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II. Zum Vorverständnis 1. Die Historisierung der Hexenverfolgungen

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Aufklärung

Der erste Gegenentwurf zum theologischen System der Hexenlehre kam von der europäischen Aufklärung (circa 1650–1800). Zwar war diese große geistesgeschichtliche Strömung nicht grundsätzlich areligiös, aber ihre Betonung von Vernunft und kritischer Skepsis gegenüber einer auf bloßen Glauben und Dogma gegründeten Autorität förderte kirchenkritische Positionen, insbesondere gegenüber der stärker auf Traditionen und Autorität gegründeten katholischen Kirche. Dementsprechend ordneten Vertreter der Aufklärung – in Deutschland zunächst besonders Christian Thomasius († 1728) – auch Hexenglaube und Hexenverfolgungen ein: Als grundsätzliches Unrecht, weil die behaupteten Delikte – die Verbindung mit einem körperlich präsenten Teufel, der Flug zum Hexensabbat und die Zauberei – weder theologisch noch physikalisch begründet werden könnten. Magie war der Glaube des ungebildeten Volkes an die Wirksamkeit abstruser Rituale und der gelehrte Hexenglaube war nichts als eben solcher Aberglaube auf höherem Niveau, ein „Pfaffentrug“, erfunden von mittelalterlichen Theologen und der Tyranney des Pabsts (Thomasius). Alle wegen Hexerei Verurteilten mussten demnach als Opfer einer Fiktion angesehen werden. Dieses Deutungsmuster griff besonders der lutherische Geistliche Wilhelm Gottlieb Soldan († 1869) mit seiner 1843 fertig gestellten „Geschichte der Hexenprozesse“ auf. Dieses oft in undurchsichtigen Überarbeitungen bis heute immer wieder nachgedruckte Kompendium wurde auch außerhalb Deutschlands rezipiert;sein Erklärungsansatz gilt der neueren Hexenforschung als „rationalistisches“ oder „Soldan-Paradigma“ (Monter).

Kulturkampf

Im Gegensatz dazu beharrte die katholische Kirche auf ihren Traditionen, so dass eine kritische Aufarbeitung auch der Hexenlehre unterblieb. Beide Positionen prallten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Deutschland im „Kulturkampf“ aufeinander, wobei auch die Verantwortung für die historischen Hexenprozesse thematisiert wurde. Die politische Motivation dieser Attacken hat jedoch bisweilen den Blick auf die historischen Sachverhalte getrübt, und dass die heftig angegriffene katholische Seite damals auch ernsthafte Versuche unternommen hat, die eigene Verstrickung kritisch aufzuarbeiten, fiel nicht besonders auf. Bis heute trägt die anti-katholische beziehungsweise anti-kirchliche Komponente jenes „rationalistischen“ Ansatzes dazu bei, die Hexenprozesse auf klerikalen Aberglauben und kirchliche Unterdrückungsabsichten insbesondere der katholischen Kirche zu reduzieren. Auch amerikanische Gelehrte wie Henry Charles Lea († 1909) und George Lincoln Burr († 1938) folgten unter dem Einfluss ihrer liberal geprägten akademischen Kultur dem „rationalistischen Paradigma“ und bezeichneten die Hexenjagden unter Bezug auf ihre theologischen Grundlagen als Folgen eines ‚gelehrten Wahns‘.

Sozialkulturelle Realitäten?

Die ‚Entzauberung einer bezauberten Welt‘ (Balthasar Bekker, † 1698), wie sie die Aufklärung propagierte, war notwendig geworden, um zu neuen intellektuellen Ufern aufzubrechen. Doch förderte dies, gerade unter Gebildeten, die im 19. Jahrhundert aufkommenden Gegenbewegungen der Romantik, der religiösen Schwärmerei und der Esoterik. Es überrascht somit nicht, dass auch der anhaltende literarisch-gelehrte Diskurs über die historische Hexerei entsprechende Bedürfnisse befriedigte. So ist allen Schwärmern bis heute die Vorstellung gemeinsam, hinter den Hexereianklagen hätten sozialkulturelle Realitäten gestanden. Sogar das Beharren auf der konkreten Existenz des Hexereideliktes im ursprünglich behaupteten Sinne gehört hierzu. Es ist dies ein Argument, das bezeichnenderweise von katholischer Seite ausging, als ob sich damit noch im Nachhinein die Hexenverfolgung rechtfertigen ließe. Ganz deutlich ist dies bei Joseph Görres († 1848) im 5. Band seines 1840–1842 erschienenen Hauptwerks „Die christliche Mystik“ zu erkennen. Görres, ab 1827 Professor für Geschichte in München, hatte sich vom Anhänger der französischen Revolution zum hervorstechenden Repräsentanten der mystisch gefärbten katholischen Erneuerungsbewegung jener Zeit gewandelt. In diesem Zusammenhang erklärte er nicht nur die kirchliche Dämonenlehre zur Reaktion auf ein reales Phänomen, sondern entsprechend auch das Hexenwesen, wenngleich er viele Angeklagte für unschuldig hielt.

Eine in reale Dimensionen gewandte Variante dieser Vision schuf über 60 Jahre nach Görres der katholische Pfarrer H. Laven aus Leiwen an der Mittelmosel. Laven glaubte, den ‚wahren‘ Kern der in den Geständnissen beschriebenen Hexentänze erkannt zu haben: nächtliche Orgien, bei denen reiche, aber moralisch verkommene Trierer Bürger die Töchter der Bauern aus den Dörfern der Umgebung verführt hätten. Knapp 20 Jahre später veröffentlichte der sich selbst als „katholischer Reverend“ bezeichnende Autodidakt A. Montague Summers († 1948) eine „Geschichte der Hexerei“, worin er ebenso von der realen Macht der Dämonen ausging wie von der Bösartigkeit der als Hexen angeklagten Menschen; seinen wirren Ausführungen zufolge seien die Hexen eine soziale Pest und Parasiten gewesen, einem schändlichen und obszönen Glauben verfallen. Sie hätten eine mächtige, kirchenfeindliche Geheimorganisation gebildet und ihre dörflichen Genossen mit Terror und Aberglauben überzogen. In ähnlichen Worten nahm 1969 der Würzburger Rechtshistoriker Friedrich Merzbacher in seiner Studie zu den Hexenverfolgungen in Franken Bezug auf den angeblich wahren Hintergrund der Prozesse: Viele der Angeklagten „seien von Gott abgefallen“ und hätten „einem verhängnisvollen Kultus“ angehangen – eine Deutung, die sich zum Beweis nur auf die Geständnisse der Angeklagten berufen konnte. Allerdings scheint sich der Historiker Merzbacher dieser Interpretation doch nicht so sicher gewesen zu sein, denn er bot zugleich eine Erklärung an, die freilich ebenfalls einer wissenschaftlichen Beweisführung entbehrte: Die Hexereiangeklagten seien „häufig […] zermürbte Naturen“ gewesen; hinter dem Vorwurf der Hexerei hätten reale Delikte wie Giftmord und Kindestötung gestanden, eine Ansicht, die auch schon bei Görres nachzulesen ist.

Romantik

Die Annahme, frühneuzeitliche Hexereianklagen hätten konkrete Vorkommnisse wie sittliche Vergehen, Religionsdelikte oder profane Kriminalität widergespiegelt, ist eher als ein Randphänomen der Rezeptionsgeschichte zu bezeichnen. Im Gegensatz zu dieser negativen Deutung hat sich bis heute die positive Deutung eines vermeintlich realen Gehaltes der Hexerei erhalten. Alles, was in den Hexenprozessen als kultische Tätigkeit und Eigenschaften der Hexen beschrieben‘ worden war, erschien nun als Hinweis auf reale vorchristliche Kulte und Bräuche. Diese hätten die Christianisierung im Untergrund überdauert, von ‚der Kirche‘ als Satanskult verteufelt und verfolgt. Den Anfang dieser positiven Deutung des Hexenphänomens, welche die vermeintlichen Hexen regelrecht rehabilitierte, machte in Deutschland niemand anderes als der berühmte Göttinger Sprachforscher Jacob Grimm († 1863). Im Mittelpunkt seiner romantischen Weltsicht stand die Vorstellung, dass man, wie bereits in den Sagen, Märchen, Mythen und in der Sprache der Deutschen, auch im historischen Hexenwesen Urbestandteile einer germanischen Kultur nachweisen könne. Grimm wollte damit die verschütteten Grundlagen einer nationalen Identität der nach Einheit dürstenden Deutschen freilegen. Da er glaubte, erst die christliche Missionierung hätte die „Verwandlung der Götter in Teufel, der Weisen Frauen in Hexen, der [heidnischen] Gottesdienste in abergläubische Gebräuche“ bewirkt, musste die Urreligion der Germanen wieder von der römisch-christlichen Überformung freigelegt werden.

In Frankreich demonstrierte Grimms Zeitgenosse Jules Michelet († 1874), dass sich die historischen Hexen auch für andere nationalpolitische Ziele in Anspruch nehmen ließen. In seinem Buch „La Sorcière“ (1862) schuf Michelet in völlig freier, ‚gefühlter‘ Umdeutung des historischen Geschehens die Figur der Hexe als eine aus den Tiefen der Geschichte herkommende ‚weise Frau‘, deren heilkundiges Wissen sie in den dunklen Zeiten der Vergangenheit zur einzigen Helferin des von Kirche und Feudalherren unterdrückten Volkes habe werden lassen. Die revolutionären Errungenschaften der französischen Nation bilden hier den Hintergrund, vor dem die historischen Hexen zu Vorläuferinnen einer großen Volksbefreiung stilisiert wurden.

Hexenkulte

Das von Grimm und Michelet geschaffene „romantische Paradigma“ (Monter) setzte sich in den kommenden Jahrzehnten und erst recht im 20. Jahrhundert im europäischen Bildungsbürgertum fort, eine Bewegung weg von einer rein amtskirchlich geprägten Religiosität hin zu einer ungebundenen, neu-heidnischen, esoterischen und okkultistischen Schwärmerei. Vieles, was historisch nicht zu einander gehört hatte, kam nun zusammen: Begeisterung für germanische Kulte und keltische Druiden, Teilnahme an spiritistischen Zirkeln und regelrechte Satansverehrung. Theorien, die von der Existenz realer Hexensekten in der Verfolgungszeit ausgingen, mussten von dieser Energie regelrecht aufgeladen werden. Die Konturen solider Wissenschaft gingen dabei mitunter verloren. So behauptete die britische Ägyptologin Margaret Alice Murray († 1963) in einem 1921 veröffentlichten Buch, die verfolgten Hexen seien die letzten Anhänger eines nur noch im Untergrund existierenden, aber aus archaischer Zeit herkommenden Fruchtbarkeitskultes gewesen. 1933 wartete Murray in einem weiteren Machwerk mit der These auf, der sich auf dem Sabbat konkret realisierende Hexenkult habe einem gehörnten Gott gegolten, der erst von der christlichen Kirche zum Teufel verkehrt worden sei. Grimms Methode der rückwärts orientierten Umdeutung des historischen Hexenglaubens in heidnische Kultformen war damit im 20. Jahrhundert angekommen. Hatte schon Michelet die Figur der Hexe als Helferin des Volkes nur gefühlsmäßig erfasst, berief sich Murray auf die besondere weibliche Intuition, welches zwar nicht die Fachwelt, dafür aber umso mehr die interessierte Öffentlichkeit und insbesondere feministisch orientierte Leserinnen und Leser ansprechen sollte.

Nationalsozialismus

Auf welch zweifelhaftem Boden dieser Zugang eigentlich stand, wird an der weiteren Behandlung des Themas in der deutschen und österreichischen Sprach- und Volksforschung deutlich. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg, aber erst recht nach der als schmählich empfundenen Niederlage, gewannen radikale nationalistische Strömungen immens an Bedeutung und mit ihnen auch das Bedürfnis, in praktisch allen vermeintlich nicht von der Kirche beeinflussten kulturellen Zeugnissen der Vergangenheit den heiß verehrten Urzustand einer glorreichen Germanenwelt aufzuspüren. Die frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen wurden in dieser Vergangenheitsverklärung darauf reduziert, lediglich ein Instrument der katholischen Kirche zur Unterdrückung einer freien germanischen Kultur‘ gewesen zu sein. Von hier aus war es nur ein kleiner Schritt hin zu einer rassentheoretischen Vereinnahmung des Phänomens. Mit seiner im Jahre 1930 veröffentlichten Schrift „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“ brachte Alfred Rosenberg († 1946), Chefideologe der NSDAP, diese unter völkisch-nationalistischen Intellektuellen schon weit verbreitete Position auf den Punkt: Die Hexenverfolgung hatte demnach nicht Millionen von Frauen, sondern Millionen von ‚Germaninnen‘, Trägerinnen besten germanischen Erbgutes, ausgelöscht. Das rassische Motiv ließ auch die Frage der Verantwortung der Kirche in neuem Licht erscheinen; denn die Kirche war demnach nur vordergründig von einem religiös-kulturellen Motiv angetrieben worden, tatsächlich aber aufgrund ihres ‚jüdischen‘ Ursprung auf die Vernichtung des rassisch höherwertigen Germanentums fixiert gewesen.

Damit übernahm Rosenberg zentrale Positionen des völkisch-rassischen Feminismus der 1920er Jahren: Vorstellungen von einem germanisch-nordischen Urmatriarchat, das vom ‚orientalisch-italischen‘ Christentum zerstört worden sei, von der Frau als Bewahrerin der nordischen Rasse und des Erbguts des deutschen Volkes. Demzufolge handelte es sich bei den verfolgten Hexen um rassereine blonde und blauäugige ‚Germaninnen‘, Hüterinnen der Volkskultur, kräftig von Statur, wissend und klug. In ihren radikalen Zuspitzungen wurden diese Vorstellungen von Mathilde Ludendorff († 1966), Ehefrau des Weltkriegsgenerals und frühen Hitler-Anhängers Erich Ludendorff († 1937), in großer Auflage unter dem Titel „Christliche Grausamkeit an Deutschen Frauen“ (1934) in die Öffentlichkeit gebracht. Noch schärfer formulierte Frieda Reimerdes (beziehungsweise Friederike Müller-Reimerdes), die ihre Publikation „Der christliche Hexenwahn. Gedanken zum religiösen Freiheitskampf der deutschen Frau“ (1935) als „Kampfruf für jede nordisch-bewusste Frau“ verstand. Erst die „rassewidrige Weltanschauung“ des Christentums habe das „artgemäße Heldentum“ des germanischen Mannes, der nur die Gleichwertigkeit der Frau akzeptiert habe, zunichte gemacht und zu einer tausendjährigen unwürdigen Stellung der Frau im Volksleben geführt. Die Hexenverfolgung sei Beweis, dass sich die deutschen Frauen nicht freiwillig in dieses Schicksal gefügt hätten: „Blonde Frauen und Mütter, die Trägerinnen nordischen Rasseerbguts“, seien von der Kirche systematisch ausgerottet worden; christliche Männer hätten sich darin überboten, „die eifrigsten Hexenverfolger“ zu sein.

Die Germanenschwärmerei des „Tausendjährigen Reiches“ brachte noch eine andere, nicht minder phantastische und auch nicht weniger materialistische Deutung der Hexenverfolgung hervor. In ihr wurden nämlich nicht die Opfer der Verfolgungen rassenideologisch geadelt, sondern jene, die schon in grauer Vorzeit die Hexen verfolgt haben sollen. Bei den Verfolgten habe es sich in Wirklichkeit – so die abstruse These – um „kulturzerstörende Frauen“ mit Bösem im Sinn gehandelt. Darum hätten sie, wie die „Volksschädlinge“ im NS-Regime, ausgerottet werden müssen, und zwar durch verschworene Männerbünde. Nach der Christianisierung sei dieses Vernichtungswerk an die Kirche übergegangen, welche damit aber zugleich auch das germanische Erbe auszulöschen versucht habe.

Zu Recht ist bemerkt worden (Behringer), dass die besonders von dem Wiener Germanisten Otto Höfler († 1987) vorgetragene These von den hexenverfolgenden Männerbünden im Grunde eine in die Urgeschichte projizierte Version des so genannten „Schwarzen Ordens“ des „Dritten Reiches“ war und auf die mythische Verklärung von Heinrich Himmlers SS abzielte, eines ebenfalls zur Vernichtung angeblicher „Volksschädlinge“ eingeschworenen Männerbundes.

Wie ernst der für seine okkulten und esoterischen Interessen bekannte Himmler († 1945) das Thema „Hexenverfolgung“ nahm, zeigt die Tatsache, dass er innerhalb seiner zentralen Behörde, dem Reichssicherheitshauptamt in Berlin, von 1935 bis 1944 ein großangelegtes Projekt, das erste seiner Art überhaupt, zur systematischen Erforschung der frühneuzeitlichen Hexenverfolgung ansiedelte. Während in der gleichen Behörde der Terror des „Dritten Reiches“, die Reichspogromnacht von 1938 und schließlich der Völkermord an den Juden Europas organisiert wurden, trugen Mitarbeiter des „H-Sonderauftrags“ im Referat „Gegnerforschung“ aus Archiven und Bibliotheken Nachweise zu den Hexenverfolgungen in den deutschsprachigen und angrenzenden Ländern Europas zusammen. Als das „H-Sonderkommando“ 1944 seine Arbeit wegen der Kriegslage einstellte, hatte man zwar rund 33.000 Hexenprozesse nachgewiesen, aber nicht jene Millionen, die man der Kirche stets vorgeworfen hatte. Ebenso wenig konnte man Beweise für Höflers Männerbünde oder Belege für die Existenz fortdauernder germanischer Kultur- und Rassemerkmale bei den der Hexerei angeklagten Personen finden. Immerhin folgten die Fragestellungen des Projekts eher der völkisch-materialistischen Version von der ‚edlen‘ germanischen Hexe als der düsteren Version der „Volksschädlinge“, was auch besser zum politischen Zweck des Unternehmens passte, nämlich den letzten, entscheidenden Angriff auf die Kirche(n) nach dem erwarteten Endsieg vorzubereiten.

Moderne Romantik

Mit dem Untergang des NS-Regimes waren Materialisierung und politische Nutzung des Themas keineswegs erledigt. Die Sinn-Suche des modernen Menschen hält bis heute die in das 19. Jahrhundert zurückreichenden romantischen und okkulten Phantasien über die vermeintlichen Hexen am Leben. So haben die Vorstellungen vom Hexenwesen als einem verkappten archaischen Kult insbesondere durch Margaret Murrays Vision (Hexerei als matriarchalischer Fruchtbarkeitskult) bis in die 1970er Jahre international die Gründung einer regelrechten Hexenreligion (Wicca-Bewegung) motiviert. Zu diesen „neuen Hexen“ kamen mit der Umweltbewegung noch die ‚ökologischen‘ Hexen, das heißt Personen, die sich als ‚Kräuterhexen‘ definieren und nach den Spuren ihrer vermeintlichen Vorgängerinnen suchen. Ebenso hat die emanzipatorische Bewegung des Feminismus die Hexen als ihre historischen Vorläuferinnen entdeckt.

Angesichts der noch immer gepflegten faszinierend-irrigen Vorstellung, hinter Hexerei stehe tatsächlich eine okkulte Wirklichkeit mit vorchristlichen Wurzeln, verwundert es nicht, dass selbst um Ernsthaftigkeit bemühte Wissenschaftler davon in den Bann gezogen werden konnten. So argumentierte der amerikanische Mediävist Jeffrey B. Russell in seinem Buch „Witchcraft in the Middle Ages“ (1972), die Hexensekte könne schon seit dem späten Mittelalter ebenso historische Realität beanspruchen wie die mit ihr verwandte Ketzerbewegung. Vergleichbar mit dieser sei der Hexenkult eine heimliche Protestbewegung gegen die dominierende christliche Kultur gewesen; darüber hinaus weise sie Verbindungen zur (nicht weniger mythischen) Volkskultur auf, insbesondere zu Vorstellungen über Fruchtbarkeitsriten. Was Inquisitoren unter der Folter erpressten und in Handbüchern weiter verbreiteten, hielt Russel für die Widerspiegelung realer Handlungsabläufe: Die Treffen auf dem Hexensabbat (jedoch nicht der Flug dorthin), die rituell-sexuelle Verehrung einer Person, die sich dort als Teufel gab, der orgienähnliche Ablauf solcher Veranstaltungen.

Waren solche Phantasien immer auch von politischen Visionen inspiriert (Hexen als Sozialrebellen; der vermeintlich real praktizierte Hexenkult als alternativer Entwurf zur herrschenden römisch-christlichen Kultur), so führt der jüngste Ableger, die „New-Age“-Bewegung mit ihrer mythischen Deutung der Welt als Wohnstätte einer wahren Heerschar von guten und bösen Geistern, eher in das unpolitische Fantasy-Reich.

Weise Frauen

Auf der publizistischen Ebene spiegelt sich diese verwirrende Situation darin wider, dass einerseits veraltete, längst überholte „Hexen“-Literatur im modernen Bucheinband nachgedruckt wird, andererseits pseudo-wissenschaftliche Werke beträchtlichen Markterfolg erzielen. Letztere bieten freilich nichts anderes an als die bekannten Verschwörungsszenarien von der unterdrückten Frau, der unterdrückten Weiblichkeit, der unterdrückten matriarchalischen Kultur und den üblichen Zerrbildern männlicher Herrschaft. Wie sehr diese Versatzstücke eine breite Nachfrage befriedigen, zeigt der publizistische Erfolg eines erstmals 1985 erschienenen Buches, welches schon im Titel die Herkunft seiner aus dem 19. Jahrhundert stammenden These offenlegt: „Die Vernichtung der weisen Frauen“. Die Hauptaussage lautet, mit den Hexen seien eigentlich Hebammen beziehungsweise „weise Frauen“ verfolgt worden, weil sie über ein Wissen zur Empfängnisverhütung verfügt hätten, das die Wiederbevölkerung des durch die Pest des 14. und 15. Jahrhunderts entvölkerten kirchlichen und weltlichen Großgrundbesitzes verhindert habe. Und nur weil es „Kirche“ und „Staat“ in einer einzigartigen Repressions- und Ausrottungsaktion gelungen sei, das Wissen um Verhütungstechniken und Abtreibung zu vernichten, habe es das Bevölkerungswachstum der Neuzeit überhaupt gegeben.

Alle Annahmen und angeblichen Beweise dieser These sind inzwischen von der historischen Forschung widerlegt worden: Statt Unterbevölkerung herrschte bereits in der Verfolgungszeit eine Überbevölkerung; das Wissen um Verhütungsmittel war keineswegs eine nur den Hebammen oder weisen Frauen zur Verfügung stehende Kunst; Hebammen bildeten unter den Opfern der Verfolgung eine verschwindend geringe Minderheit; die aktive Teilnahme der Bevölkerung an den Hexenjagden war viel zu ausgeprägt, um diese allein auf eine konzertierte Aktion von Kirche und weltlicher Herrschaft zu reduzieren. Überdies gab es im Deutschland der Frühen Neuzeit keinen übermächtig agierenden Staat, sondern eine Vielzahl von Territorien und Herrschaften, deren Obrigkeiten durchaus unterschiedliche Haltungen gegenüber dem Hexereidelikt einnahmen. Auch von einer unisono agierenden Kirche kann nicht gesprochen werden. Zum einen besaß die römische Papstkirche diesseits der Alpen keine weltliche Macht und zum anderen beurteilten die Vertreter der protestantischen Konfessionen das Hexereidelikt sehr unterschiedlich. Gerade diese herrschaftliche und konfessionelle Pluralität verhinderte auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eine konzertierte Aktion gegen die vermeintlichen Hexen. In den europäischen Kontext gestellt, verliert die These von der Vernichtung der weisen Frauen überdies völlig den Boden historischer Plausibilität (vgl. Kap. VII)

Doch trotz einhelliger und überzeugender Widerlegung hat die Theorie von der „Vernichtung der weisen Frauen“ in der interessierten Öffentlichkeit breite Akzeptanz gefunden. Denn sie bedient nicht nur esoterische und feministische Orientierungen, sondern auch politik- und gesellschaftskritische Einstellungen, für die „Staat“ und „Kirche“ schon immer zum festen Rollenrepertoire von Schurkenstücken und politischen Verschwörungen gehören. Auf der reinen Unterhaltungsebene erhält diese Theorie üppige Nahrung, weil Roman- und Drehbuchschreiber nicht müde werden, klischeehafte Szenarien zu entwerfen, in denen rothaarige, heilkundige, erstaunlich „emanzipierte“ Hebammen von lüsternen Inquisitoren und Richtern als Hexen verfolgt werden.

Die mehr als kuriosen und irrigen Vorstellungen, es gäbe einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Hexenjagden und dem angeblichen Gebrauch halluzinogener Drogen oder Hexensalben (Flug und Sabbat als Halluzinationen), dem Ausbrechen von Ergotismus und Mutterkornvergiftung (als Erklärung von Besessenheitsfällen) oder der Verbreitung von Syphilis sollen an dieser Stelle nicht weiterverfolgt werden.

Alle populären Deutungen der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen sind unverkennbar von wirkmächtigen Klischees geprägt, in denen entweder die üblichen Verdächtigen ‚Staat‘ und ‚Kirche‘ auftreten oder esoterische Phantasien den Ton angeben. Wer sich nicht unkritisch in ihre Gefolgschaft einordnen und stattdessen den Bezug des Phänomens zur gesellschaftlichen Wirklichkeit der Epoche verstehen will, der bleibt auf eine genaue Analyse der historischen Dokumente, breite Kenntnis der seriösen Literatur und eine kritische Reflexion des eigenen Standpunkts angewiesen.

Hexen und Hexenverfolgung in der frühen Neuzeit

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