dass der ersehnte Thronfolger nicht kommen wollte, und die Erfolge, die seine Frau überall durch ihre Freundlichkeit, ihre Anmut und Umgänglichkeit einheimste, ließen ihn gewiss spüren, wie weit er selbst von solchen Qualitäten entfernt war. Doch der eigentliche Todesstoß für seine Ehe sollte die Versöhnung mit der Mutter sein.
Kaum an den Hof zurückgekehrt, sorgte Maria de' Medici erneut dafür, dass das Paar getrennt wurde. Als sie dann endgültig ins Exil gehen musste, setzte Richelieu ihre heimtückische Verleumdungskampagne gegen Anna fort. Sich Ludwigs Vertrauen zu erhalten, mit seinen Zweifeln, seinem Misstrauen, seinen charakterlich bedingten Stimmungsschwankungen fertig zu werden, war für Maria wie für Richelieu eine zu schwierige Aufgabe, als dass sie einer Ehefrau hätten erlauben können, die Lage noch komplizierter zu machen. Betrübt unterwarf sich der junge König ihren Forderungen und opferte Anna der Staatsräson. Einmal vertraute er einem Höfling an, die Königin erscheine ihm sehr schön, aber „er wagte es nicht, ihr seine Gefühle zu zeigen, aus Angst, der Königin, seiner Mutter, und dem Kardinal zu missfallen, deren Ratschläge und Dienste er nötiger habe als die Liebe seiner Frau“. Bald sollte auch diese heimliche Zuneigung vollständig verschwinden, an ihre Stelle traten Bitterkeit und Misstrauen.
Der Name Richelieus ist vielen aus dem Roman „Die drei Musketiere“ von Alexandre Dumas d. Ä. bekannt. Dort ist der Kardinal der finstere Gegenspieler der Helden, der dem englischen Premierminister Buckingham die Liebe Annas von Österreich (der Königin) neidet. Anna begeht den Fehler, dem Herzog von Buckingham bei einem geheimen Stelldichein ein Liebespfand zu geben, ein Kästchen mit 12 Diamantnadeln, das sie selbst als Geschenk vom König erhalten hatte.
Als Richelieu davon erfährt, lässt er Buckingham zwei dieser Nadeln durch eine Agentin stehlen.
Dann bewegt er den König dazu, die Königin zu einem Ball zu bitten, wo sie ebendiese Diamantnadeln tragen soll. D’Artagnan muss mit Hilfe seiner Freunde die Nadeln noch vor dem Ball aus England zurückholen, damit Richelieu die Königin nicht öffentlich bloßstellen kann.
Das Grundthema dieser Handlung, die Diamantnadelnaffäre, findet sich allerdings nicht erst bei Dumas. Schon der Dichter La Rochefoucauld berichtet diese Episode in seinen Memoiren. La Rochefoucauld war sowohl ein enger Vertrauter der Königin und Herausgeber ihrer Memoiren als auch der Geliebte ihrer langjährigen Busenfreundin, der Madame de Chevreuse. Daher ist es durchaus denkbar, dass sich die Affäre tatsächlich zugetragen hat.
Als Richelieu starb, empfand Ludwig längst nur noch Abneigung gegen seine Frau, wie Madame de Motteville schreibt: „Der Kardinal hatte so gründlich dafür gesorgt, sie in seinen Augen zu diskreditieren, dass er ihr kein einziges zärtliches Gefühl mehr entgegenbringen konnte und es nicht mehr gewohnt war, sie gut zu behandeln.“ Die Memoirenschreiberin verzichtet allerdings darauf, zu erklären, dass das, was beträchtlich zu Ludwigs Abwendung von seiner Frau beitrug, eine immer auffälligere Vorliebe des Königs für junge Epheben war.
Anlässlich der Erklärung der Volljährigkeit des Dauphin und auf Druck von Heinrich II. von Bourbon, Prince de Condé, dem nächsten Anwärter auf den französischen Thron wurden 1614 (zum letzten Mal vor der Französischen Revolution) die Generalstände
einberufen. Der junge König wurde aber trotzdem als „das kindischste Kind“ von der Regierung und dem Rat ferngehalten. Die Generalstände wurden jedoch die erste öffentliche Plattform für Jean Armand du Plessis, den ehrgeizigen Bischof von Luçon, der als Kardinal Richelieu in die Geschichte eingehen sollte.
Der neue Minister schwenkte auf den nationalen (gallikanischen) Kurs und ging auf Konfrontation mit Habsburg, den Granden und den Hugenotten. Er verantwortete die dynastische Verbindung mit England, ließ päpstliche Truppen aus dem Veltlin vertreiben, unterstützte die protestantischen Gegner der Habsburger im Deutschen Reich und brach die politisch-militärische Macht der Hugenotten durch die Eroberung von La Rochelle (1627–1628).
Ludwig XIII. und Kardinal Richelieu vor La Rochelle
Der Kardinal stand damit bald einer immer größeren Front an Gegnern gegenüber, in die sich mit der Zeit auch seine einstmalige Gönnerin Maria de Medici einreihte.
In den letzten zwölf Jahren seines Lebens erlebte Ludwig XIII., wie unter der gemeinsamen Herrschaft mit Richelieu die Macht Frankreichs und die Macht des Königshauses in Frankreich immer weiter gestärkt wurden. Den Triumph über Kaiser und spanischen König aber bezahlte der tief religiöse König mit schweren Gewissensbissen. Die Knebelung des aufrührerischen Adels wurde mit dem Blut seiner Verwandten, seine Autorität durch die Hinrichtung seines letzten Favoriten, Henri Coiffier de Ruzé, Marquis de Cinq-Mars, erkauft. Durch die Geburt zweier Söhne war der dynastische Fortbestand des Königshauses gesichert. Seine Ehe blieb jedoch unglücklich, und er hegte Zweifel, ob diese Kinder von ihm waren.
Ludwig XIII. wollte bereits in jungen Jahren als Ludwig der Gerechte (Louis le Juste) in die Geschichte eingehen. Gerechtigkeit allerdings nicht im modernen Sinne von verständnisvoller Milde, sondern im Sinne von patriarchaler Wiederherstellung von Gesetz und Ordnung. Ein verständlicher Wunsch nach jahrzehntelangen Bür-gerkriegen und seinen Erfahrungen mit der nachgiebigen „Scheckbuchdiplomatie“ seiner Mutter und zerstörerischen Partikularinteressen von Hochadel, Hugenotten und den „ultramontanen“ Anhängern von Papst und spanischem König. Ludwig XIII. und sein Minister leisteten wesentliche Schritte auf dem Weg Frankreichs zur kontinentalen Vorherrschaft und zum Absolutismus.
Das Bild der Person und des Herrschers Ludwig XIII. ist bis heute – trotz guter Quellenlage – stärker durch literarische Fiktion als durch die Geschichtswissenschaft beeinflusst. Das Bild vom schwächlichen, uninteressierten und naiven Trottel, der das Objekt der Manipulation des ebenso genialen wie intriganten Ministers Richelieu war, wurde durch „Die drei Musketiere“ von Alexandre Dumas geprägt und durch zahlreiche Verfilmungen gefestigt.
Tatsächlich war Ludwig XIII. eine schüchterne Persönlichkeit, die sich in Gesellschaft nicht wohl fühlte und zum Stottern neigte. Gleichwohl besaß er einen starken Willen und die Fähigkeit, entschlossen und (auch gegen die eigenen Gefühle) rücksichtslos zu handeln.
Er befand sich im ständigen Spannungsfeld zwischen dem eigenen Anspruch an seine Rolle als absoluten Monarch und seinen privaten Neigungen. Von ihm stammt das Zitat: „Ich wäre kein König, leistete ich mir die Empfindungen eines Privatmannes.“
Dass er homosexuell war, gilt als ziemlich sicher.
Unter der ehrpusseligen Eifersucht des Monarchen hatte nicht zuletzt auch sein Minister zu leiden, der stets in dem Bewusstsein regierte, dass er seine Position allein dem Wohlwollen des Königs zu verdanken habe. Ludwig behielt sich die Entscheidung in allen wichtigen Angelegenheiten stets vor. Von Richelieu stammt der berühmte Satz: „Ganz Europa bereitet mir nicht so viel Kopfzerbrechen wie die vier Quadratmeter des königlichen Kabinetts.“
***
Auch an jenem Regentag, als Ludwig zu seinem Vater befohlen wurde, trug er ein Kleidchen aus hellgrüner Spitze mit breiten Seidenmanschetten und einer seidenen Schürze. Dazu ein Spitzenhäubchen, dessen Bänder seine Gouvernante Madame de Lansac unter seinem Kinn quälend fest verknotet hatte, damit die Ohren des Kindes brav bedeckt blieben und die gestrenge Majestät keinen Grund zur Klage fand.
Fast jeden Tag verlangte sein Vater, ihn zu sehen. Nicht zu einer bestimmten Stunde, sondern immer dann, wenn es ihm gerade passte. Dann schickte er seinen Kammerdiener in die Gemächer der Königin. Ein Klopfen an der Tür genügte, und Ludwig wurde weggerissen von dem, was er gerade tat. Man weckte ihn oder schlug ihm den Löffel aus der Hand. Man zerrte ihn von seinen Spielen fort oder hob ihn aus der Wanne und streifte ihm gewaltsam eines der Besuchskleidchen über, gegen die er sich wehrte, weil er längst aus ihnen herausgewachsen war. Niemand kümmerte sich darum, dass er schrie und weinte. Was zählte, war allein der Wille seines Vaters, des Königs.
Einmal würde Ludwig selbst König sein, hatte ihm seine Mutter erklärt, und er hatte längst begriffen, was das bedeutete: Niemand würde mehr das Recht haben, ihn zu stören oder ihm auch nur zu widersprechen. Was er verlangte, würde geschehen. Doch dafür musste sein Vater erst sterben. Wenn Madame de Lansac ihn über die Korridore schleifte und in die Bibliothek seines Vaters schob, presste Ludwig das Kinn gegen die Brust, starrte trotzig auf die Füße des Vaters und wünschte seinen Tod herbei.
Der kleine Ludwig
Es war immer das Gleiche: Sein Vater versuchte, ihn für sich zu gewinnen. Er zeigte ihm Bücher und Landkarten und schenkte ihm Zinnsoldaten, Bälle oder ein Holzschwert. Doch der Knabe in seinem Mädchengewand hob nicht einmal den Blick, sondern wartete nur darauf, dass die Enttäuschung des Vaters in einen seiner Hu-stenanfälle mündete, an denen er fast erstickte und die endlich dafür sorgten, dass er von seinem Sohn abließ.
Seit zwanzig Jahren schon zerfraß die Tuberkulose Lunge und Darm des Königs. Die Schmerzen ließen ihn die Welt hassen und den Tod herbeisehnen. Erst ein heftiger Regensturm, der ihn eines Nachts im Louvre bei der damals von ihm getrennt residierenden Königin festhielt, hatte das Wunder vollbracht, dass er sich trotz seiner Abneigung neben ihr zur Ruhe legte. Alle im Schloss beteten, dass endlich ein Thronfolger gezeugt würde, und so geschah es auch. Ludwig kam zur Welt, ein Kind der Kälte und der Zwietracht, und doch gesund und kräftig wie kaum ein anderes. Zwei Jahre später wiederholte sich das Wunder. Die Glocken läuteten, als der Son-nenschein Philippe den ersten Schrei tat.
„Nun sind wir doppelt abgesichert“, sagte der König ungewohnt versöhnlich zu seiner Gemahlin, die abgekämpft in ihrem Bett lag. Sie antwortete nicht. Noch immer dröhnten in ihren Ohren die Worte, die er zum Arzt gesprochen hatte, als ihre Bedrängnis am größten war: „Retten Sie das Kind! Die Mutter werden wir ver-schmerzen können.“
Sie hasste ihn, und er hasste sie, und ihr älterer Sohn stand auf Seiten der Mutter. Erst wenn der Vater nach Luft rang und sich vor Schmerzen krümmte, entspannte sich das Kind, und erst wenn der König um sein Leben kämpfte, lächelte der Kleine.
Ein einziges Mal entdeckte der König dieses Lächeln. Mitten in einem der quälendsten Erstickungsanfälle, die er je erlebt hatte, fiel sein schmerzverschleierter Blick auf das Kind, das vor ihm stand und ihn voller Genugtuung beobachtete wie ein Insekt, dem man die Beine ausgerissen hat. Wäre er jetzt gestorben, das Begriff der König in seiner Not, das Kind hätte gelacht.
Von einem Augenblick zum anderen hörte der Anfall auf. Mit einem endlos langen Atemzug füllte der König seine verkrampfte Lunge. Ein paar Mal keuchte er noch, den Mund weit geöffnet. Dabei beobachtete er seinen Sohn, der sofort seinem Blick auswich und wieder zu Boden starrte.
„Du kleiner Teufel!“, flüsterte der König heiser und vergaß, dass er sich einst über die Geburt dieses Kindes gefreut hatte! Gefreut bis zur Glückseligkeit. „Dieudonne“ hatte er als zweiten Namen für den Knaben bestimmt. Der Gottgeschenkte - obwohl seine Gemahlin vorsichtig Einspruch dagegen erhoben hatte, weil es im Volk Brauch war, unehelich Geborene so zu nennen. „Ich werde dich lehren, mich so anzusehen!“ Die Stimme des Königs gewann an Kraft. „Ich werde dich wegholen von deiner Mutter und ihren albernen Weibern, die dich aufhetzen. Du wirst noch lernen, wem du zu gehorchen hast.“
Das Kind sah ihn nicht an. Da packte der König sein Kinn und riss es hoch, dass die Wirbel im Nacken leise knackten. „Schau mich an!“, schrie er. „Schau mich an, deinen König, dem du alles verdankst!“
Doch Ludwig presste die Lider zusammen. Tränen traten aus seinen Augenwinkeln, aber kein Ton kam über seine Lippen. Da ließ ihn der König los, holte aus und schlug ihn auf die Wange, dass das Kind zu Boden stürzte. Gleich jedoch raffte es sich wieder auf, rannte zur Tür, riss sie auf und floh hinaus auf den Korridor.
Die Wache eilte herein und wartete auf einen Befehl. Doch der König saß zusammengesunken auf seinem großen Sessel und starrte zu Boden. „Kümmert euch nicht um ihn!“, sagte er dumpf. „Ich will ihn nicht mehr sehen.“
Unterdessen stolperte Ludwig schluchzend den Korridor entlang. Weg, nur weg von seinem Vater, dessen Zorn er mehr fürchtete als alles andere! So jung er noch war, begriff er doch, dass er Schuld auf sich geladen hatte, als er die Leiden des Vaters verspottete. Täglich wurde ihm eingeschärft, es sei das strengst aller Gebote, Vater und Mutter zu ehren. Die Mutter sagte es ihm, bevor sie ihn seinen Besuchen in der königlichen Bibliothek überließ. Der Kardinal Mazarin sagte es ihm und auch die Kammerfrauen. Alle. Es war eine Todsünde, den Vater nicht zu ehren. Man kam in die Hölle, wenn man gegen das göttliche Gebot verstieß. Wie es aber in der Hölle zuging, war das Erste was man Ludwig gelehrt hatte.
In seiner tiefen Bedrängnis verfehlte Ludwig die Tür zu den Gemächern seiner Mutter. Sein Schluchzen verstummte. Er blieb stehen und sah sich um. Es war dämmrig geworden, und er fand sich nicht mehr zurecht. Die Welt war grau und unheimlich. Niemand war da, ihn zu begleiten und zu beschützen.
Vielleicht dachte er, hatte man ihn schon aufgegeben, und er würde in aller Ewigkeit durch die finsteren Gänge irren und nirgendwo mehr ankommen.
Unendlich lang erstreckte sich der Korridor mit sein vielen Abzweigungen, von denen Ludwig nicht wusste, wohin sie führten. Nirgends ein Geräusch oder eine menschliche Stimme. Ein riesiger Palast voller Menschen, doch in diesem Trakt hatte Stille zu herrschen, um die Majestäten nicht zu stören. Wäre jetzt eine Kerze aufgeflackert, hätte Ludwig geglaubt, sie würde sofort zur Flamme werden und er wäre wahrhaftig in der Hölle angelangt als Strafe für seine Sünden. Mit dem Rücken zur Wand rutschte er zu Boden. Noch immer zuckte das Schluchzen in seiner Brust, doch seine Tränen
waren versiegt. Er überlegte, ob es helfen würde zu beten, aber nach seinen Verfehlungen würde Gott ihn gewiss nicht hören.
Ludwig als Dauphin
Er wollte nicht mehr geschlagen werden, und er wollte nicht von den Frauen weggeholt werden in die raue Männerwelt des Vaters, die ihm unheimlich war. Ludwig mochte Männer nicht, besonders nicht, wenn sie alt waren und meinten, ein barscher Befehl genüge schon, dass ein Kind alles tat, was sie wollten. Bevor Ludwig an diesem Abend einschlief, dachte er, wie es wäre, einen Freund zu haben. Aber Könige hatten keine Freunde. Das zumindest hatte er von seinem Vater gelernt.
Im Laufe der Zeit gelangte Ludwig zu dem Schluss, dass sein Vater eigentlich gar kein richtiger König war, zumindest war er nicht so, wie ein König sein sollte. Wie ein solcher sich verhielt, wusste Ludwig genau, seit Madame de Lansac angefangen hatte, ihm vor dem Einschlafen Märchen vorzulesen, in denen es immer nur um Könige ging, um Prinzen, wie Ludwig selbst einer war, und um wunderschöne Prinzessinnen, die schwere Prüfungen zu bestehen hatten, bis sie endlich das große Glück an der Seite eines liebenden Gatten fanden, der natürlich auch ein König war mit einem goldenen Schloss, einem mächtigen Reich und Tausenden Untertanen, die ihn liebten und verehrten.
„Es war einmal ein König, so mächtig und beliebt bei seinem Volk, so geachtet bei all seinen Nachbarn und seinen Verbündeten, dass man sagen konnte, er sei der glücklichste unter allen Herrschern.“ So begann das Märchen von der „Eselshaut“, aus dem Madame de Lansac jeden Abend ein kurzes Stück vorlas. Zu Anfang schmollte er und verlangte nach mehr. Doch dann gewöhnte er sich an die kleinen Happen.
Wenn Madame de Lansac das Buch zuklappte, Ludwig noch einmal übers Haar strich und dann auf Zehenspitzen hinaus schlich, sah er vor seinen geschlossenen Augen den glücklichen König, und er kämpfte gegen das Bild, das sich immer wieder dazwischendrängte: sein eigener Vater, so ganz anders als der König im Märchen.
In Gegenwart des vierjährigen Kindes erörterte man ganz offen auch politische Angelegenheiten. Ludwig hockte sich dann in einer Ecke auf den Boden und gab vor, sich mit einem Spielzeug zu beschäftigen, das seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. In Wirklichkeit ließ er sich kein Wort der Gespräche entgehen. Auch wenn er den Sinn der Verhandlungen nicht verstand, hörte er aufmerksam zu, und es schien ihm, als sei alles, worüber geredet wurde, unerfreulich und bedrohlich. Die Nachbarn liebten den König von Frankreich keineswegs. Sie bekämpften ihn, vor allem der Kaiser in Wien und die Spanier, was Ludwig am meisten beunruhigte, da seine eigene Mutter die Schwester des Königs von Spanien war und damit auch in seinen Adern spanisches Blut floss.
Seit fünfundzwanzig Jahren schon, so entnahm Ludwig den Gesprächen, befand sich das riesige Europa im Krieg. Während der ersten acht Jahre hatte sich Frankreich noch herausgehalten, doch inzwischen bestimmte das Kriegsgeschehen auch die Geschicke des Landes. Was genau das bedeutete, konnte sich Ludwig nicht vor-stellen, nur dass fünfundzwanzig Jahre eine unglaublich lange Zeit waren, in der Menschen starben und Dörfer abbrannten, in der Kinder, so alt wie er selbst, Hunger litten und von allen verlassen wurden. Ein guter König wie im Märchen hätte dafür gesorgt, dass dieses Leiden ein Ende nahm. Doch Ludwigs Vater befahl seiner Armee, vorzurücken, zu belagern und zu töten. Er nannte das Volk seiner Gemahlin „diese gottverfluchten spanischen Hunde“ und wünschte ihm die Pest auf den Leib.
Wenn seine Generäle ihn wieder verlassen hatten, blieb der König mit seinem Sohn allein zurück. Dann sank er in sich zusammen, hustete und atmete schwer. Einmal weinte er sogar, vergessend, dass sein Sohn ihn beobachtete. Nur allmählich begriff Ludwig, dass sein Vater Angst hatte. Womöglich, weil die Soldaten der gottverfluchten Spanier stark waren. Womöglich, weil sich das glorreiche Frankreich in Gefahr befand.
Ein König, der Angst hatte. Angst vor der Krankheit, vor den Mühen des Sterbens und vor allem vor dem Verlust der Krone. Angst vielleicht sogar vor den eigenen Untertanen. Ludwig selbst hatte mehrere Male erlebt, dass das Volk seinen König durchaus nicht liebte und verehrte. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Ludwig mit seinen Eltern in einer Kutsche über die Landstraßen gefahren war, um die Sommertage in Fontainebleau zu verbringen, hatte er gesehen, wie das Volk von Frankreich auf den Anblick der königlichen Kutschen und des mächtigen Geleitzugs reagierte: Die Menschen in den Dörfern verschwanden wie vom Teufel gehetzt in ihren Häusern. Manchmal drohten sie mit den Fäusten und fluchten dabei, bevor sie die Türen hinter sich zuwarfen Einmal trafen sogar Steine die königlichen Kutschen und nie, niemals jubelte jemand wie in den Geschichten der Madame de Lansac. „Warum sind sie so böse?“, fragte Ludwig seine Mutter, die seinen Kopf vom Fenster wegdrehte. „Warum hassen sie uns?“
Seine Mutter zuckte die Achseln. „Es sind wohl die Steuern“, antwortete sie widerwillig. „Das Volk hat keine Lust zu zahlen. Es begreift nicht, wie viel Geld der Krieg kostet. Die Bauern versuchen alles, um sich vor den Steuern zu drücken.“
„Und was geschieht, wenn sie nicht zahlen?“
Die Königin zuckte die Achseln. „Dann veranlasst man sie dazu“, antwortete sie ausweichend. Da befreite sich Ludwig aus dem Griff seiner Mutter. Er drückte das Gesicht ans Fenster, um einen letzten Blick auf die ungehorsamen Bauern zu werfen. Den „Pöbel“ nannten die Berater des Königs das Volk, und ein paar Mal hatte Ludwig auch gehört, dass einer von der „Kanaille“ sprach, wenn er die Untertanen meinte.
König zu sein bedeutete wohl, dass man gehasst wurde. Nicht allein vom Volk, das konnte Ludwig noch verstehen, da er nichts Gemeinsames fand zwischen sich selbst und den zerlumpten Geschöpfen mit ihrer Haut in der Farbe der Erde und ihren ausgemergelten Körpern. Viel schwerer war es zu verstehen, dass ihm sogar in seiner unmittelbaren Umgebung eine Ablehnung begegnete, von der er schon früh ahnte, dass sie dem Hass der Dorfbewohner verwandt war.
Immer wieder spürte er, dass ihn die Söhne des Hochadels, die man zum Spielen zu ihm führte, bei aller Höflichkeit ablehnend behandelten und jede Gelegenheit nutzten, ihm versteckt, aber trotzdem spürbar zu zeigen, dass sie ihn nicht leiden konnten und sich ihm sogar überlegen fühlten.
„Warte nur, bis ich König bin!“, dachte er in hilflosem Zorn. Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er seinen Vater, der sich Tag um Tag bei seinem Vertrauten Kardinal Mazarin über die Unbotmäßigkeit des Adels beklagte und einen Bürgerkrieg fürchtete.
Furcht. Angst. Da war es wieder, dieses Gefühl, das wie schlechte Luft die prunkvollen Gemächer der königlichen Familie verpestete. Alle hatten Angst. Jedem misstrauten sie. Keiner in ihrer Umgebung, der nicht von einem ehrgeizigen Rivalen oder einer fremden Macht bestochen sein konnte. Jeder, der ihnen heute noch wohlgesonnen und treu erschien, konnte morgen schon zu einem der vielen Feinde übergelaufen sein, und nicht einmal untereinander - vom Verhältnis zwischen Mutter und Kindern abgesehen - herrschten Liebe und Vertrauen.
Krieg nach außen und ein drohender Aufstand von innen. Ein sterbender König und eine schwache, ausländische Königin. Ein Thronfolger sollte die Krone retten: ein Kind von nicht einmal fünf Jahren, das wie ein sehr alter, erfahrener Mensch die Gefahr längst spürte und die eigene Hilflosigkeit.
So glücklich der König über die Geburt des Stammhalters war, so offensichtlich war er bald eifersüchtig angesichts der Zuneigung seines Sohnes zur Mutter. Er machte ihr Vorwürfe, sie nehme diesen gegen ihn ein.
Seine Mutter — Anne d'Autriche, Anna von Österreich - war der einzige Mensch, bei dem sich Ludwig geborgen fühlte. Wenn sie ihn auf ihren Schoß hob und ihre Arme um ihn schloss, gab es nichts mehr, von dem er sich bedroht fühlte. In diesen seltenen Augenblicken drückte er sein rotbackiges Kindergesicht auf ihre weiche, weiße Brust, deren Dekolleté sogar an kalten Wintertagen entblößt war, und atmete den Duft ihres Parfüms aus Tausenden Rosenblättern ein. Er wickelte ihre blassgoldenen Locken um seine kräftigen kleinen Finger und bewegte sein Gesicht langsam hin und her, um die Berührung mit der zarten Haut noch intensiver zu spüren.
Manchmal hob er für einen Moment den Kopf und lächelte seiner Mutter zu, die dieses Lächeln erwiderte und ihn leise ihren „kleinen König“ nannte. Daraufhin schloss Ludwig die Augen und barg sein Gesicht wieder am Leib der Mutter. Er horchte auf ihren Atem und spürte den Schlag ihres Herzens. Sosehr die Nähe seines Vaters ihm Unbehagen bereitete, sosehr beglückte ihn die Berührung seiner Mutter.