Читать книгу Unter der Sonne geboren - 2. Teil - Walter Brendel - Страница 7
Die Infantin
ОглавлениеNicolas Fouquet und Marie Madeleine befanden sich in dem Gefolge, das den französischen König zu seiner Hochzeit mit der Infantin von Spanien begleitete. Gute vier Wochen hatte man für die Reise zur spanischen Grenze veranschlagt, wo Braut und Bräutigam einander zum ersten Mal begegnen sollten. Erst wenn ihre Trauung vollzogen war, würde der Friedensschluss zwischen den beiden Ländern auch offiziell in Kraft treten.
Im November 1659 hatten Kardinal Mazarin und Don Luis de Haro das Friedensdokument unterzeichnet. Beide erduldeten mit Gleichmut, dass ihnen die Öffentlichkeit ihrer Länder vorwarf, dem jeweiligen Kriegsgegner zu viele Vorteile eingeräumt zu haben. Doch weder der Kardinal noch Don Luis zweifelten daran, dass man sich sehr bald schon an die neuen Konstellationen gewöhnen würde und dann nur noch froh war, dass endlich die Waffen schwiegen.
So kam es auch. In einem noch nie erlebten Triumphzug bewegten sich die königlichen Karossen gegen Süden. In allen Städten und Dörfern wurden sie jubelnd empfangen.
Erst jetzt kam Ludwig zu Bewusstsein, wie sehr das Volk unter der Bürde des Krieges gelitten hatte. „Von nun an soll alles anders werden!“, sagte er zu Nicolas. Er hatte ihn zu sich in seine Kutsche befohlen, um ihn über die finanzielle Lage nach dem Krieg zu befragen. An Mazarin wollte er sich damit nicht wenden.
Er konnte sehen, dass der Kardinal gesundheitlich geschwächt war. Trotzdem gab er das Heft nicht aus der Hand. Wenn erst diese Hochzeit vollzogen war, dachte er wohl, würde man nach Paris zurückkehren, wo er sich erholen und dann endlich dem letzten Ziel zustreben würde, das er sich für sein Leben gesetzt hatte. Das höchste aller Ziele für einen Mann seines Standes: der Papsthron.
Es würde nicht leicht sein, sich diesen Traum zu erfüllen. Zu viele Hebel mussten in Bewegung gesetzt, zu viele Stimmen gewonnen werden. In Mazarins Augen war es eine Frage des Geldes und der Beziehungen. Dies war wohl auch der Grund, warum der Kardinal darauf bestanden hatte, dass Nicolas an dieser Reise teilnahm. Wenn er nicht die nötigen Mittel beschaffte, war Mazarins Traum vom Vatikan für immer ausgeträumt.
Sein eigenes Vermögen anzugreifen kam Mazarin nicht in den Sinn.
Was ihm gehörte, benötigte er als Garantie für seine eigene Sicherheit, die noch wichtiger war als jedes Amt und jede Würde.
„Es sieht nicht gut aus, Sire“, sagte Nicolas zu Ludwig, der ihm gegenübersaß. „Der Krieg hat unsere Staatskasse geleert. Unser Kredit ist erschöpft. Wenn Sie erlauben, darf ich sagen, dass ich in letzter Zeit immer öfter auf mein eigenes Vermögen zurückgreifen muss.“
Ludwig runzelte die Stirn. Es entsprach nicht seiner Vorstellung von einer Monarchie, dass die Staatskasse durch einen Privatmann vor dem Zusammenbruch bewahrt wurde. In letzter Zeit hatte sich Ludwig häufig Gedanken über die Königswürde gemacht. Oft genug hatte man ihn wegen Marie Mancini daran erinnert. Leere Kas-sen passten nicht in sein Bild von königlicher Erhabenheit. Eigentlich erschien es ihm unerträglich, dass es in seinem Reich Untertanen gab, die vermögender waren als er selbst. Ein König war das Nonplusultra in seinem Land. Es grenzte an Majestätsbeleidigung, ihn in irgendeiner Weise zu übertreffen.
Doch noch dachte er diesen Gedanken nicht zu Ende. Er blickte in das angenehme Gesicht seines Finanzministers, sah sein Lächeln und hörte seine gepflegte Stimme. Er erinnerte sich an die Perücke, die ihm Nicolas gebracht hatte, und an die vielen Bemerkungen und Gespräche, mit denen jener ihn ermutigt hatte. Ludwig gestand sich ein, dass er diesen Mann gern um sich hatte - ihn und auch seine Gemahlin mit ihren dunklen Augen und ihrem schwarzen Haar, die ihn an etwas erinnerte, das er tief in seine Erinnerung verbannt hatte und nach dem er sich wohl immer heimlich sehnen würde. Er hoffte nur, dass ihn am Ziel dieser Reise eine Frau erwartete, die es wie jene Unvergessen-Vergessene mit ihm aufnehmen konnte, die ihn mit ihrem Witz zum Lachen brachte und seine Gedanken herausforderte. Ach, Sire, es ist eine verkehrte Welt. Sie sind der König, Sie weinen, und ich gehe! Ludwig wollte nicht, dass diese Welt eine verkehrte Welt war. Oben sollte oben bleiben und unten. Da nun alles entschieden war und die Erste Prinzessin der Welt auf ihn wartete, würde er dafür sorgen, dass bald nirgendwo mehr jemand es wagte, sich ihm gleichzusetzen. Kein Regent eines anderen Landes sollte sich ihm ebenbürtig fühlen; kein ausländischer Diplomat den zuvorkommenden Gruß eines französischen erwarten, und kein Schiff auf dem Meer sollte versäumen, als Erstes zu grüßen, wenn es einem französischen Schiff begegnete.
Er hatte verzichtet und gelitten. Doch seine Tränen hatten ihn hart und klarsichtig gemacht. Er wusste nun, dass er für alle immer nur der König sein würde: Ludwig XIV. Ludwig der Mensch interessierte niemanden. Ludwig XIV. beanspruchte es als sein königliches Recht, alle zu benutzen, und wusste, dass umgekehrt alle das Gleiche bei ihm versuchen würden.
Seine künftige Gemahlin war die einzige Unbekannte in dieser Rechnung. Immer wieder betrachtete Ludwig das kleine Porträt, das man ihm von ihr geschickt hatte. Es war kein Geheimnis, dass die meisten Bilder dieser Art geschmeichelt waren. Doch auf feststehende Tatsachen, wie etwa die Haarfarbe, konnte man sich wohl verlassen. Auch den Herzog von Gramont befragte er. Gramont hatte als Sonderbotschafter dem spanischen König Ludwigs Heiratsersuchen offiziell überbracht. Bei der Audienz war er auch der Infantin begegnet. Nach spanischer Sitte durfte er, wie er Ludwig verlegen gestand, den Saum ihres Kleides küssen. „Sie ist nicht sehr groß“, berichtete er Ludwig, was dieser sofort als „ziemlich klein“ auslegte. „Sie hat ein längliches Gesicht um vollen Wangen und eine bezaubernd frische Gesichtsfarbe. Ihre Augen sind blau wie Saphire, und sie hat - wenn Majestät gestatten - einen energischen Mund.“
Ludwig wusste, was Gramont damit meinte. Die kräftige Unterlippe der Habsburger setzte sich in fast jeder Generation durch. Sie wurde schon gar nicht mehr als Schönheitsfehler angesehen, sondern vielmehr als Zeichen königlicher Abstammung. „Und Ihre Zähne?“ Unwillkürlich musste Ludwig an einen anderen Mund denken mit Zähnen so weiß, dass er manchmal gescherzt hatte, sie würden im Dunkeln leuchten.
„Verzeihung, Majestät, die Zähne habe ich nicht gesehen. Die spanischen Damen benehmen sich sehr zurückhaltend.“
Ludwig nickte, aber er war enttäuscht. Doch Gramont fiel noch etwas ein. „Ihr Haar, Majestät!“, rief er, froh, dass er doch noch etwas zu bieten hatte. „Die Infantin hat wundervolles goldblondes Haar, so dicht, dass es sich bestimmt nur mit Mühe zähmen lässt.“ Ludwig musste an seine Mutter denken. Vieles an Maria Theresia erinnerte ihn an sie. Das war wohl auch kein Wunder. Immerhin war Anna eine Tante ersten Grades ihrer künftigen Schwiegertochter, und auch davor waren die meisten Heiraten der spanischen Könige innerhalb der eigenen Familie geschlossen worden.
„Wie kleidet sie sich?“, fragte er. Er schätzte elegante Frauen. Auch bei sich selbst betrachtete er Eitelkeit als lobenswerte Eigenschaft.
Der Herzog zuckte die Achseln. „Ich fürchte, Majestät, die Spanier haben einen etwas anderen Geschmack als wir Franzosen“, antwortete er vorsichtig. „Eigentlich sind am spanischen Hof alle Damen in der gleichen Weise gekleidet. Alle in Schwarz und…..“, was er sagen wollte, war ihm sichtlich peinlich, „alle mit weiten Röcken. Sehr weiten Röcken, Sire, und sehr vielen Röcken darunter. Wenn ich so frei sein darf: Einer meiner Begleiter meinte, die spanische Mode lässt die Damen aussehen wie breite Tonnen, aus denen Pfähle emporragen.“ Er suchte verzweifelt nach einer Entschuldi-gung für die anschaulichen Worte, zu denen er sich verpflichtet gefühlt hatte.
Doch Ludwig lachte. „Das wird sich leicht ändern lassen, wenn die Infantin erst Königin von Frankreich ist, meinen Sie nicht auch, mein Freund?“
Gramont atmete auf. „Unbedingt, Sire!“, stimmte er zu. „Ihre Majestät wird mit ihrer Schönheit und Eleganz alle anderen Damen überstrahlen.“ Danach berichtete er von der hervorragenden Erziehung, die die Infantin genossen habe. Das Einzige, worauf leider verzichtet worden sei, sei die französische Sprache. „Ich nehme an, der lange Krieg war ein Grund dafür, Sire.“
Ludwig seufzte. Die ersten Unterhaltungen mit seiner künftigen Gemahlin würde er wohl auf Spanisch führen müssen. Immerhin hatte seine Mutter dafür gesorgt, dass er die Sprache ihrer Heimat lernte. Er beherrschte sie fließend, wenn auch mit starkem französischem Akzent und mit vielen Fehlern, wie Anna jedes Mal bedauernd feststellte. Doch verständigen würde man sich können, und mit der Zeit würde Maria Theresia gewiss die Sprache des Landes lernen, dessen Königin sie dann war.
Seit der Friedensschluss mit Spanien so gut wie sicher war, hatte sich vieles verändert. Als Ludwig noch mit Marie durchs Land geritten war, hatte er für kurze Zeit den Respekt des Hofes eingebüßt. Er war zu einem Gegenstand des Klatsches geworden, über den sich jeder zu äußern wagte. Man sah in ihm nicht, wie er erwartet hatte, den romantischen Liebhaber, den die Welt nie vergessen würde, sondern nur einen unreifen Jüngling, der auf eine ehrgeizige Ausländerin hereingefallen war.
Erst als Marie die Bühne verlassen hatte, wurde Ludwig wieder zum König. Bald war er es sogar mehr als je zuvor. Auch sein eigenes Verhalten trug dazu bei. Er war kühl geworden, oft sogar abweisend. Manchmal bestellte er Madame de Beauvais zu sich, Olympia oder eine andere verfügbare Dame des Hofes. Doch von nun an benahm er sich als Herr, dessen Wünschen nicht widersprochen werden durfte. Catherine de Beauvais war die Einzige, die sich von seinem Auftreten nicht einschüchtern ließ und ihm weiter mit einer Art mütterlicher Zärtlichkeit begegnete.
Sogar der Große Conde, der über sich immer nur den Himmel geduldet hatte, bekam die Härte des neuen Ludwig zu spüren. Als er zum ersten Mal wieder am Hof erschien, verspätete er sich. Ludwig bestrafte ihn dafür, indem er ihn einfach übersah. Es dauerte lange, bis er Conde dann plötzlich mit der direkten Frage überfiel, ob er beabsichtige, an der spanischen Hochzeit teilzunehmen. Dem Tonfall nach konnte man darauf schließen, dass Monsieur le Prince bei der Hochzeit nicht erwünscht war.
Alle staunten, dass er sofort verstand und einlenkte. Er habe vor, sein Schloss in Chantilly auszustatten, antwortete er. Diese Aufgabe würde ihn in nächster Zeit voll beanspruchen. Conde wusste nur zu gut, dass er in Ludwigs Augen ein Verräter war.
Hätte Richelieu noch gelebt, hätte er Conde wohl um einen Kopf kürzer gemacht, obwohl dieser doch mit einer Nichte des Kardinals verheiratet war. Conde begriff jedenfalls, dass es an der Zeit war, Demut zu üben. Vor allem diesem jungen König gegenüber, so höflich und kalt und so glatt wie harter Marmor.
Ludwig spürte, dass er anders behandelt wurde als früher. Es gefiel ihm. Als Kind hatte er oft versucht, sich so charmant zu geben wie sein Bruder Philippe. Man hatte zwar gelacht, wenn er ein Späßchen versuchte, doch eigentlich hatte er hauptsächlich Befremden geerntet. So gab er seine Bemühungen schließlich auf.
Jetzt, nach der verlorenen Liebe, betrachtete er die meisten Menschen seiner Umgebung als mögliche Feinde. In seiner schweren Zeit hatte niemand zu ihm gehalten. Somit war auch niemandem verpflichtet. Er war frei und er war der König. Er ersuchte nicht mehr, sondern er befahl. Je kühler seine Stimme dabei klang, umso beflissener gehorchte man ihm. Die Aufrührer von einst wurden handzahm. Die Fronde verschwand und war nur noch eine unangenehme Erinnerung an eine chaotische Zeit.
Auch der Tod trug dazu bei, dass die alten Verschwörer immer weniger wurden. Im Februar 1660 war Gaston von Orleans gestorben, der so gern König geworden wäre und doch immer Angst vor dem eigenen Mut gehabt hatte. Sogar noch auf dem Totenbett entschuldigte er sich bei seiner Tochter, dass er nicht streitbarer gewesen war. „Damals, am Tor von Saint-Antoine ...“, murmelte er. Doch nicht einmal seine Abschiedsworte brachte er zu Ende. Damit verärgerte er ein letztes Mal die Grande Mademoiselle. Sofort nach seinem Ableben verließ sie das Sterbezimmer.
Schon vor der Beerdigung stellte sich heraus, dass der Onkel des Königs sein Vermögen so gut wie aufgebraucht hatte. Er hatte wohl doch mehr Geld in die Fronde gesteckt, als man angenommen hatte. Ein großer Teil seines Silberzeugs musste schließlich verpfändet werden, damit die Bestattung standesgemäß über die Bühne gehen konnte.
Die Grande Mademoiselle, immer noch eine der reichsten Personen Frankreichs, weigerte sich, für die Kosten aufzukommen. Stattdessen kaufte sie sich ein märchenhaftes Collier aus zwanzig Reihen Perlen, weil Perlen so gut zur Trauerkleidung passten und außerdem in Mode waren, seit Ludwig sie seiner Liebsten zum Geschenk gemacht hatte. Die bevorstehenden Hochzeitsfeierlichkeiten würden eine gute Gelegenheit sein, mit der neuen Erwerbung zu prunken.
Das Volk hingegen beweinte Gaston, der ihm so viel Leid gebracht hatte. Bis zuletzt war er für viele ein Relikt der alten Zeit gewesen, ein Gegen-Mazarin, so Französisch, wie ein Franzose nur sein konnte.
Herzog von Orleans: Der zweitgeborene Bruder des jeweiligen Königs trug diesen Titel, zusammen mit der ehrenvoll einfachen Anrede „Monsieur“. Gastons Titel ging nun auf Ludwigs jüngeren Bruder über: Philippe. Er war jetzt der Herzog von Orleans, und wenn man von ihm sprach, sprach man von „Monsieur“.
Dem Rang nach stand „Monsieur“ nach dem König an zweiter Stelle. Sollte er sich verheiraten, wäre seine Gemahlin „Madame“ und nach der Königin die ranghöchste Dame.
So wenig wie die Grande Mademoiselle trauerte auch Ludwig um Gaston. Er bedauerte nicht, dass sein Onkel nicht mehr da war. Seine Gegenwart hatte Ludwig immer daran erinnert, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der eine andere Generation regierte. Ludwig dachte an die Sagen der Antike, Lektüre seiner Kindheit.
Auch die Götter von einst hatten ihre Vorgänger vom Thron gestürzt, so wie er nun bereit war, den eigenen Vater dem Vergessen preiszugeben und sich nach und nach dem Diktat der Älteren zu entziehen. Ludwig XIV., König von Frankreich: Man vergab ihm seine Kälte ein wenig, als man merkte, dass er sich auf „eine Hochzeit freute.
Anfang Mai brach der Hof in Richtung Süden auf, um an der französisch-spanischen Grenze mit König Philipp IV. zusammen zutreffen und mit seinem kostbarsten Gut, der Infantin Maria Theresia. Ganz Frankreich war beglückt über dieses erfreuliche Ende eines langen Krieges. Doch auch das spanische Volk war erleichtert und überhäufte die Infantin mit Segenswünschen. Während der ganzen Reise von Madrid her gab es herzbewegende Abschiedsszenen, wusste man doch, dass die junge Braut ihr Land für immer verließ. Wenn alles seinen er erwünschten Verlauf nahm, würde Maria Theresia als Königin von Frankreich ihre neue Heimat nie mehr verlassen dürfen. Käme sie dennoch zurück, würde dies bedeuten, dass ihre Ehe aus Irgendeinem tragischen Grund annulliert worden war - eine ungeheure Schande und eine Katastrophe für alle Beteiligten. Doch davon konnte an diesen bittersüßen Frühlingsta-gen keine Rede sein. Zwei Länder waren bereit, aufeinander zuzugehen, und sandten als Zeichen dafür zwei junge Menschen, die mit ihrem eigenen Bund den Friedensschluss verkörpern sollten.
Vor dem gemeinsamen Eheleben standen jedoch Tradition und Protokoll. Eine Infantin von Spanien durfte ihr Land nicht verlassen. Ein König von Frankreich das seine ebenso wenig. So musste zuallererst aus der Infantin eine Französin werden, und dies auf spanischem Boden. Eine Heirat durch Prokuration löste dieses rechtliche Problem. Sie sollte in Fuenterabbia stattfinden, wo Don Luis de Haro den Bräutigam vertreten würde.
Beide Hochzeitsgesellschaften waren inzwischen an der Grenze angelangt. Die Spanier nahmen Quartier in San Sebastian, die Franzosen in Saint-Jean-de-Luz. Ludwig, in Unkenntnis des spanischen Protokolls, versuchte, mit seiner Braut Kontakt aufzunehmen, indem er ihr einen Boten mit einem Brief schickte. Nach großem Hin und Her gelang es dem Boten, zu Maria Theresia vorgelassen zu werden. Man führte ihn in einen Saal voller Menschen. Längst schon hatte er gemerkt, wie unpassend sein Auftrag war.
Trotzdem gelang es ihm, bis zur Infantin vorzudringen. Ehrerbietig verbeugte er sich und wollte ihr das Schreiben überreichen. Sie aber blickte ihn nur entsetzt an. Es war ihm unbegreiflich, in welchem Maße sie sein Ansinnen erschreckte.
„Ich darf ohne Erlaubnis meines Vaters keine Briefe erhalten!“, erklärte sie mit zitternder Stimme. „Doch übermitteln Sie bitte der Königin meine Grüße!“ Der Bote ließ enttäuscht die Hand mit dem verschmähten Brief sinken. Noch einmal verbeugte er sich tief. Da flüsterte ihm Maria Theresia atemlos zu: „Was ich der Königin sage, kann auch für den König gelten.“
Der Bote atmete auf. Beschwingt begab er sich zurück nach Saint-Jean-de-Luz. Auch Ludwig freute sich über die Nachricht. Anna aber jubelte. „Sie liebt Sie, mein Sohn! Es besteht kein Zweifel: Sie liebt Sie!“
Am nächsten Tag, dem 3. Juni 1660, fand die Heirat durch Prokuration in einer einfachen Kirche in Fuenterabbia statt. Der große Velazquez hatte als Hofmaler des Königs das schmucklose Gebäude mit Wandteppichen, Blumen und zahllosen Kerzen veredelt. Die gesamte spanische Hofgesellschaft war anwesend sowie auch ein großer Teil der Franzosen. Ludwig und Anna als königliche Majestäten waren hinter der Grenze im eigenen Land geblieben.
Schon auf dem Vorplatz der Kirche schienen zwei Welten Unvereinbar aufeinanderzuprallen. Die Franzosen prunkten mit Ihren auffallendsten Gewändern, selbst die Herren in vielen bunten Farben. Überall sah man Borten, Federn und Bänder, und Edelsteine blitzten in der Sonne. Die Spanier hingegen schienen zeigen zu wollen, wie sehr sie das übermütige Gehabe und all die schreienden Farben verachteten. Stumm, bleich und bewegungslos wie Statuen warteten sie in der heißen Frühsommersonne auf den Einlass, schwarz gekleidet sie alle, Damen wie Herren, und als sich die Tore öffneten, schienen die Damen mit ihren weiten Röcken in die Kirche hineinzusegeln wie schweigsame Schiffe in einen schattigen Hafen.
Als König Philipp IV. mit seiner Tochter das Gotteshaus betrat, hielten alle den Atem an. Dies also, dachten die Franzosen, war der verfluchte Spanier, den sie jahrelang zur Hölle gewünscht hatten! Dieser hochgewachsene Mann, dünn und farblos wie eine Treibhauspflanze! Als Kriegshetzer und Blutsäufer hatte man ihn verunglimpft.
Erst in den letzten Wochen, auf der Reise nach Süden, hatte man erfahren, dass er Komödien schrieb und die umfangreichen Werke des italienischen Historikers Guichardin ins Spanische übersetzt hatte. Man hatte gehört, dass er eine ausführliche Korrespondenz mit der seherisch begabten Nonne Muria d'Agreda unterhielt und dass ihm nichts eine größere Freude bereitete, als seine Hauptstadt Madrid zu verschönern.
Philipp von Spanien, der einstige Feind. Wie blass er war, als er seine Tochter an der linken Hand zum Altar führte! Im Unterschied zu seinem Gefolge war er in Grau und Silber gekleidet. Auf seinem Hut funkelte ein riesiger Diamant, der „Spiegel von Portugal“. Darüber schimmerte die größte Perle der Welt, die „Pelegrina“. Ein wahrer König!, dachten die Franzosen anerkennend, und so empfanden es wohl auch die Spanier.
Auch die Braut strahlte hohe Würde aus. Sie sei schüchtern und ungeschickt, hatten die Franzosen während der Reise getuschelt. Ihrem Vater gegenüber benehme sie sich mit einer Unterwürfigkeit, die sich eine Französin nicht einmal vorstellen könne. Dass sie pummelig sei, könne jeder sehen. Doch man wisse auch, woher dieser Makel stamme: Wie verrückt sei Maria Theresia nach Naschwerk und Marmelade! Ihr ganzes Verhalten sei einer Prinzessin unwürdig. Ihre Schoßtiere behandle sie wie Kleinkinder, und zu ihrer Unterhaltung umgebe sie sich mit Zwerginnen und Hofnarren. Was aber das Schlimmste sei: Nicht einmal Tanzen habe sie gelernt!
Fast zwanghaft fiel bei solchen Gesprächen der Name Marie Mancini. Wie sollte der König nach dieser sprühenden, geistvollen jungen Frau mit einer Gemahlin leben, die keine eigenen Entschlüsse fasste und nicht einmal als Gesprächspartnerin infrage kam?
Dennoch: Heute, in der Kirche, an ihrem Hochzeitstag, entsprach Maria Theresia in keiner Weise den Klatschgeschichten, die man über sie verbreitete. An der schützenden Hand ihres Vaters bewegte sie sich anmutig und würdevoll. Es schien ihr nicht darauf anzukommen, zu gefallen. Sprachlos bemerkte die Grande Mademoiselle mit ihren zwanzig Reihen Perlen um den Hals, dass die Braut -Tochter eines großen Königs! - ein einfaches weißes Wollkleid trug. Nur ein paar Edelsteine zierten das enge Mieder, doch sonst sah man an der Infantin keinerlei Schmuck.
Die Katholische Majestät führte seine Tochter zum Altar, wo ein Samtkissen für sie bereitlag. Im Schein der Kerzen kniete Maria Theresia nieder, während ihr Vater zur Seite trat. Die Zeremonie begann. Als der Augenblick gekommen war, wo die Braut ihre Zustimmung zur Heirat kundtun sollte, erhob sich Maria Theresia und verbeugte sich tief vor ihrem Vater. „Si“, antwortete sie leise. Trotzdem hörten es alle, so still war es in der Kirche.´
Auch Don Luis de Haro, der den Bräutigam vertrat, sprach sein Ja. Damit war es vollbracht. Maria Theresia, Infantin von Spanien, war nun die Gemahlin des französischen Königs. Mit Tränen in den Augen wandte sie sich ihrem Vater zu, der sie zärtlich umarmte - für die Franzosen eine Selbstverständlichkeit, doch für die Spanier ein Wunder. Noch nie hatte jemand den König so ergriffen gesehen.
Der folgende Tag brachte für Königin Anna eine Begegnung, nach der sie sich gesehnt hatte, seit sie vor fünfundvierzig Jahren n ihre Heimat verlassen hatte. Damals hatte sie noch damit in rechnen müssen, ihren Bruder Philipp niemals wiederzusehen. Durch den langen Krieg war es dann sogar noch schlimmer gekommen. Als Königin von Frankreich durfte sie nicht einmal mehr in familiärer Weise über ihn sprechen. Philipp, mit dem sie als Kind gespielt und gelacht hatte, war am französischen Hof für jeden außer ihr ein Monstrum, fast so schlimm wie der Teufel selbst.
Nun aber würde diese schwere Zeit ein Ende haben. Schon Tage vor dem ersehnten Zusammentreffen hielt die Königin den Atem an, wenn sie an das bevorstehende Wiedersehen dachte. Sie freute sich über alle Maßen und konnte es kaum erwarten.
Zugleich aber hatte sie Angst davor. Als junges Mädchen hatte Philipp sie zuletzt gesehen. Nun aber war sie eine Frau von bald sechzig Jahren. Natürlich würde er sie erkennen, wenn sie ihm gegenübertrat. Doch würde er sie auch wiedererkennen? Würde er in dem Gesicht einer reifen Frau die kindlichen Züge wiedererkennen, die ihm einst vertraut gewesen waren? Oder würde er bei Ihrem Anblick erschrecken über die Spuren des langen Lebens, das zwischen der letzten Begegnung und dem Wiedersehen lag? Noch nie hatte Anna eine so lange Zeit vor dem Spiegel verbracht wie an jenem Morgen. Jeden Handgriff ihrer Zofe verfolgte sie und griff ein, wenn das immer noch goldblonde Haar im nicht genau so festgesteckt wurde, wie sie es wünschte. Dabei beugte sie sich immer wieder vor, um ihr Gesicht im Spiegel zu betrachten.
Vor Aufregung hatte sie in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen. War ihr der Mangel an Ruhe anzusehen? Und ihre Wangen? Waren sie fest genug? Rosig genug? Bin ich schön?, dachte Anna voller Sorge. Bin ich immer noch schön?
Mit einem Boot gelangten Anna und ihr Hofstaat auf die Fasaneninsel in der Bidassoa. Vor einem Jahr hatte hier die Friedenskonferenz begonnen. Noch immer war die kleine Insel durch eine gewaltige Palisade in einen spanischen- und einen französischen Bereich geteilt. Während den Verhandlungen waren die beiden Delegationen häufig in Streit geraten. Die Spanier übten sich in Hochmut, die Franzosen in Ironie, beide so lange, bis Degen gezogen wurden und die mühsam aufrechterhaltene Friedensbereitschaft zu zerbrechen drohte. Es war das Verdienst von Mazarin und Don Luis de Haro, dass sich die Wogen immer wieder glätteten und als letzte Konse-quenz nun die königliche Hochzeit gefeiert werden konnte.
Die Begegnung der Geschwister fand in einem Konferenzsaal statt. Von beiden Seiten hatte man riesige Teppiche entrollt. Der schmale Zwischenraum in der Mitte war die Grenzlinie zwischen Frankreich und Spanien, für beide verbotenes Gebiet. Anna und Philipp hatten jeder im eigenen Königreich zu bleiben.
Das große Gefolge der katholischen Majestät stellte sich auf der einen Seite auf, die Franzosen auf der anderen. Der Einzige der fehlte, war Ludwig. Erst bei der zweiten Trauung, der „richtigen“, sollte ihm gestattet sein, seine Braut zu sehen und von ihr gesehen zu werden. Maria Theresia allerdings war anwesend, ging es bei dieser Begegnung doch auch darum, sie mit ihrer Schwiegermutter bekanntzumachen.
Ludwig war neugierig. Wenigstens einen Blick wollte er auf seine Gemahlin werfen. Sogar Anna staunte, wie sehr er sich auf das junge Mädchen freute. Trotzdem hatte es verzwickter diplomatischer Winkelzüge bedurft, bis Philipp endlich die Erlaubnis erteilte, sein Schwiegersohn dürfe vor dem Fenster des Konferenzsaals vorbeireiten und hereinschauen. Auch Maria Theresia wurde gestattet, dabei den Blick nicht zu senken, sondern ebenfalls zu ihm hinzusehen. Kopfschüttelnd dachten die Franzosen an die Freizügigkeiten von Ludwigs lebenslustigem Großvater Heinrich IV. Hätte er sich wohl mit so viel Strenge abgefunden?
Noch wusste niemand, dass auch Ludwig nicht bereit war, sich dem Diktat seines Schwiegervaters so vollständig zu unterwerfen. Als sich die Delegationen bereits im Konferenzsaal versammelt hatten, ließ er Mazarin ein Schreiben überreichen, indem er ihm mitteilte, er werde nicht nur vorbeireiten, sondern als „unbekannter Fremder“ bis zum Tor kommen, das man ihm auf sein Klopfen hin öffnen möge. Nachdem Mazarin den Brief gelesen hatte, lächelte er und nickte dem Boten zu.
Nun wurde es still im Saal. Durch die eine Tür trat die Katholische Majestät in den Konferenzsaal, durch die andere die Königinmutter von Frankreich. Jeder in seinem eigenen Land, gingen sie über die Teppiche aufeinander zu. Dabei ließen sie einander nicht aus den Augen. Schon nach wenigen Schritten schien die Zeit für sie still-zustehen. Anna war wieder die rosige kleine Infantin, die ihren Bruder anhimmelte, und Philipp der allzu ernste, gehemmte Prinz, der die Krone mehr fürchtete als begehrte.
Vor der Ritze zwischen den Teppichen blieben sie stehen. Beide hatten Tränen in den Augen. Da konnte Anna nicht anders: Über die Grenze hinweg beugte sie sich nach vorn, um ihren Bruder nach langer Zeit endlich wieder in die Arme zu schließen.
Doch Philipp zuckte zusammen und wich zurück. Gleichzeitig erinnerte sich Anna, wie anders als in Paris die Sitten in Madrid waren. Sie begriff sofort, dass sie in den Augen ihres Bruders eine unerhörte Vertraulichkeit begangen hatte, die ihn vor seiner Begleitung beschämte. So zog sie sich hastig wieder zurück und nahm ganz unwillkürlich die steife Haltung an, die man sie einst gelehrt hatte und für die man in Frankreich kein Verständnis aufbrachte. „Ich bin glücklich, Sie wiederzusehen, Majestät!“, versicherte sie mit beherrschter Stimme in spanischer Sprache.
Ihr Bruder stimmte ihr zu. „Viele schwere Jahre liegen hinter uns.“ Er murmelte das Wort „Krieg“ und wurde dann ganz unerwartet von einer heftigen Erregung mitgerissen. „Es war ein Werk des Teufels!“, rief er. „Wir haben es nie so gewollt.“
Anna nickte. „Ja, Majestät!“, stimmte sie zu. „Ein Werk des Teufels. Doch am Ende hat Gott gesiegt.“
In diesem Augenblick hörte man Hufgetrappel. Alle starrten zum Fenster und fingen an zu lachen, als sie Ludwig erkannten, der vorbeiritt. Maria Theresia errötete so sehr, dass alle meinten, gleich müsse sie umsinken.
Die Anspannung, die bisher den Raum beherrscht hatte, löste sich. Die Franzosen lachten und scherzten, und sogar die Spanier erwachten aus ihrer Erstarrung.
Plötzlich klopfte es an die Tür, laut und energisch. Wie abgeschnitten brach der Lärm ab. Ein Edelmann, der eingeweiht war, öffnete die Tür und meldete mit lauter Stimme einen „unbekannten Fremden“. Alle wussten genau, wer dieser Fremde war. Doch mit großem Vergnügen machte man das Spiel mit und fragte die anderen, wer das da draußen nur sein könne. Noch nie zuvor hatten sich Franzosen und Spanier so gut miteinander verstanden. Alle amüsierten sich und waren neugierig, wie es nun weitergehen würde.
Der Edelmann trat beiseite, damit der unbekannte Fremde gesehen werden konnte. Mit lautem Oh! und Ah! heuchelte man Verwunderung, als man entdeckte, dass es der französische König selbst war, der jedoch ohne einzutreten auf der Schwelle stehen blieb.
Maria Theresias Gesichtsfarbe wechselte erneut. Sie war nun auf einmal ganz blass und zitterte. Da ihr die Regeln des Zeremoniells zur zweiten Natur geworden waren, wusste sie, dass sie auf keinen Fall sprechen durfte. Doch sie hätte ohnedies nicht gewusst, was sie sagen sollte.
Ihr Vater musterte Ludwig mit strenger Miene. Dann schmunzelte er plötzlich. „Ein schöner Schwiegersohn!“, sagte er anerkennend zu Anna. Er nickte zufrieden. „Wir werden viele Enkelkinder haben.“
Anna lachte erleichtert und strahlte vor Stolz und Glück. „Das werden wir, Majestät. Ganz bestimmt.“ Sie wandte sich an Maria Theresia. „Mein liebes Kind“, sagte sie zärtlich, „was halten Sie von dem unbekannten Fremden?“
Wieder errötete Maria Theresia. Hilfesuchend blickte sie auf ihren Vater.
Er stand ihr bei. „Das ist nicht der richtige Augenblick für eine solche Frage!“, erklärte er streng. Die Franzosen murrten enttäuscht. Doch Philippe, der neue Herzog von Orleans, wollte nicht, dass sein Bruder ohne Antwort entlassen wurde. „Liebe Schwester“, sagte er mit seinem schelmischen Lächeln, „sagen Sie mir bitte: Wie gefällt Ihnen die Tür?“
Maria Theresia hielt den Atem an. Ohne Zweifel spürte sie, dass alle auf ihre Antwort warteten. Alle, auch ihr junger Gemahl, der ihr so schön erschien wie kein anderer Mann auf der Welt. So vergaß sie für einen Augenblick auf jedes Zeremoniell und sogar auf die Meinung ihres Vaters. „Die Tür ist sehr schön, mein Bruder!“, flüsterte sie und wagte sogar ein winziges Lächeln. „Sie gefällt mir sehr gut.“
Gegen Abend verließen die königlichen Gäste die Insel wieder. Im Boot der Katholischen Majestät nahm man eine wertvolle frühe mit, die Ludwig an seine Braut geschickt hatte. Sie war voll mit Juwelen und anderen kostbaren Überraschungen. Philippe von Orleans hatte sie überbracht. Nachdem er sie Maria Theresia zu Füßen gestellt hatte, wartete er darauf, dass seine Schwägerin sie öffnete. „Dürfen wir Ihre Freude miterleben, liebe Schwester?“, fragte er lächelnd.
Doch Maria Theresia hatte sich wieder auf das besonnen, was man sie gelehrt hatte. Sie schüttelte den Kopf und erklärte leise, das wäre nicht passend. Mit einer Handbewegung bedeutete sie ihren Hofdamen, sich um den Transport der Truhe zu kümmern. Enttäuscht kehrte Philippe auf die französische Seite zurück. Er konnte nicht ahnen, mit welcher übermütigen Freude seine Schwägerin am Abend ihre Präsente auspackte. Sie legte die Schmuckstücke an, drehte sich vor dem Spiegel und schwärmte ihren Damen vor, wie wunderbar ihr Gemahl sei und wie sehr er sie lieben müsse, um ihr solche Geschenke zu machen.
Die ganze Nacht konnte sie nicht schlafen. Bis weit nach Mittag blieb sie in ihrem Bett liegen, während ihr Vater und ihr Gemahl nun ganz offiziell auf der Fasaneninsel zusammentrafen, um vor dem Abschied noch einmal den gemeinsamen Frieden zu bekräftigen.
In der Mitte des Konferenzsaals hatte man einen niedrigen Tisch aufgestellt, die eine Hälfte in Spanien, die andere in Frankreich. Mit gemessenen, würdevollen Bewegungen knieten die beiden Könige davor nieder und legten ihre rechten Hände auf zwei völlig gleiche Kruzifixe. In abwechselnder Rede und jeder in seiner eigenen Sprache schworen sie einander Frieden, Bündnistreue und ewige Freundschaft. Ihre beiden Sprachen verwoben sich melodisch ineinander. Die eine schien die Schönheit und den Wohlklang der jeweils anderen noch zu erhöhen und zu verstärken.
Die Stimme eines alten Mannes und eines ganz jungen. Ein Spanier und ein Franzose - vor kurzem noch Feinde, doch nun zur Versöhnung bereit.
Am nächsten Morgen trennte man sich für immer. Anna weinte die bittersten Tränen ihres Lebens. „In unserem Alter dürfen wir nicht mehr darauf hoffen, dass uns das Schicksal ein zweites Wiedersehen schenken wird!“, flüsterte sie. Diesmal wagte sie nicht, sich ihrem Bruder zu nähern. Nun aber tat er es. Er umarmte sie und nannte sie seine „geliebte Schwester“. Damit raubte er ihr vollends die Fassung.
Auch Maria Theresia war einer Ohnmacht nahe. Drei Mal warf sie sich weinend vor ihrem Vater auf die Knie. Drei Mal hob er sie wieder zu sich hoch und umarmte sie. Dann drehte sie sich um und ging fort - einen Augenblick lang ganz allein und einsam. Königin Anna sah es und eilte ihr nach. Tröstend legte sie den Arm um die Schultern ihrer Schwiegertochter und führte sie zum Boot. Niemand konnte besser wissen als sie, was Maria Theresia in dieser Stunde verlor.
Die Katholische Majestät schaute seiner Schwester und seiner Tochter nach und blickte dann auf sein schwarz gewandetes Gefolge, das untadelige Haltung von ihm erwartete. So wandte auch er sich um und kehrte zu seinem Boot zurück. Während es auf das spanische Ufer zufuhr, blickte er hinüber auf die andere Seite der Bidassoa, wo sich das Boot mit seiner Tochter dem französischen Ufer näherte. Er konnte die Endgültigkeit dieses Anblicks kaum ertragen, doch er hatte nicht die Kraft wegzusehen. Da drüben saß seine Tochter, und wie er sie kannte, weinte sie wohl.
Doch das war nun nicht mehr seine Angelegenheit. Von jetzt an konnte er sie nicht mehr trösten oder beschützen. Philipp wusste, dass Maria Theresia noch in dieser Stunde unter Aufsicht ihrer Schwiegermutter und der hohen Damen des französischen Hofes alle ihre Kleider ablegen musste. Nicht das kleinste Stück Stoff aus ihrer Heimat durfte sie mitnehmen, keine Wäsche, keinen Schal, kein Taschentuch. Die Infantin von Spanien gab es nicht mehr. Es gab nur noch die Königin von Frankreich, die man aus Tradition wahrscheinlich genauso einkleiden würde wie einst seine Schwester, als sie ihrem Gemahl nach Frankreich folgte: in eine prachtvolle, leuchtend rote Atlasrobe, die mit Gold und Silber bestickt und mit Juwelen in schweren Goldfassungen behängt war.
Als man Philipp diese Kleidung damals beschrieben hatte, hatte er sich geschämt. „Das ist das Gewand einer Dirne!“, hatte er gerufen und mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Auch diesmal wollte er am liebsten nicht daran denken, dass sein bescheidenes, gehorsames Kind, dem bisher seine gottgeschenkte goldene Haarpracht als Schmuck genügt hatte, so liederlich herausgeputzt wurde. Der heimliche Zorn auf die Franzosen, den er fast schon überwunden geglaubt hatte, überkam ihn wieder.
Zugleich erinnerte er sich an den Freundschaftsschwur, den er gemeinsam mit seinem Schwiegersohn vor dem Kruzifix geleistet hatte. Ein Versprechen im Namen Gottes - es durfte nicht gebrochen werden, auch nicht in Gedanken. „Verzeih mir, Herr!“, mur-melte Philipp und bekreuzigte sich. Dann befahl er mit lauter Stimme, man solle noch vor dem Abendessen seinen Beichtvater zu ihm schicken.
In Frankreich nannte das Volk Maria Theresia die „Braut mit dem Frieden als Mitgift“. Allein schon dafür liebte man sie. In der langen Geschichte Frankreichs war nur selten eine Hochzeit so allgemein bejubelt worden. Man glaubte fest daran: Mit dem Eheversprechen zwischen Ludwig und Maria Theresia würde eine Friedenszeit be-ginnen, ein Goldenes Zeitalter, in dem Milch und Honig flössen.
Auch die Hochzeitsgesellschaft war sich der eigenen Bedeutung bewusst. Hatte man die Fahrt nach Süden noch als eine Art Vergnügungsreise begonnen, so änderte man nach und nach diese Einstellung und sah sich selbst als Teil eines geschichtlichen Ereignisses. Man fühlte sich wie unter einer Glasglocke: von allen gesehen, doch zugleich auch von allem getrennt. Ein kleiner Kosmos mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, die sich immer mehr einspielten, sodass man sich nach ein paar Wochen schon nicht mehr vorstellen konnte, wieder sesshaft zu sein.
Schon immer waren die französischen Könige durch ihr Land gezogen, doch nie war man so lange von Paris fortgeblieben. Das war schon keine Reise mehr, die als Ausnahmefall zwischen Phasen der Ruhe stattfand. Nein, die Hochzeitsfahrt Ludwigs XIV. war ein Zustand an sich. Freundschaften und Liebesbeziehungen entstanden, Feindschaften brachen aus. Kinder wurden unterwegs geboren, und Menschen erkrankten und mussten an fremden Orten zurückgelassen werden, wo sie vielleicht sogar sterben würden.
Zu allem Erfreulichen war soeben auch noch die Nachricht eingetroffen, dass Karl II. am 31. Mai, seinem dreißigsten Geburtstag, auf den englischen Thron zurückgekehrt war. Damit war die Zeit der bürgerlichen Emporkömmlinge unter Cromwell, die seinen Vater ermordet hatten, endgültig vorbei. Das Blatt hatte sich gewendet. Das Jahr 1660 war das beste Jahr für Könige seit langer Zeit, und wenn Gott es wollte, konnte alles so wunderbar weitergehen, wie es angefangen hatte.