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3. Porno
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Stefan Limbach, Peter-Heinrich Wagner, Vivien Hansen, Nui Choonhavan
Hätte er nur auf seine innere Stimme gehört. Limbach, das ist albern, was
du da machst, hat sie gesagt. Dann wäre sein Tag nicht schon am frühen Morgen verdorben gewesen.
Aber er konnte nicht anders.
Nui hat die Nacht bei ihm verbracht. Limbach hat wenig Schlaf bekommen. Im Dämmerschlaf hat er mitbekommen, wie sie morgens das Bett und die Wohnung verlassen hat, um zur Arbeit zu gehen. Er hat sich nochmal umgedreht und ist gleich wieder eingeschlafen. Hat wirr geträumt. Irgendwas mit einem Boot und Flugzeugen und Wasser und ihm mittendrin. Ist gegen zehn aufgewacht, aufgestanden, hat seine Morgentoilette erledigt und hätte dann eigentlich frühstücken gehen können.
Aber zu seiner täglichen Routine-Prozedur gehört noch ein Ritual, das er sich seit einiger Zeit angewöhnt hat, das seinen festen Platz nach dem Frühstück hat und ohne das er niemals das Haus hätte verlassen können.
Die innere Stimme, die diesmal besonders laut gelästert hat, hat er wie immer ignoriert.
Limbach ist in sein Arbeitszimmer gegangen. Hat sich an den überdimensionalen Schreibtisch gesetzt. Hat den Computer hochgefahren. Hat dann seinen Namen gegoogelt. Einige tausend Einträge, wie gehabt. Hat dann den Titel seines Buches eingegeben. Weit über hunderttausend Nennungen. Verkaufsrang eins bei Amazon. Zufriedenes Lächeln.
Bis dahin war noch alles gut gewesen.
Aber dann war er auf die aktuelle SPIEGEL-Bestsellerliste gegangen. Und war aus allen Wolken gefallen. Denn dort stand nicht, wie üblich, sein Buch auf Platz eins. Schlimm genug, doch das hätte er noch verkraftet, wenn auch zähneknirschend. Nach über einem Jahr ununterbrochen an der Spitze war ja damit zu rechnen gewesen, früher oder später. Schließlich ist die Konkurrenz nicht auf den Kopf gefallen.
Von Platz eins auf Platz zwei gerutscht zu sein ist also nicht das Thema. Aber wer ihn von der Spitze verdrängt hat, das bringt ihn dann doch aus der Fassung. Nicht Follett oder Fitzek etwa, nicht Wolf und auch kein Ludwig.
Sondern eine Pornodarstellerin!
Limbach ist die Kinnlade nach unten gesackt. Fassungslos hat er minutenlang auf den Bildschirm gestarrt. Hat dann den Namen der ihm völlig unbekannten Frau gegoogelt und sich eingehend über sie informiert. Ist sogar auf ihrer Homepage gewesen. Ist dann unruhig und ständig „Pornoschlampe“ vor sich hin murmelnd in der Wohnung hin und her gegangen, wie ein Hamster im Laufrad. Hat schließlich seinen Verleger angerufen, ihm die Ohren voll gejammert und sich mit ihm für den Nachmittag verabredet.
Jetzt sitzt er im Lambo und fährt über die Reeperbahn. Aus dem CD-Player dröhnt „Highway to Hell“ von AC/DC. Er braucht jetzt unbedingt ein ordentliches, deftiges Frühstück. Mit Rührei, Speck und starkem Kaffee. Und Vivien. Vivien? Komisch, dass ich gleich an die gedacht habe, denkt er. Er kennt sie doch kaum und noch gar nicht so lange. Vivien arbeitet als Bedienung in einem Lokal direkt auf der Reeperbahn. Sie war ihm gleich aufgefallen. Nicht bloß, weil sie hübsch und nett ist. Das sind alle Bedienungen, die bei der Restaurantkette arbeiten, zu der das Lokal gehört und die es bestimmt nicht zuletzt auch deshalb zu etlichen Filialen in Hamburg und Umgebung und neuerdings auch darüber hinaus gebracht hat.
Vivien hat aber außerdem Witz und Charme. Und sie ist intelligent. Sein Status als Erfolgsautor scheint sie nicht allzu sehr zu beeindrucken, ja, manchmal scheint sie sich sogar fast ein wenig über ihn lustig zu machen, was ihm gefällt.
Gleichzeitig ist sie aber eine der wenigen, die sich wirklich für seine Arbeit als Autor zu interessieren scheint, und in ihm nicht nur den Prominenten sieht. Imponiert hat ihm ihre Aussage, dass es ihrer Meinung nach gar keine Bestsellerautoren gebe, sondern bloß Autoren. Schließlich würden Bestseller von Lesern gemacht, nicht von Autoren. Man müsse also wohl eher von Bestsellerlesern sprechen.
Limbach ist zunächst ein wenig verblüfft gewesen, hat dann aber zugeben müssen, dass diese Sichtweise nicht ganz abwegig ist. Seine Dankbarkeit, ja Demut, angesichts des Glücks, das ihm gleich mit seinem ersten Buch widerfahren ist, hat sich daraufhin noch einmal verstärkt.
Limbach parkt den Lambo in einer Seitenstraße und betritt das Lokal. Es ist mittelprächtig besetzt, dennoch ist sein Lieblingsplatz nicht frei, was seine schlechte Laune noch verstärkt. Er muss mit einem Platz direkt neben dem Eingang vorliebnehmen. Vivien sieht ihm gleich an, dass etwas nicht stimmt.
„Moin. Was is‘n dir denn für ‚ne Laus über die Leber gelaufen?“, will sie wissen.
„Moin. Kann‘ jetzt nicht drüber reden, brauch‘ erst ma ‚n Frühstück“ brummt Limbach ungewohnt einsilbig.
„Okay, kommt sofort. Wie immer, ja?“
„Hm.“
Nach einer ordentlichen Portion Rühreier mit Speck, dazu drei Brötchen mit Wurst, Käse und Marmelade, einem Glas Orangensaft, zwei Bechern Kaffee und einem kurzen Blick in die Blöd-Zeitung ist er dann langsam so weit, dass er kommunizieren kann. Vivien hat sich auf seine Bitte hin kurz zu ihm an den Tisch gesetzt, um ihm zuzuhören. Sie hat kurze, braune Haare, braune, lebhafte Augen, ist mittelgroß, macht einen sportlichen, durchtrainierten Eindruck. Limbach findet sie sehr anziehend.
Er sitzt schweigend da.
„Was‘n nu?“
„Hm?“
„Was ziehst‘n so ‚ne Fresse?“
„Ich hör auf.“
„Womit?“
„Mit dem Schreiben.“
„Ach!“
„Ich schwör‘s.“
„Und warum? Hasses nich‘ mer nötig, oder was? Quillt dein Konto über?“
„Nee, Quatsch. Aber es is‘ sinnlos. Absolut sinnlos. In diesen Zeiten. Und vor allem in diesem Land. In diesem unseren Lande.“
„Aha. Und warum?“
„Weil die Leute von mir nichts mehr lesen wollen.“
„Kommstn‘ jetzt darauf? Bisher hatte ich aber einen ganz anderen Eindruck. Und nicht nur ich.“
„Bisher. Und das war Zufall. Ein Versehen. Eine Panne, sozusagen. Und es war bestimmt das letzte Mal. Das wird mir mit Sicherheit kein zweites Mal gelingen.“
„Das kannst du gar nicht wissen. Der Leser ist der Souverän, der entscheidet. Das weißt du doch.“
„Und genau das ist das Problem. Der Leser ist launisch, extrem launisch.“
„Aber er hat sich schon einmal für dich entschieden. Vielleicht tut er‘s ein zweites Mal.“
„Komm, ich war nie Viva-Moderator, bin kein Schauspieler, kein Friseur und erst recht kein Fußballer.“
„Hä?“
„Auch kein Koch.“
„Na und?“
„Und Pornodarsteller sowieso nicht.“
„Bitte?“
„Das sind nun mal die angesagten Leute, heutzutage. In diesem unseren Lande. Dass ich überhaupt einen Verlag gefunden habe damals, grenzt schon an ein Wunder.“
„Also, dann freu‘ dich doch umso mehr! Stefan, ganz ehrlich, ich versteh‘ dein Problem nicht ganz. Ich muss dann auch wieder …“
Vivien macht Anstalten, aufzustehen. Limbach hält sie zurück. Er sieht ihr in die Augen. Sie sieht wirklich verdammt gut aus. Ihm fällt ein, dass er eigentlich so gut wie nichts über sie weiß.
Und doch bespricht er gerade mit ihr sein zurzeit größtes Problem. Wieso? Ist sie eigentlich hauptberufliche Bedienung? Oder vielleicht Studentin und jobbt hier nebenbei? Oder vielleicht Praktikantin? Oder die Tochter des Chefs? Oder was? Eigentlich ziemlich unhöflich, immer nur von sich zu reden, und nie etwas zu fragen. Außerdem dämlich. Limbach beschließt, das demnächst zu ändern.
Demnächst.
„Also?“
„Also was?“
„Stefan, bitte! Was is‘ nu dein Problem?“
„Also gut.“
Limbach erzählt Vivien von dem ungeheuerlichen Vorgang auf der Bestsellerliste. Dass eine „seit fünf Jahren dreißigjährige Silikon-Blondine mit Körbchengröße 75 G (‚Kann man da eigentlich noch von Körbchen sprechen?‘) aus der Pornobranche es geschafft habe, mit ihrer notdürftig als Roman getarnten Lebensgeschichte (‚Dreck!‘) aus dem Stand heraus auf Platz eins zu kommen. Und ihn von dort zu verdrängen.“ Dabei vermeidet es Limbach peinlichst, den Namen der Frau in den Mund zu nehmen und spricht von ihr immer nur als „Pornoschlampe“.
Vivien ist kurz davor, lauthals loszuprusten. Was Limbach, der eigentlich mit hochsensiblen Antennen ausgestattet ist, nicht bemerkt.
„Verstehst du mich jetzt?“
Vivien bewahrt mühsam Fassung.
„Ehrlich gesagt, so ganz immer noch nicht. Die Leute lesen halt einfach, was sie wollen und was sie interessiert. Und es interessiert sie halt, mit wem die…“
„Bitte sprich‘ den Namen nicht aus!“
„…so alles in der Kiste war…“
„Widerlich! Allerunterste Kategorie!“
„Sollen ja auch einige Prominente dabei gewesen sein. Zum Beispiel dieser eine Fernseh-Moderator… Dieser große, blonde…“
„Na und?“
„Mein ja bloß.“
„Der kackt auch bloß braun!“
„Schon klar. Aber er is‘ halt prominent.“
„Du hast das Buch gelesen!“
„Nein, hab‘ ich nicht! Ich hab‘ bloß einen Bericht darüber gesehen, auf RTL. Gelesen hab‘ ich‘s nich‘. “
„Ehrlich?“
„Großes Indianer-Ehrenwort!“
Vivien hebt die Hand feierlich zum Schwur.
Limbach ist erleichtert. Zunächst. Aber schon im nächsten Moment sieht er sie unsicher an.
„Aber du wirst es lesen.“
Vivien verdreht amüsiert die Augen.
„Kann schon sein. Wenn du so weitermachst, werd‘ ich noch richtig neugierig.“
„Ich wusste es!“
„Wenn es so viele Leute lesen, muss doch was dran sein, oder nicht?“
Vivien grinst sadistisch. Sie will Limbach auf den Arm nehmen. Seine Antennen versagen ein weiteres Mal. Eine ganze Weile sitzt er schweigend da. Der Satz hat ihn getroffen. Den Schalk in Viviens Blick hat er übersehen. Hätte er ihn bemerkt, wäre er insgesamt in besserer Verfassung gewesen, hätte er womöglich cool gekontert und etwas in der Art von „Esst Scheiße, Millionen Fliegen können sich nicht irren“, oder so gesagt.
So sagt er bloß: „Meine Autorenseele ist zutiefst verletzt.“
Vivien sieht Limbach mit gespieltem Mitleid tief in die Augen und legt ihre Hand auf seine.
„Poor, poor boy.“
* * *
„Wie jetzt, auswandern?“
„Ja, ich werde auswandern.“
„Wohin?“
„Keine Ahnung. Norwegen vielleicht. Oder Island. Aber eigentlich egal wohin. Bloß weg aus diesem Land.“
„Aber warum denn um Himmels Willen? Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“
„Man legt hier keinen Wert mehr auf meine Anwesenheit. Ich werde hier nicht mehr gebraucht.“
„Wie kommst du denn darauf? Red‘ dir doch nicht so was ein!“
„Das red‘ ich mir nicht ein. Das sind alles Tatsachen. Nackte Tatsachen, sozusagen. Das ist hier das Land der Viva-Moderatorinnen und Pornodarstellerinnen…“
„Was…?
„… der Köche, Friseure und Fußballer …“
„Stefan, jetzt übertreibst du aber…“
„… und der Schauspieler natürlich.“
„Ich versteh‘ ja was du meinst, aber…“
„… durch und durch verlanzt und durchjaucht…“
Krisengespräch bei Limbachs Verleger Peter-Heinrich Wagner. Limbach hat ihn direkt nach seinem späten Frühstück bei Vivien aufgesucht. Wagner, Mitte sechzig, ist eigentlich Lehrer von Beruf. Wegen des Radikalenerlasses von 1972 hat er ihn aber nie ausüben dürfen, da er damals Mitglied einer kommunistischen Partei war. Nach den üblichen Umwegen – Journalist, Lektor – hat er sich in den Achtzigern mit einem kleinen, alternativen Verlag im Hamburger Schanzenviertel selbständig gemacht. Jahrelang, um nicht zu sagen jahrzehntelang, hielt sich der Kleinstverlag mehr schlecht als recht mühsam gerade so über Wasser, ständig von einer Pleite nach der anderen bedroht. Wer las schon Maos Memoiren, Gaddafis Gedichte und Pol Pots Poesie? Und auch die Nachfrage nach der so und so vielten Lebensbeichte des des x-ten Ex-RAFlers blieb überschaubar.
Dann, vor zwei Jahren, die grandiose Idee mit der eigenen Krimi-Reihe, durchgesetzt gegen den Widerstand der langjährigen Weggefährten im Verlag („bürgerlich-dekadente Scheiße“), in der auch Limbachs Erstling versehentlich veröffentlicht wurde. Mit durchschlagendem Erfolg. Gigantische Verkaufszahlen. Preise und Anerkennung noch und nöcher. Aber vor allem: Durch den unerwarteten Bestseller wurde der kleine, linke Verlag in ungeahnte Höhen katapultiert und schwimmt seitdem in Geld. Und der Verleger, der Limbach vorher weitgehend ignoriert hatte, hat ihn plötzlich richtig lieb.
Mit Wagner und seinen Kumpels übern Kiez und die Nächte durch Limbach ist dabei. Wilde Wochenenden auf Sylt und danach noch Schampus an der Alster: Limbach auch. St. Tropez und St. Moritz, dazwischen Seychellen: Natürlich mit Limbach.
Inzwischen sind der Autor und der Verleger enge Freunde.
„Okay, irgendwo hast du ja recht, im Grunde“, meint Wagner, „aber das ist doch alles nichts Neues. Der Untergang des Abendlandes droht doch schon seit Jahren. Warum regst du dich gerade jetzt so darüber auf?“
Limbach erzählt seinem Verleger von dem unglaublichen Skandal auf der Bestsellerliste und von den unerträglichen Zumutungen, denen er dadurch ausgesetzt ist. Dabei gefällt er sich zusehends in der Rolle des sensiblen, leidenden Autors, der an der Schlechtigkeit der Welt verzweifelt und verwendet zum zweiten Mal seine neueste Lieblingsformulierung: „Meine Autorenseele ist zutiefst verletzt.“
Peter-Heinrich Wagner, von Freunden „Pehe“ genannt, sichtlich bemüht, sein bei weitem wertvollstes Pferd im Stall (engsten Vertrauten gegenüber spricht er in Bezug auf Limbach auch schon mal von „Dukaten-Esel“) zu besänftigen, tut alles, Limbachs Stimmung zu verbessern. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn er ihn verlieren würde. Nicht weniger als der Rückfall in alte Hungerleider-Zeiten nämlich.
Der Verleger betätigt die Tastatur des Rechners auf seinem Schreibtisch und wirft einen Blick auf den Bildschirm.
„Stefan, ich darf dir mal eben die neuesten Verkaufszahlen nennen: Es sind jetzt knapp über eine Million Exemplare weg. Allein in Deutschland. Der Lizenzverkauf ins Ausland ist gerade erst angelaufen. Dabei geht es um enorme Summen. Es kann also gar keine Rede davon sein, dass niemand mehr etwas von dir wissen will. Ganz im Gegenteil: Das geht jetzt erst richtig los, wirst sehen. Die Nachfrage ist riesig.“
„Nicht so riesig wie die Nachfrage nach dem Machwerk von dieser, dieser…“
„Du darfst aber nicht vergessen, dass dein Buch schon bald zwei Jahre auf dem Markt ist. Und jetzt wird halt gerade mal wieder eine andere Sau durchs Dorf getrieben.“
„Sau trifft es übrigens sehr gut…“
„That‘s business, so funktioniert das System, das ist Kapitalismus. Gibt den Leuten was sie haben wollen, und du hast Erfolg. Im Prinzip ganz einfach.“
„Das sagt ein Drogendealer auch.“
„Aber so isses.“
„Da könnte man ja glatt Kommunist werden.“
Wagner stutzt. In der Tat hatten linke Parteien im Zuge der Finanzkrise erheblichen Zulauf bekommen. Aber Derartiges aus dem Mund eines Bestsellerautors und frischgebackenen Millionärs zu hören war seltsam.
„Das ist jetzt nicht wirklich dein Ernst. Du bist verärgert. Vielleicht auch verbittert. Wir leben nun mal in diesem System und müssen uns mit ihm arrangieren.“
„Schweine-System!“
Wagner zuckt bei diesem Ausdruck zusammen. Er hat ihn lange nicht mehr gehört. Aber er kennt ihn nur zu gut. Er hatte ihn oft genug selber gebraucht.
„Von dem wir aber im Moment sehr gut leben…“
„Ja, wir. Und gleichzeitig durchwühlen Tausende von Menschen Abfallkörbe, weil ihre Rente zu klein ist. Alle Nase lang verhungern Kinder, gerade hier in Hamburg, einer der reichsten Städte des Landes.“
Wagner ist verblüfft. Solche Töne hätte er von seinem Star-Autor, den er bisher für einen oberflächlichen Hallodri, der nichts ernst nahm, gehalten hat, nicht erwartet. Wenngleich ihm der Anlass für einen derartigen Ausfall reichlich banal erscheint. Er ist alarmiert. Er tritt die Flucht nach vorne an.
„Stefan, ganz im Vertrauen, das mit dem Kapitalismus hat sich sowieso bald erledigt. Das System ist am Ende. Seit das Wort ‚Bankräuber‘ eine völlig neue Bedeutung hat…“
„Nee, lass‘ ma, ich setz‘ mich ab. Kasachstan soll übrigens auch sehr schön sein. Bloß fünf Menschen auf einem Quadratkilometer. Wusstest du das?“
„Nee, wusst‘ ich nich‘…“
„Total dünn besiedelt. Nahezu menschenleer, kann man sagen. Während wir uns hier gegenseitig auf den Füßen stehen.“
„Komm‘, so schlimm ist es auch wieder nicht…“
„Unerträglich!“
„Jetzt übertreibst du aber!“
„Obwohl Norwegen natürlich landschaftlich mehr hermacht. Berge, Fjorde…“
„Ja, herrlich.“
„Wunderbare Menschen.“
„Wunderbar.“
„Völlig entspannt.“
„Total.“
„Altes Wikinger-Volk. Waren früher ja ziemliche Rabauken. Ließen sich nix gefallen. Und machen auch heute noch, was sie wollen. Sind zum Beispiel nicht in der EU, die Wikinger, äh, die Norweger…“
„Ja, ich weiß…“
Wagner beginnt sich allmählich zu fragen, ob er sich um Limbach ernsthaft Sorgen machen muss. Wie jemand aus einem vergleichsweise nichtigen Anlass derart aus der Fassung geraten kann, kann er nicht recht nachvollziehen.
Offenbar hatte sich bei Limbach schon über längere Zeit hinweg einiges angestaut. Ist er etwa kurz davor, durchzudrehen?
Merkwürdige Leute, diese Autoren!
„Okay, ich versteh‘ dich ja. War vielleicht wirklich n‘ büschn viel für dich, in letzter Zeit. Du solltest mal eine Weile richtig ausspannen. Ich unterstütze dich jedenfalls bei allem, was du vorhast. Im Grunde ist es ja egal, wo du lebst. Schreiben kannst du schließlich überall, meinetwegen auch in Norwegen, in Island oder in Timbuktu…“
„Kasachstan!“
„Wo auch immer. Ich bin übrigens kurz davor, mir ein Haus auf Sylt zuzulegen. 1-A-Lage. Riesengrundstück. Herrlich ruhig dort. Soll mal mein Altersruhesitz werden. Steht dir natürlich zu Verfügung, wann immer und so lange du möchtest. Dort könntest du in aller Ruhe an deinem nächsten Roman arbeiten, wenn du dich erholt hast.“
„Ach, hatte ich das noch gar nicht erwähnt?“
„Was denn, Stefan?“
„Ich werde keine Zeile mehr schreiben.“
„Was!?“
„Nicht für dieses Deppen-Volk.“
* * *
Abends dann bei Nui in der Wohnung. Etwas Trost. Viel Freude.