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4. Gewalt

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4. Gewalt

Ernesto Biedermann, Leitender Oberstaatsanwalt Dr. Theodor Meier-Streng, Peter-Heinrich Wagner, Ute, Jule und Tanja Wagner, Stefan Limbach, Vivien Hansen

Der Oberstaatsanwalt hat fünf Jahre lang die Abteilung für jugendliche Intensivtäter geleitet. Seine knallharten Plädoyers brachten ihm bald den Ruf eines Hardliners ein. Die Plädoyers hatten selten den gewünschten Erfolg. Eigentlich fast nie. Seiner Forderung nach zwölf Jahren Freiheitsstrafe mit anschließender Abschiebung für schwere, wiederholte Körperverletzung mit Todesfolge folgte schon mal stattdessen eine Bewährungsstrafe, verbunden mit einem halbjährigen Erlebnisurlaub auf Neuseeland. Die Urteile Hamburger Gerichte waren in dieser Hinsicht berüchtigt und bundesweit einmalig. Hamburger Kuschelrichterinnen.

Der Oberstaatsanwalt gab nicht so schnell auf. Er forderte härteres Vorgehen, strengere Gesetze, nahm kein Blatt vor den Mund. Die Medien wurden auch überregional auf ihn aufmerksam, bald galt er als „Hamburgs härtester Staatsanwalt“. Die rote Justizsenatorin war darüber not amused. Der Oberstaatsanwalt bekam einen Maulkorb verpasst und durfte sich gegenüber den Medien nicht mehr äußern. Als er zu einer Talkshow eingeladen wurde, wurde ihm der Auftritt dort strikt untersagt.

Dann wurde die rote Senatorin von einem grünen Senator abgelöst. Und der Oberstaatsanwalt war die längste Zeit Abteilungsleiter gewesen. Er wurde in die Generalstaatsanwaltschaft weggelobt, wo er Revisionen bearbeiten durfte.

Wenn der mal nicht irgendwann eine Partei gründet, denkt Biedermann manchmal. Er hat das Schicksal des Kollegen als warnendes Beispiel vor Augen, als er dem Leitenden Oberstaatsanwalt Dr. Theodor Meier-Streng, dem Chef der Hamburger Staatsanwaltschaft, in dessen Büro gegenübersitzt. Offizielles Thema: Der verpatzte Einsatz vom Wochenende. Aber Biedermann ist lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass das nur ein Vorwand ist.

Ein Vorwand des Leitenden, um sich zu vergewissern, dass er, Biedermann, auf Kurs ist. Auf Linie. Und so ist das offizielle Thema auch schnell abgehakt. „Dumme Sache“, hat der Leitende noch gesagt und die Stirn dabei sorgenvoll in Falten gelegt. Biedermann hat zustimmend und mit einem Gesichtsausdruck, der außerordentliches Bedauern signalisieren sollte, genickt.

„Na ja, Schwamm drüber, anderswo passieren noch ganz andere Pannen, nichts wahr mein lieber Biedermann, nicht wahr? Ich sach' bloß: 'das Phantom'. Nich? Hähähä!“

Der Leitende spielt auf einen Fall an, bei dem die Polizei eines anderen Bundeslandes jahrelang mit riesigem Aufwand wegen mehrfachen Mordverdachts nach einer Frau gefahndet hat, die es gar nicht gibt. Und sich damit zum allgemeinen Gespött gemacht hat.

„Na ja, kommt davon, wenn man sich in eine Sache verrennt, nicht nach links und rechts schaut und dabei jeden guten Rat aus dem Wind schlägt, oder, nich'?“ Der Leitende.

Siehste, jetzt kommt's, denkt Biedermann. Erhöhte Alarmbereitschaft!

„Das könnte bei uns doch nicht passieren, oder, mein lieber Biedermann?“

„Ausgeschlossen! Andererseits: Errare humanum est...“ Biedermann, der Lateiner.

„Wie? Ach so, ja, natürlich.“

Der Tonfall des Leitenden wird eine Spur weniger jovial, nur eine winzige Nuance, doch Biedermann, hochkonzentriert und fest entschlossen, keinen Fehler zu machen, registriert sie.

„Wir Juristen sollten doch im Zweifelsfall lieber auf unseren Verstand hören und nicht auf unseren Bauch, oder, nich? Ich verstehe ja, dass dieser, äh, Limbach...“

Alarm, denkt Biedermann.

„... Ihnen gehörig auf den Geist geht und Ihnen inzwischen wahrscheinlich auch auf dem Magen liegt. Ist ja auch wirklich ein perfides Machwerk...“

Ist der Leitende jetzt Literaturkritiker, fragt sich Biedermann.

„...das der da abgeliefert hat. Dass so was überhaupt gedruckt wird... Aber strafrechtlich ist es halt in keinster Weise relevant. Die Zeiten, in denen Bücher, die der Obrigkeit nicht in den Kram passten, verboten oder gar verbrannt wurden, sind ja gottlob vorbei, oder, nich...?“

Arschloch, denkt Biedermann. Um das Buch geht es doch gar nicht.

„Und was diesen Limbach als Person betrifft: Nun ja, wer hat als junger Mensch nicht mal über die Stränge geschlagen, oder nich?“

Ich, denkt Biedermann.

„Das ist jetzt nicht bloß meine persönliche Sichtweise, in dieser Angelegenheit, das wissen Sie. Der Generalstaatsanwalt und der Senator sehen das genauso.“

Und du machst vor denen natürlich brav Männchen, denkt Biedermann.

„Da sind wir uns jetzt doch einig, oder? Sie sind in dieser Sache doch nicht weiter tätig, oder?“

Der Tonfall des Leitenden ist jetzt kein bisschen mehr jovial. Seine Augen haben sich zu Schlitzen verengt. Irgendwie gleich er in diesem Moment einem Krokodil. Das auf Beute lauert.

„Ich? Natürlich nicht. Ich kenne die Gepflogenheiten und halte mich an die Regeln. Das wissen Sie doch, Herr Dr. Meier-Streng.“

Biedermann denkt an den Kollegen. Den, mit den knallharten Plädoyers. Der jetzt Revisionen bearbeitet.

„Natürlich, mein lieber Biedermann, natürlich.“

Vielleicht ist die Bearbeitung von Revisionen ja ganz interessant, überlegt Biedermann.

* * *

Limbach in Aufbruchstimmung. Hat er die vergangenen Tage noch in tiefer Depression verbracht, verzweifelt über die Verdorbenheit und Niveaulosigkeit der Welt, ist er nun schon wieder eifrig am Pläne schmieden. Er ist fest entschlossen, dem Literaturbetrieb den Rücken zu kehren. Mit dem Geld, das er dort verdient hat und noch verdienen würde, würde es ihm bestimmt gelingen, in einer anderen Branche Fuß zu fassen. Hat er sich sonst bei der Zeitungslektüre hauptsächlich für das Feuilleton und die Politik-Seiten interessiert, studiert er nun auch intensiv den Wirtschaftsteil. Es muss doch Branchen geben, die einigermaßen krisensicher sind.

Die gibt es in der Tat. Er könnte zum Beispiel Teilhaber eines Bordells werden. Oder bei einem Bestattungsunternehmen einsteigen. So lange es Menschen gibt, besteht für beide Bereiche große Nachfrage. Die Gastronomie erscheint ihm dagegen zu unsicher. Am vielversprechendsten wäre es wahrscheinlich, irgendein Internet-Portal ins Leben zu rufen, aber dafür kennt er sich zu wenig in diesem Metier aus. Bei solchen Gelegenheiten bedauert er manchmal, nichts Vernünftiges gelernt zu haben.

Sich an einer Bank zu beteiligen verbietet ihm sein Gewissen. Obwohl man damit absolut auf der sicheren Seite wäre. Geht alles den Bach runter springt immer der Staat ein.

Egal: Limbach ist jetzt wieder ganz guter Dinge. Irgendwas würde sich schon ergeben. Schließlich kann er es sich wahrscheinlich sogar bald leisten, gar nichts mehr zu tun. Das wäre ihm sowieso am liebsten und käme seiner angeborenen Trägheit sehr entgegen. Ich bin gesund, sagt er sich, das ist die Hauptsache, und ich habe jetzt Geld. Beides Dinge, die alles andere als selbstverständlich sind. Ein ehemaliger Schulkollege ist kürzlich an Krebs gestorben. Was rege ich mich also auf? Soll doch die Pornoschlampe den Literaturnobelpreis bekommen. Jauch Kanzler werden. Beckenbauer Bundespräsident. Was kümmert es mich?

Heilfroh ist Limbach, dass seine vor ein paar Jahren aus purer Geldnot geschlossene Scheinehe mit einer Prostituierten aus der Karibik geschieden wurde, kurz bevor der Geldsegen über ihn gekommen ist. Jetzt kann der notorische Junggeselle auch offiziell wieder vollkommen artgerecht und ganz nach seinen Vorstellungen leben.

Endlich völlig unabhängig von allem und jedem, ein Zustand, der er jahrzehntelang herbeigesehnt hat und der endlich eingetreten ist, als er die Hoffnung schon aufgegeben hatte.

Eines ist aber klar: Er würde sich nicht heimlich, still und leise aus dem Literaturbetrieb davonstehlen. Sondern sich mit einem großen Knall verabschieden. Ideale Plattform dafür: „Deutschland sucht den Super-Autor“, der neueste Versuch des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, das sich im rasanten Sinkflug befindende Niveau der Privatsender noch zu unterbieten. Dort macht er seit ein paar Monaten den Buch-Bohlen, was enorme Auswirkungen auf die Verkaufszahlen seines Buches hat. Immer wenn er einen hoffnungsvollen Jungautor, eine hoffnungsvolle Jungautorin besonders gemein runterputzt, worüber die Blöd-Zeitung jeweils verlässlich und genüsslich berichtet, verkauft sich sein Buch besonders gut. Voller sadistischer Vorfreude malt er sich aus, wie er vor laufenden Kameras öffentlich die Brocken hinwerfen und es zum Eklat kommen lassen würde. „Deutsche zu blöd: Star-Autor will auswandern.“ Oder: „Limbach wirft hin: macht euren Dreck alleine!“ Oder so ähnlich. Auf die Blöd-Zeitung ist in solchen Fällen stets Verlass.

Deutschland wird er wohl nicht wirklich verlassen, jedenfalls nicht ganz. Dafür ist einfach zu heimatverbunden. Aber ein zweiter Wohnsitz wäre schon nicht schlecht, als Fluchtpunkt und Rückzugsgebiet, wenn ihm wieder einmal alles zu viel würde. Island und Norwegen stehen dabei auf seiner Favoriten-Liste ganz oben.

Limbach sitzt in einem Bistro im Hamburger Hof am Jungfernstieg. Vor sich eine heiße Schokolade und mehrere Tageszeitungen. Zwei kichernde Teenies erkennen ihn, lassen ihn aber in Ruhe. Hamburg eben. Schade eigentlich.

Sehen ganz süß aus, die beiden, denkt Limbach. Hätten mich ruhig um ein Autogramm bitten können. Für den Abend hat ihn sein Verleger zu sich nach Hause zum Essen eingeladen. Das hat er bisher noch nie getan. Bevor sein Buch zum Renner wurde, hat er seinen Verleger nicht einmal persönlich gekannt. Zwar ist der Verlag ein kleiner Verlag, aber seinen Autoren bringt der Verleger normalerweise kaum Interesse entgegen. Zumindest ist es Limbach lange Zeit so vorgekommen und es hat ihn sehr irritiert.

Doch dann hat sein Buch die Bestsellerlisten gestürmt. Und plötzlich war sein Verleger eng mit ihm befreundet. So wie jeder Verleger mit dem jeweils erfolgreichsten Autor seines Verlages eng befreundet ist.

Jetzt geht dem alten Fettsack der Arsch auf Grundeis, denkt Limbach schadenfroh. Rutscht auf den Knien vor mir rum und küsst mir die Füße. Denkt wohl, ohne mich geht sein Anarchisten-Verlag, auf dessen Homepage ehemalige RAF-Terroristen, die ihre Memoiren oder sonstige Pamphlete veröffentlicht haben, immer noch als „Protagonisten des bewaffneten Kampfs“ tituliert werden, und nicht als Verbrecher, den Bach runter. Eine Befürchtung, die wahrscheinlich völlig berechtigt ist. Keiner der anderen Autoren des Verlags ist auch nur annähernd so erfolgreich wie Limbach. Er verkauft alleine mehr als zehnmal so viel wie alle anderen zusammen. Ist ohnehin sowieso ein Wunder, dass diese linke Klitsche so lange überlebt hat.

Bestimmt macht der Verleger ihm heute Abend wieder ein Angebot. Nachdem er zuletzt mit einer Million Euro Garantiehonorar und zwanzig Prozent vom Ladenpreis für jedes verkaufte Exemplar seines nächsten Buches gelockt hat, würde er ihm nun wahrscheinlich die Teilhaberschaft anbieten. Oder eine seiner Töchter zur Frau geben. Wahrscheinlich aber beides.

Nicht schlecht für jemanden, der vor einem Jahr noch auf Hartz IV angewiesen war, denkt Limbach. Eigentlich könnte der Verleger ruhig einmal in der Woche meinen Lambo waschen, überlegt er, still vor sich hin grinsend. Oder seine Töchter könnten meine Wohnung putzen. Nackt natürlich. Limbachs Gesichtsausdruck ist jetzt hämisch. Erfolg ist einfach geil. Sexy.

„Hi Stefan, so blendend gelaunt heute? Alles wieder gut?“

Limbach schreckt hoch. Er hat sie gar nicht herankommen sehen. Hätte er, hätte er sie außerdem gar nicht erkannt. Zumindest nicht sofort. Sie trägt eine große Sonnenbrille und eine Baseball-Kappe. Keck und flott.

„Hallo Vivien. So ein Zufall. Hasse frei heute?“

„Hm. Mach' grad' n' Stadtbummel. So schönes Wetter heute. Und du?“

„Ich? Och, ich mach' grad' 'ne Schreibpause. Musste mal raus. Immer am Schreibtisch, weisse... Setz' dich doch. Ich lad' dich ein.“

„Gerne. Danke.“

* * *

Durch Hamburg zieht sich eine Spur der Gewalt. Seit kurzem werden bekannte Persönlichkeiten in ihrem privaten Umfeld angegriffen. Das Auto eines Politikers ging direkt vor dessen Wohnhaus in Flammen auf. Einem Chefredakteur wurden zu Hause die Fensterscheiben eingeworfen, ein paar Farbbeutel flogen hinterher. Einem Banker ist besonders übel mitgespielt worden: Er wurde am helllichten Tag bewusstlos und mit vollgekackter Hose mitten auf dem Rathausplatz gefunden. Jemand hatte seinen Drink mit k. o.-Tropfen angereichert und ihn dann in Hamburgs gute Stube befördert.

An die zehn Fälle dieser Art haben sich mittlerweile angehäuft – aufgeklärt ist kein einziger.

Das betrübt Oberstaatsanwalt Ernesto Biedermann außerordentlich. Da bei den Anschlägen politische Motive ganz offensichtlich sind, sind er und seine Abteilung zuständig. „Polizei tappt völlig im Dunkeln“ titeln die Zeitungen hämisch und fragen: „Wann gibt es den ersten Toten?“ Dabei hat es den schon längst gegeben: Vor dreizehn Jahren war der Vater eines Senators zu Tode gekommen, als er bei seinem Sohn zu Besuch war. Ihn traf ein Stein am Kopf, der durch das Fenster flog. Biedermann vermutet stark, dass es einen Zusammenhang mit den Anschlägen der jüngsten Zeit gab.

Nicht nur die Handschrift ist genau die gleiche. Es führt auch eine DNA-Spur direkt zu einem der Steine, mit denen kürzlich die Fensterscheiben des Chefredakteurs eingeworfen worden sind.

Und da prahlt dieser Limbach in diesem Revolverblatt mit seiner linksautonomen Vergangenheit. Outet sich, romantisch verklärt, als militanter Akteur der achtziger Jahre, als die besetzten Häuser in der Hafenstraße bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hatten. Tönt, dass man bei der Wahl der Mittel damals eben nicht immer zimperlich sein konnte, wenn man etwas erreichen wollte. Vergleicht sich und seine Mitstreiter sogar mit den Verschwörern des 20. Juli („Die nahmen sogar Mord in Kauf“). Und lässt, so ganz nebenbei, durchblicken, dass er als ehemaliger Szene-Insider so einiges wisse, was die Strafverfolgungsbehörden auch heute noch brennend interessieren dürfte. Auch und gerade im Fall des getöteten Senatoren-Vaters.

Wissen, das nur jemand haben konnte, der wusste, wer der Täter war.

Oder der vielleicht sogar selbst der Täter war.

Aber der Leitende, der General und der Senator verweisen auf das Renommee des Autors, der kurz vor dem internationalen Durchbruch stehe.

Biedermann sitzt an seinem Schreibtisch und studiert Akten. Seine Lieblingsbeschäftigung. Seit seiner Scheidung vor fünf Jahren ist er praktisch mit seinem Beruf verheiratet. Böse Zungen behaupten allerdings, das sei er auch schon vorher gewesen, deshalb sei es zur Trennung von seiner Frau gekommen.

Biedermanns Telefon klingelt. Hauptkommissar Kostner.

„Herr Oberstaatsanwalt, es ist etwas passiert.“

* * *

Peter-Heinrich Wagner bewohnt ein schmuckes Einfamilienhaus im Hamburger Stadtteil Farmsen-Berne. Er und seine Frau Ute haben für ihren Star-Autor gekocht, um ihn bei Laune zu halten. Beziehungsweise, um seine Laune zu verbessern. Ebenfalls anwesend: die beiden Töchter, Jule, 20, und Tanja, 23.

Es gibt Lasagne und Rotwein.

Limbach ist war zum ersten Mal bei seinem Verleger zu Gast und wundert sich ein wenig über die nach seinem Geschmack recht gediegene Einrichtung. Das Zuhause eines Ex-Revoluzzers und alternativen Verlegers hat er sich irgendwie anders vorgestellt. Ikea und WG-Atmosphäre vielleicht, und im Bücherregal Marx und Mao oder so. Mindestens aber ein Che-Guevara-Konterfei an der Wand.

Stattdessen: Eiche rustikal und die alten Klassiker. An den Wänden moderne Kunst. Und in der CD-Sammlung auffällig viel Barock.

Limbach erläutert seine Zukunftspläne.

„Es wird wohl auf Bergen hinauslaufen.“

„Hä? Bergen?“

„Ja, Bergen in Norwegen. An der Westküste. Die regenreichste Großstadt Europas. Durchschnittlich regnet es dort an zweihundertfünfzig Tagen im Jahr. Toll, nicht? Ich liebe ja Regen.“

„Ich weiß nicht... Und was willst du da machen?“ Peter-Heinrich Wagner gefällt nicht, was er hört.

„Ein Restaurant eröffnen. Zusammen mit Nui. Thailändische Küche in Norwegen. Der Hammer, sag' ich euch, der Hammer!“

„Ich weiß nicht, Thai-Lokal in Norwegen, so was gibt’s doch sicher schon.“ Ute Wagner.

„Na und? Wenn man so denkt... Alles gibt’s schon.“

Limbach wird irgendwie vom Teufel geritten. Er bindet seinen Gastgebern einen Bären nach dem anderen auf und empfindet eine diebische Freude dabei. Unter anderem behauptet er, möglicherweise auch eine Tango-Schule eröffnen zu wollen.

Er, der notorische Nichttänzer.

Eigentlich könnte ich denen auch weismachen, ich gehe ins Kloster, überlegt er. Und schreibe dort meine Memoiren. Er hat am Nachmittag noch eine ganze Weile mit Vivien zusammengesessen und hat mit ihr ziemlich herum gesponnen. Die beiden haben sich in den schillerndsten Farben ausgemalt, was Limbach jetzt alles machen könnte, wenn er sich tatsächlich aus der Buchbranche zurückziehen sollte.

Dabei haben sie eine Menge Spaß gehabt und sich gegenseitig hochgeschaukelt. Vivien hat sich förmlich vor Ideen überschlagen. Sie reichten von der Produktion und dem weltweiten Vertrieb von Original-Piraten-T-Shirts aus Somalia über den Schmuggel von Alkohol in den Iran bis zur Gründung einer Partei.

Tolle Frau, diese Vivien, hat Limbach gedacht. Kann ich verdammt gut leiden. Seine Laune hat sich daraufhin im Lauf des Nachmittags erheblich verbessert. Jetzt sitzt ihm wieder der Schalk im Nacken.

Und sein Verleger frisst ihm aus der Hand. So was Schönes, denkt Limbach. Und dreht noch ein wenig auf.

„Und dann gibt es ja noch diese alte Idee von mir, die immer wieder mal hochkommt, alle paar Jahre. Vor allem in Krisenzeiten. Also in Zeiten wie jetzt.“

„Die da wäre?“ Frau Wagner ist neugierig.

„Ich könnte ins Kloster gehen.“

Der Verleger bricht in schallendes Gelächter aus und verschluckt sich dabei.

Es dauert eine ganze Weile, bis er wieder sprechen kann.

„Stefan, ich stell' mir das gerade vor: Du im Kloster. In Mönchskutte. Jeden Morgen um fünf aufstehen. Dann arbeiten, beten, arbeiten, den ganzen Tag... abends dann zur Beichte beim Abt. Wegen unkeuscher Gedanken, womöglich...“ Der Verleger hat einen hochroten Kopf und Tränen in den Augen.

„... zwischendurch Choräle singen...“

Ist doch immer wieder schön, wenn man zur Erheiterung seiner Umgebung beitragen kann, denkt Limbach. Und sag' nichts gegen Choräle.

„... den Klostergarten pflegen...“

Jetzt kommt bestimmt irgendwas mit Touristen, denkt Limbach.

„... fette Touristen mit käsigen Beinen durchs Kloster führen...“

Wenn's der Bildung und der Erbauung dient, denkt Limbach, wieso nicht.

„... und zu guter Letzt noch das Klosterarchiv auf Vordermann bringen...“

Da hätte ich sogar Freude dran, ist sich Limbach sicher.

„Du könntest auch die Klosterzeitung machen.“ Ute Wagner.

„Oder die Klosterchronik schreiben.“ Tanja.

„Das ist mein Ernst. Ich habe einfach genug von dieser verkommenen, kaputten Welt. Der Welt der Pornodarsteller und Fußballspieler. Ein Kloster wäre für mich das reinste Paradies.“

Aber nur, wenn es ein gemischtes Kloster ist, also Männlein und Weiblein. Und auch nur, wenn ich Nui mitnehmen darf. Und den Lambo behalte ich auch, denkt Limbach bei sich. Und grinst in sich hinein. Mönch mit Lambo. Und blutjunger, bildschöner thailändischer Freundin. Das wäre doch mal was.

Nach außen hin jedoch: Todernste Miene. Leidender Gesichtsausdruck. Verzweifelter Autor. Fertig mit der Welt. Limbach wundert sich über sein schauspielerisches Talent.

Betretene Wagner-Gesichter. Längeres Schweigen.

„Würden die dich denn überhaupt noch nehmen?“ Jule.

„Ich glaub' schon. Wenn ich denen mein ganzes Vermögen spende, auf jeden Fall.“

Peter-Heinrich Wagner ist das Lachen abrupt vergangen. Dieser Limbach treibt ihn noch zur Verzweiflung. In den Ruin auf jeden Fall, wenn er jetzt nicht höllisch aufpasst. Er will Limbach Wein nachschenken. Der wehrt ab.

„Du, für mich nichts mehr, danke. Ich muss ja noch fahren. Die Lasagne war übrigens ausgezeichnet. Der Salat und der Wein auch. Vielen Dank nochmal für die Einladung.“

Der Verleger lässt sich nicht so schnell von seinem Vorhaben abbringen.

„Du kannst sowieso nicht mehr fahren. Ich ruf dir nachher n' Taxi.“

„Also gut.“ Der Verleger gießt nach.

„Stefan, ich meine, du solltest einfach mal eine Weile ausspannen. Du bist einfach bloß gestresst. Is' ja klar, war einfach zu viel für dich, in der letzten Zeit. Die ganze Aufregung, der Medienrummel. Da bist du bei weitem nicht der erste und der einzige, dem so was zu viel wird. Da sind schon welche durchgedreht. Wie gesagt: Das Angebot mit Sylt steht.“

Ich wusste es, denkt Limbach.

Der Verleger lässt nicht locker.

„Das wäre der ideale Ort für dich. Jule und Tanja begleiten dich, wenn du möchtest.“

Nee, nä, denkt Limbach. Das glaub' ich jetzt nicht!

„Einfach mal aus dem Alltagstrott raus und komplett abschalten.“

Scheiße, der Typ ist ja der reinste Zuhälter, denkt Limbach.

„Das wirkt wahre Wunder, wirst sehen.“

Obwohl, das wäre eine Beleidigung für alle Zuhälter. Denn selbst der schlimmste Lude würde doch bestimmt nicht seine eigenen Töchter ...

„Einfach mal relaxen. Die Seele baumeln lassen. Die Umgebung dort ist herrlich, weißt du. Du wärst übrigens nicht der erste Autor, der sich auf der Insel wohlfühlt.“

Limbach überlegt, welche der beiden Töchter seines Verlegers ihm besser gefällt.

„Du könntest dort Kraft tanken und zu dir finden. Danach sieht die Welt wieder ganz anders aus.“

Limbach kommt zu keinem rechten Ergebnis.

„Das ist mindestens so gut wie Kloster, glaub' mir.“

Sie sehen sich überhaupt nicht ähnlich. Gar nicht wie Schwestern.

„Ach, was sag' ich: besser als Kloster, viel besser! Ein Kloster ist gar nichts dagegen. Geradezu lächerlich.“

Die eine ist blond, die andere schwarzhaarig.

„Es erfährt auch keiner, wo du bist. Von uns erfährt keiner was. Wir halten dicht. Da kannst du dich hundertprozentig drauf verlassen. Was, Mädels?“

Fragender Blick in die Runde. Zustimmendes Kopfnicken von Frau und Töchtern.

„Siehste. Du hast dort komplett deine Ruhe.“

Limbach findet, dass beide verflucht gut aussehen.

„Wirst sehen: Mal 'ne Weile untertauchen, alles hinter sich lassen. Die Welt ist dann ganz weit weg. Ganz weit weg, sag' ich dir. Danach bist du wie neugeboren. Du bist dann ein anderer Mensch.“

Der Verleger scheint sich allmählich in Rage zu reden. Offenbar hatte er ein wenig zu sehr dem Alkohol zugesprochen. Jetzt krieg' dich mal wieder ein, ich hab's ja kapiert, denkt Limbach.

„Du kannst komplett neu anfangen. Es ist dafür nie zu spät. Glaub' mir: Ich weiß wovon ich rede.“

„Ja? Woher?“

* * *

Limbach hat schlecht geschlafen. Hat wirr geträumt. Ist dann mitten in der Nacht aufgewacht. Hat gegrübelt. Der zunächst feucht-fröhliche Abend bei seinem Verleger hat einen etwas unerwarteten Verlauf genommen. Nachdem sich die Frau und die Töchter Wagners irgendwann zurückgezogen haben, ist der Charakter des Gesprächs auf einmal viel ernster geworden. Der Verleger hat, was er gegenüber Limbach noch nie getan hat, aus seinem Leben erzählt. Hat aus dem Nähkästchen geplaudert, sozusagen. Limbach hat aufmerksam zugehört. Und irgendwann gedacht, der Lebensweg eines Kommunisten zum Verleger und Millionär gäbe bestimmt einen prima Romanstoff ab.

Irgendwann hat ihn irgendetwas stutzig gemacht. Was, ist ihm noch nicht wieder eingefallen und er ist wieder eingeschlummert.

Jetzt ist es früher Morgen und Limbach sitzt, ungewöhnlich um diese Zeit, in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Aus seiner Journalisten-Zeit hat er ein umfangreiches, penibel geordnetes Archiv vor allem zeithistorischen Inhalts herübergerettet. Fachliteratur, Zeitungsartikel, Dateien. Er braucht nicht lange, dann hat er gefunden, wonach er gesucht hat.

Und er erschrickt.

Gaukler

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