Читать книгу Blitz (Band 2) - Walter Farley - Страница 6
DER ANSCHLAG
ОглавлениеDas alte Stallgebäude lag in tiefer nächtlicher Finsternis. Ein eisernes Tor quietschte und gleich darauf schlich ein kleiner, untersetzter Mann an der Seitenwand des Stalles entlang. Er bewegte sich mit äußerster Vorsicht; seine fleischige Rechte tastete sich behutsam voran bis zur Tür, an der er innehielt und in seiner rechten Jackentasche etwas suchte, das er zu seinem großen Verdruss nicht fand. Leise fluchend griff er unbeholfen mit seiner rechten Hand in die linke Tasche hinüber, zog erst den dort leer hängenden linken Jackenärmel heraus und danach eine Injektionsspritze. Sein dunkelhäutiges Gesicht verzog sich zu einem hämischen Grinsen. Er ging jetzt auf Zehenspitzen weiter, ohne sich die Mühe zu machen, den leeren Jackenärmel wieder in die Tasche zurückzustopfen.
Lautlos öffnete er die Stalltür und betrat den Raum. Seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen erkannten sofort die beiden Boxen an der anderen Seite. Als er darauf zuging, presste sich sein Daumen griffbereit auf den Kolben der Spritze.
Aus einer der Boxen kam das Geräusch kräftig auf den Boden stampfender Pferdehufe. Dann sah ein edler, kleiner, sehr wild blickender Pferdekopf über die Barriere. Die feinen Nüstern vibrierten und die Ohren stellten sich lauschend nach vorn. Unwillkürlich blieb der Eindringling stehen. Das Pferd schüttelte die lange schwarze Mähne und schlug mit einem seiner gewaltigen Vorderhufe gegen die Lattentür. Ein Brett knackte, als der Mann näher kam. Das Pferd bleckte die Zähne und stieß das schrille, laute Wiehern eines wilden Hengstes aus. Der Eindringling bewegte sich vorwärts. Er musste sich beeilen. Mit kurzen, behutsamen Schritten näherte er sich der niedrigen Tür der Box, für seinen Körperumfang erstaunlich geschwind. Er öffnete die Tür, sprang aber sofort zurück, als der riesige Hengst mit den Vorderhufen nach ihm schlug. Der Mann fasste die Injektionsspritze fester und näherte sich dem Pferd erneut, diesmal mit größerer Vorsicht. Er hielt inne, sein fettes Gesicht zuckte nervös. Der riesige Hengst erhob sich mit aufgerissenem Maul und wütend geblecktem Gebiss auf die Hinterhand. Als er wieder herunterkam, sprang der Mann auf ihn zu, aber ein Vorderhuf des Hengstes traf ihn in den Bauch. Der Mann wurde grau im Gesicht vor Schmerz. Er stolperte rückwärts und versuchte, die Boxentür zu schließen. Aber der Hengst war schon halb durch die Tür und bäumte sich erneut auf, als der Mann zu Boden fiel.
Über ihm wirbelten die Hufe des Pferdes in der Luft. Die Spritze fiel ihm aus der Hand, als die wuchtige Gestalt des Hengstes sich langsam auf ihn heruntersenkte. Blitzschnell rollte er sich zur Seite; dadurch entging er um Haaresbreite den schlagenden Hufen. In verzweifelter Hast rappelte er sich auf und floh aus dem Stall. Draußen hörte er Stimmen, die sich vom Hoftor her näherten. Er wandte sich in die entgegengesetzte Richtung und verschwand im Dunkel der Nacht.
Gleich darauf stürzte ein Junge mit einer Taschenlampe auf den Stall zu. Ihm folgte ebenso hastig auf krummen Reiterbeinen ein älterer Mann.
„Hier stimmt was nicht, Henry!“, rief der Junge. „Die Tür steht offen!“
Henry griff nach der Taschenlampe. „Lass mich vorgehen, Alec, du bleibst hier, vorsichtshalber!“
Ungeduldig wartete der Junge, während Henry den Stall betrat. Er machte ein ängstliches Gesicht und kniff sich vor lauter Nervosität in seine sommersprossige Stupsnase. Wenn Blitz nun etwas passiert war! Gleich darauf hörte er den Hengst kurz wiehern und mit den Hufen auf den Stallboden stampfen. Er atmete auf. Vielleicht war doch nichts Schlimmes geschehen! Sein Blick schweifte über den Hof und weiter in das dahinter liegende offene Feld hinaus.
Eben begann es zu dämmern; er konnte schon den hohen weißen Zaun erkennen, der die nördliche Seite des Anwesens begrenzte. Zu sehen war weit und breit niemand. Alec zog den Gürtel, der seine Cordhosen hielt, fester und fuhr sich mit der Hand durch sein wirres Haar. Henry knipste das Licht im Stall an und erschien in der Tür. Er winkte Alec herein. Blitz befand sich in seiner Box, schnaubte zärtlich, als er den Jungen erblickte, und schüttelte seine schwarze Mähne, die wie ein Federbusch erst in die Höhe flog, dann wieder zur Seite fiel.
„Hast du etwas Verdächtiges gefunden, Henry?“
„Blitz war nicht in seiner Box, also muss jemand hier gewesen sein … ein Kampf muss stattgefunden haben, Blitz ist schweißnass.“
Henry strich mit der schwieligen Hand über das glänzende Fell des Pferdes, das unruhig stampfte und sich erst beruhigte, als Alecs Hand sein Maul streichelte.
„Gottlob scheint ihm ja nichts Schlimmes geschehen zu sein, Henry.“
„Hm, na ja …“, sagte Henry zögernd, während er einen schmalen, langen Gegenstand betrachtete, den er, in sein Taschentuch gewickelt, in der Hand hielt.
„Was hast du denn da?“, fragte Alec.
„Eine Injektionsspritze.“
„Eine Spritze?“, fragte Alec ungläubig. „Hast du die hier gefunden?“
„Ja … auf der Erde.“
„Was kann denn das zu bedeuten haben?“ Alec verließ das Pferd, um sich die Spritze genauer anzusehen.
„Sieht ganz so aus“, sagte Henry nachdenklich, „als ob jemand versucht hätte, sie bei Blitz anzuwenden. Sie ist gefüllt.“
„Du meinst …“, Alecs Herz schlug wild. „Henry, bist du sicher, dass es nicht dazu gekommen ist?“
„Die Spritze ist noch voll. Wir werden den Inhalt von der Polizei untersuchen lassen, um herauszubekommen, um was es sich handelt. Vielleicht gibt uns das einen Hinweis.“
Sorgfältig wickelte er die Spritze in sein Taschentuch. „Falls Fingerabdrücke dran sind“, erklärte er.
Alec ging wieder zu Blitz hinüber. Der Hengst senkte freudig den Kopf zu ihm herab. Alec kraulte ihn und fragte: „Aber warum sollte ihm jemand etwas antun wollen?“
Henry zuckte die Achseln. „Ich weiß es so wenig wie du, doch ich habe so meine Vermutungen.“ Er lehnte sich gegen die Tür der Box und fuhr fort: „Sieh mal, der Hengst ist ziemlich wertvoll, seit er im Juni Zyklon und Donnerkeil im Rennen geschlagen hat. Zweifellos ist er das schnellste Pferd weit und breit, das man je auf einer Rennbahn gesehen hat. Also gibt es meiner Meinung nach eine ganze Reihe von Gründen, weshalb ihn jemand stehlen wollte. Blitz könnte dann keine Rennen laufen, aber man könnte ihn in der Zucht verwenden. Dieses Pferd könnte die amerikanische Vollblutzucht erheblich nach vorne bringen.“ „Aber, Henry“, unterbrach ihn Alec, „er ist doch in keinem Zuchtbuch eingetragen! Wir wissen ja gar nicht, wo er herstammt! Da man ihn zu offiziellen Rennen nicht zulässt, weil niemand weiß, wer seine Eltern sind, kann ich nicht verstehen, wie jemand auf den Gedanken kommen könnte, ihn als Deckhengst zu benutzen und ihn zu diesem Zweck zu stehlen.“
„Nun, es könnte schon skrupellose Leute geben, für die das alles kein Hinderungsgrund ist“, meinte Henry. „Aber lass mich zu Ende sprechen: Ob sich nun jemand über den fehlenden Stammbaum hinwegsetzen würde oder nicht – vielleicht wollte man ihn gar nicht stehlen, sondern töten. Wenigstens in diesem Punkt werden wir klar sehen, sobald wir wissen, was in der Spritze ist.“ Sein Blick ging zu der Spritze, dann zurück zu Alec. „Die Frage ist, warum?“
„Hör mal, Henry, warum sollte jemand so grausam sein und …“ Ein lebhaftes Bild erschien plötzlich vor Alecs innerem Auge. Er sah den kleinen arabischen Hafen, in dem das Schiff, das ihn damals von seinem Besuch bei Onkel Ralph in Indien wieder nach Hause bringen sollte, für kurze Zeit vor Anker gegangen war. Dort hatte er den schwarzen Hengst zum ersten Mal gesehen. In der Erinnerung beobachtete er noch einmal zitternd vor Wut vom Deck des alten Frachters „Drake“ aus, wie das herrliche lackschwarze Pferd, das viel zu groß war, um ein reinblütiger Araber zu sein, sich verzweifelt aufbäumte und mit den Hufen schlug. Weißer Schaum troff von seinem Körper. Die Augen hatte man ihm mit einem Tuch verbunden. Zwei Leinen waren an seinem Halfter befestigt, an denen vier Araber versuchten, ihn auf das Schiff zu zerren. Ein dunkelhäutiger Mann mit weißem Turban stand hinter dem Pferd, eine Peitsche in der Hand. Der Hengst wieherte laut auf, als die Peitsche mit voller Wucht auf ihn herabsauste.
Einen solchen Ton hatte Alec bis dahin noch nie gehört; es war das hohe, schrille, fast pfeifende Wiehern eines ungezähmten wilden Hengstes. Er stürzte nun vorwärts, und wenn Alec jemals einen Ausdruck von wütendem Hass bei einem Pferd gesehen hatte, dann hier. Der Hengst keilte aus und traf einen der Männer so schwer, dass er leblos zu Boden sank. Nach längerer Zeit war es dann endlich gelungen, das mächtige Tier in den Stall auf dem Schiffsdeck zu bringen. Alec warf Henry einen Blick zu und vermutete richtig, dass der alte Trainer wusste, woran er gedacht hatte.
„Meinst du, Henry, es könnte der Araber sein, der ihn damals aufs Schiff brachte?“
„Das wäre nicht ausgeschlossen.“
„Aber der Sturm nachher, in dem das Schiff unterging! Er ist doch ertrunken, ich habe ihn doch mit meinen eigenen Augen in den Wellen verschwinden sehen.“
„Und sein Name stand bestimmt nicht auf der Liste der Überlebenden?“
„Nein! Es waren ja nur sehr wenige, wie du weißt.“
„Das Letzte, was du von ihm gesehen hast, war, dass er über Bord fiel, nicht wahr?“
„Er fiel eigentlich nicht, Henry; er sprang vielmehr in ein bereits überfülltes Rettungsboot und verfehlte es. Er trug keine Rettungsweste, und die Wellen gingen so hoch, dass er sofort verschwand. Wenige Minuten später explodierte der Kessel der ‚Drake‘, das Schiff ging unter und ich war auch im Wasser. Ich sah den Rappen und den Strick an seinem Halfter und griff danach. Das Nächste, was ich weiß, war, dass ich mich auf der unbewohnten kleinen Insel wiederfand. Du weißt, was dann folgte.“
„Und nachdem man dich gefunden hatte … während der Heimreise … seitdem hat es keinen Hinweis gegeben, dass der Besitzer des Rappen noch leben könnte?“
„Nein, Henry, keinen! Ein Rettungsboot mit zehn Überlebenden wurde aufgefischt, das ist alles und der Mann war nicht darunter. Ich bin sicher, dass er in so einer stürmischen See nicht überlebt haben kann. Und noch eins: Ich glaube keinen Moment, dass er der richtige Besitzer von Blitz war.“
„Du meinst also, er hat ihn gestohlen?“
„Ja! Er benahm sich jedenfalls so. Nie sprach er mit den Passagieren und er ist so grausam zu dem Pferd gewesen. So hätte er sich nicht verhalten, wenn es seines gewesen wäre.“
„Das ist kein Beweis, Alec! Als ich noch Jockey war, habe ich so einige brutale Pferdebesitzer kennengelernt! Trotzdem magst du recht haben. Blitz ist ein ungewöhnliches Pferd. Ich könnte mir ohne Weiteres vorstellen, dass selbst Leute, die ihn nicht haben laufen sehen, bereit wären, ein nettes Sümmchen für ihn zu bezahlen.“
Henry wollte noch einmal an die Box gehen, da stieß er mit dem Fuß an ein kleines metallenes Ding. Er hob es auf. „Was ist denn das?“, fragte er erstaunt.
„Sieht aus wie eine goldene Halskette“, meinte Alec. „Aber was ist das da in der Mitte?“
Henry ging ans Licht, um den Fund genau zu betrachten: „Sieht aus wie ein Medaillon mit einem Vogel drauf“, murmelte er und reichte Alec die Kette. „Wirst du daraus klug?“
Auf dem Medaillon befand sich eine runde Scheibe aus Elfenbein, in die ein großer Vogel geschnitzt war. Seine Flügel waren im Flug weit ausgebreitet. Alec bemerkte einen hakenförmig gebogenen Schnabel und kurze, kräftige Beine mit langen Krallen. Zwei kleine rote Steinchen markierten die Augen.
„Ich glaube, es soll ein Falke sein, Henry! Mein Onkel Ralph in Indien hielt ein Pärchen davon und ich habe auch noch andere gesehen, allerdings waren sie niemals weiß wie dieser. Normalerweise sind sie grau.“
Henry schwieg einige Minuten, dann nahm er die Kette wieder an sich. „Ich glaube nicht, dass sie in Amerika angefertigt worden ist“, sagte er.
„Das glaube ich auch nicht, Henry, es ist eine zu feine Arbeit. Es würde bedeuten …“
„Dass ich recht habe mit meiner Vermutung: Der Kerl, der Blitz damals auf das Schiff bringen ließ, ist noch am Leben und will ihn nun aus irgendeinem Grunde beseitigen!“
„Oder irgendjemand anders aus dem Mittleren Osten.“
„Ja.“ Henry ging zu dem schwarzen Hengst hinüber und legte ihm eine Hand über die Nüstern.
Im Osten, hinter den hohen Bäumen, die das den Hof fortsetzende Feld begrenzten, war inzwischen die Sonne aufgegangen. Alec verließ den Stall, er musste nach Hause. Mit schleppenden Schritten ging er die sandige Auffahrt entlang. Es fiel ihm schwer, Blitz zu verlassen, aber er musste in die Schule, die er nicht versäumen durfte, denn in der nächsten Woche standen die diesjährigen Abschlussprüfungen bevor. Prüfung! Schule! Was interessierte ihn das jetzt! Jemand hatte versucht, Blitz zu töten, sein Pferd! Und wer immer es gewesen sein mochte – er konnte zurückkommen und es noch einmal versuchen!
Henry hatte ihm hoch und heilig versichert, dass er den Hengst nicht eine Minute unbeaufsichtigt lassen würde, bis Alec am Nachmittag zurück war. Gleich auf dem Weg zur Schule wollte Alec auf dem Polizeirevier vorbeischauen und Anzeige erstatten. Bestimmt würde sein Vater dafür sorgen, dass ein Polizist in der Nacht die Scheune bewachte, und Alec hatte vor, selber im Stall bei seinem Pferd zu schlafen. Sie würden die Schlösser am Tor und an der Scheune austauschen. Zum Glück begannen nächste Woche die Sommerferien und dann konnte er für die nächsten drei Monate Tag und Nacht bei seinem Pferd verbringen.
Mit diesen Gedanken erreichte er das Eisentor des Hofes. Das Schloss war in Ordnung, und Alec zweifelte daran, dass jemand über den hohen Zaun mit dem darüber gespannten Stacheldraht geklettert war. Offensichtlich hatte der Eindringling einen Nachschlüssel benutzt. Vielleicht hatte auch Tony, der Gemüsehändler, das Tor aufgelassen, als er mit seinem alten grauen Pferd Napoleon, das die zweite Box im Stall bewohnte und Blitz‘ bester Freund war, zum Markt gefahren war. Es war durchaus möglich, dass der Verbrecher ausgekundschaftet hatte, wann Tony morgens wegfuhr. Auf jeden Fall musste er Tony abends fragen, ob ihm etwas aufgefallen war. Alec verschloss das Tor hinter sich und blickte zu dem Haus seiner Eltern auf der anderen Straßenseite hinüber. Obwohl er wusste, dass es schon spät war und er sich würde beeilen müssen, um pünktlich in der Schule zu sein, weil er ja auch noch vorher zur Polizei wollte, ging er langsam. Irgendein böser Mensch wünschte seinem Pferd den Tod. Warum nur? Aus welchem Grund? Sicherlich, er wusste wenig über die Vergangenheit des Hengstes. Vielleicht lag, wie Henry mutmaßte, dort die Antwort. Irgendwo in Arabien.