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Vorwort

Auch wenn ein Thema oder eine Figur schon x-Mal von anderen ver- und bearbeitet wurden, ist das für mich noch lange kein Grund, davon die Hände zu lassen.

Die Gladow-Bande ist lebendige Berlin präziser gesagt, Friedrichshain-Geschichte: Gladow und viele seiner Kumpane haben nach 1945 im Kiez gewohnt, er selbst ging auf die Händel-Schule zwischen Frankfurter Allee und Boxhagener Straße, einen Teil ihrer Verbrechen verübten sie im Bezirk, sie rasten mit einem geklauten »Horch« durch den Stadtpark hier, amüsierten sich im »Schwarzen Adler«, einer Tanzkaschemme an der Ecke Frankfurter Allee/Gürtelstraße, und es gab im Samariterviertel die wüste Schießerei bei Gladows Verhaftung.

Werner Gladow war alles andere als ein Robin Hood, der den Armen gab, sondern ein Schwerverbrecher, fast schon ein Terrorist nach heutiger Political Correctness …

Klar, anfangs war die Gladow-Bande bei vielen Berlinern beliebt, weil sie schnell und trickreich waren, weil sie Polizisten entwaffnet hatten und sich die Wirren in der geteilten Stadt mit Währungsreform, Blockade und Luftbrücke zu Nutze machten. Aber nachdem es die ersten Toten gab, kippte die Stimmung fast in Lynchjustiz um, bis dann der Staat zurückschlug und ein Exempel statuierte. Deshalb geht es mir darum, die Mechanismen aufzuzeigen, wie jemand zum Kriminellen wird, die Psyche und Moral zu sezieren, wonach vor Brutalität und sogar Mord nicht zurückgeschreckt wird, das Gang-Verhalten zu untersuchen, wie man sich ein- und unterordnet oder gegenseitig hochschaukelt. Das sind weniger historische, sondern vielmehr aktuelle Fragen, wenn ich an heutige Jugendgangs in Marzahn oder Neukölln erinnern darf.

Oder die Art, wie Gladow seine Leute unterrichtete: Sie verschlangen Gangster-Heftchen und sahen sich mit Vorliebe in den Westberliner Wanzenkinos Filme über Al Capone und John Dillinger an, um die Techniken zu studieren, wie man mit einer Waffe umgeht oder einen Überfall organisiert …

Einige Vorbemerkungen scheinen unerlässlich zu sein, um sich mit der Stadt, der Rechtslage, der Polizei und seinen Bewohnern vertraut zu machen, welche sich um Werner Gladow zutrugen.

Historische Einleitung

Wann ein Mensch ein Verbrechen begeht oder sich durch ein Vergehen strafbar macht, scheint eine Angelegenheit des Zufalls zu sein. Aber das gilt nur für den Einzelnen, nicht für ein Volk. Die Zahl der Vergehen und Verbrechen, die in einem ganzen Land in einem bestimmten Zeitraum geschehen werden, lässt sich – in normalen Zeiten – mit hoher Sicherheit voraussagen. Die Statistik, über längere Zeiträume betrachtet, zeigt ganz deutlich, dass die Kriminalität bemerkenswert stabil ist. Das klingt überraschend, ist aber eine Tatsache. Die „Kriminalitätsziffer" der Verurteilten – die angibt, wie viele gerichtliche Verurteilungen auf je 100 000 Personen der strafmündigen Zivilbevölkerung entfallen – hat sich in Deutschland etwa von 1895 bis 1930 fast überhaupt nicht geändert, das heißt, sie schwankte stets um 1200, mit Ausnahme der Kriegsjahre, in denen sie erheblich niedriger, und der Nachkriegs- und Inflationsjahre, in denen sie erheblich höher war. Daraus ist zu ersehen, dass die langsamen Änderungen des Sozialgefüges, zum Beispiel die fortschreitende Industrialisierung, der steigende Anteil des Arbeiters am Sozialprodukt, das Anwachsen des Beamten- und Funktionärapparates, auf die Zahl der Verbrechen und Vergehen ohne Wirkung bleiben. Die Kriminalität muss also in tieferen Schichten wurzeln, wahrscheinlich in biologischen und in psychologischen. Man braucht nur zu bedenken, wie hart das Strafrecht und seine Handhabung in England sind, um sich die Frage vorzulegen, ob dort nicht eine viel höhere Kriminalität zu verzeichnen wäre, wenn man etwa in England das deutsche Strafrecht einführte.

Zu dieser – wenigstens bisher beobachteten – Unempfindlichkeit der Kriminalität für den soziologischen Entwicklungsprozess steht ihre Empfindlichkeit für plötzliche politische und soziale Erschütterungen in einem scharfen und bedrohlichen Gegensatz. Es wurde schon gesagt, dass Zusammenbruch und Inflation nach dem Ersten Weltkrieg zu einem sehr starken Ansteigen führten, die Kriminalitätsziffer stieg 1923, am Höhepunkt der Inflation, bis auf 1700, das heißt um etwa 50 Prozent an. Eine ganz ähnliche, noch bedenklichere Entwicklung ist 1945 eingetreten. Darüber gibt eine Schrift, "Die Kriminalität der Nachkriegszeit", von Dr. R. Jacobs Aufschluss. Jacobs stellt für die ersten Jahre nach dem Krieg eine „quantitativ und qualitativ besorgniserregende, eine soziale Gefahr darstellende Zunahme der Kriminalität" fest.

Sie ist statistisch schwer zu erfassen, weil die Gerichtsbarkeit nur zum Teil von deutschen Gerichten, zum anderen von alliierten Militärgerichten ausgeübt wurde, weil ferner eine steigende deutsche Kriminalität mit der der Ausländer (Fremdarbeiter) und mit der der Besatzungssoldaten zusammentraf.

Bedeutungsvoller als diese Hinweise auf das überholte Stadium der ersten Besatzungszeit und die Kriminalität der Fremdarbeiter und Besatzungssoldaten sind die Angaben über die Tendenz der Kriminalität der deutschen Bevölkerung.

„Angesichts der Millionenzahl Depossedierter, Vertriebener, Flüchtlinge, der Kriegs-und Besatzungsgeschädigten und politisch Belasteten, zu denen noch die am meisten unter dem Währungsverfall leidenden Angehörigen nicht „kompensationsfähiger" Berufe traten – die sich wie alle Normalverbraucher mit RM-Entlohnung nicht einmal annähernd das zum Leben Notwendige zu beschaffen vermochten –, konnte es nicht ausbleiben, dass das Verbrechen auch auf die bisher intakt gebliebenen Teile des Volkes übergriff."

Angehörige der gebildeten Schichten traten jetzt plötzlich in hoher Zahl als Angeklagte vor den Strafgerichten auf, der Anteil der vorbestraften Täter ging rapid zurück, „anständige Leute" wurden kriminell. Ein politisch belasteter und zur Disposition gestellter Landgerichtsdirektor wurde wegen Verschiebung von Autos ins Ausland bestraft, Rechtsanwälte waren in Begünstigungs- und Bestechungsskandale verwickelt, manche Ärzte ohne Kassenpraxis wussten keinen anderen Rat, als mit Abtreibungen ihren Lebensunterhalt zu verdienen, in Berlin wurde der Sohn eines früheren Diplomaten als Anführer einer Einbrecherbande festgenommen. Nicht wenig trug dazu der Verfall der Staatsgesinnung als Folge der Besetzung bei. Als ein neuer, das Verbrechen begünstigender Faktor trat die „Zonengrenze" auf, die den Typ des „Grenzführers" und den des „Zonenfremden" schuf. Ungeheure Kurs- und Preisunterschiede gaben den Antrieb zu Schwarzhandel und Schmuggel. Besonders die Gegenden um Helmstedt und Schöninsen waren berüchtigt für Grenzführertaten, die meist Tötungsdelikte, Raubüberfälle und Sexualverbrechen waren. Die Schutzlosigkeit des deutschen Bürgers war durch die Einräumung von Sonderrechten an Ausländer erhöht. Ein ungeheures Ansteigen der Zahl der Verbrechen war die Folge.

Am furchtbarsten war die Mordwelle, die bereits 1945 ihren Höhepunkt hatte. So unter anderen die Mordserie des Willi Kimmritz. Zwischen 1946 und 1948 lockte er mehrere Frauen in die Brandenburger Waldgebiete nördlich und östlich von Berlin und vergewaltigte und beraubte sie dort. Vier von ihnen tötete er. Seine Taten lösten eine der größten Fahndungsaktionen der Nachkriegszeit namens Aktion Roland aus. Die Suche nach Kimmritz verlief zunächst mehrere Jahre lang erfolglos, obwohl mehrere der überlebenden Opfer ihn schon früh in einer Täterkartei identifiziert hatten. Dies ist vor allem den Nachkriegsumständen (unzureichende Polizeikräfte und Fahndungsmittel, Behinderung der Fahndung durch die sowjetischen Besatzungsbehörden, Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Besatzungsmächten und schließlich die Berlinblockade) zuzuschreiben, die die Ermittlungsarbeiten erschwer-ten.

Am 11. September 1948 wurde Kimmritz von einer Zeugin in Berlin wiedererkannt und im Französischen Sektor verhaftet; bei der Vernehmung legte er ein erstes Geständnis ab. Es erfolgte die Auslieferung in den sowjetischen Sektor, wo er schließlich 23 Vergewaltigungen, vier Morde und zahlreiche Eigentumsdelikte gestand. Am 18. Februar 1949 begann der Prozess vor dem Landgericht Potsdam. Aus prozessökonomischen Gründen wurde nur über 13 Vergewaltigungen und drei Morde verhandelt. Bereits am selben Tag erging das Todesurteil, das in der Berufungsverhandlung und der Revision bestätigt wurde. Am 26. Juli 1950 wurde Willi Kimmritz in der Haftanstalt Frankfurt (Oder) durch das Fallbeil hingerichtet.

Selbst Jugendliche wurden zum Mörder, wie zum Beispiel der 17jährige Mörder Helm.

Der Raubmord dominierte. Zeitweise waren 89 vom Hundert aller Morde Raubmorde.

Das seltene Zusammentreffen von Raub- und Sexualmord wurde, besonders an der Zonengrenze, häufig. Unter den Mördern war der Anteil der Ausländer besonders hoch, noch 1949 wurden Bandenmorde in größerer Zahl von Ausländern angeführt als von Deutschen.

Ein besonders bemerkenswertes Kapitel sind die Sittlichkeitsverbrechen. Sie gingen in der Zeit der Inflation zunächst sehr stark zurück und waren bis zur Währungsreform eigentlich ein Delikt der besser ernährten Ausländer.

Nach der Währungsreform aber nahmen sie sehr schnell zu und übertreffen den Vorkriegsstand bei weitem. Dabei mag eine Rolle spielen, dass bei steigendem Vertrauen zur Behörde jetzt wieder mehr Fälle angezeigt werden und weniger latent bleiben. Unter den Sittlichkeitsverbrechen stiegen weitaus am steilsten die Kinderschändungen an. So wurde zum Beispiel ein 36jähriger Lehrer von der Bonner Großen Strafkammer zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt, nachdem ihm nicht weniger als 60 Fälle nachgewiesen worden waren. Die Gründe dieser ständigen Steigerung der Sexualkriminalität sind schwer zu erkennen. Jacobs meint, dass die Schmutz- und Schundliteratur dabei eine Rolle spielt und auch der Film „mit seinen genormten und normierenden Wunschvorstellungen", da er vor allem die Phantasie der Jugendlichen erhitzt.

Sieht man von den Sittlichkeitsdelikten ab, dann scheint sich die Kriminalität im Allgemeinen allmählich wieder zu normalisieren, das heißt sich den Zahlen früherer Jahrzehnte zu nähern. Zu den aufsteigenden Delikten gehört, seit das Geld wieder etwas wert ist, der Betrug.

1947 Westberliner Polizei am Kudamm

Schon diese wenigen Hinweise zeigen, dass man die Normalisierung nicht ganz der Natur und der Stabilisierung der sozialen Verhältnisse überlassen kann. Um die Kriminalität zu drücken oder zumindest nicht anwachsen zu lassen, bedarf es schon einer gewissen Wachsamkeit des Gesetzgebers, der eingreifen muss, wenn plötzlich die Kurve eines bestimmten Delikts sich stark von der Gesamtkurve der Kriminalität abhebt und aufsteigt.

Schiefe Bahn: Auf sich selbst gestellt und dem Überlebenskampf preisgegeben, glitten viele Berliner "Halbstarke" in den Nachkriegsjahren in die Kriminalität ab. In der allgemeinen Perspektivlosigkeit hatten Jugendbanden Hochkonjunktur. Die abgebildeten Jugendlichen sind 13 und 16 Jahre alt und wurden von der Volkspolizei beim Diebstahl von Buntmetall auf frischer Tat ertappt.

Werner Gladow

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