Читать книгу Blitz (Band 2) - Walter Farley - Страница 8
BLUTLINIEN
ОглавлениеAlecs Vater ließ die Abendzeitung in den Schoß sinken und nahm seine langen Beine von der Fußbank vor ihm herunter. Durch die Verandafenster konnte er die Sonne hinter Daileys altem Stallgebäude untergehen sehen. Er wandte sich zu seiner Frau, die neben ihm saß und nähte.
„Es wird dunkel, Belle, du wirst dir die Augen verderben!“
Sie legte Alecs Cordhosen über die Stuhllehne und nahm ihre Brille ab.
„Ich habe seine Reithosen geflickt; vielleicht braucht er sie ja noch mal.“
„Ja, das könnte sein, ich hoffe es sogar“, sagte Mr Ramsay und stand auf. „Hast du eine Ahnung, wo er hingegangen ist?“
„Er hat von einem Spaziergang gesprochen.“
Mrs Ramsay schaltete die Lampe ein und nahm ihre Näharbeit wieder auf. „Ich mache mir Sorgen um ihn, Bill. Er hat keinen rechten Appetit und nichts macht ihm mehr Freude.“
„Ich bin schon froh, dass er einmal sein Zimmer verlassen hat und an die frische Luft gegangen ist. In der vergangenen Woche hat er sich ja dauernd eingesperrt.“
„Er hat sehr eifrig gelernt, Bill! Und er hat die Abschlussprüfungen in der Schule gut bestanden!“ Stolz fügte sie hinzu: „Einer seiner Freunde hat mir erzählt, dass er die besten Noten von allen bekommen hat!“
„Ja, ich weiß, das ist schön, Belle, bloß, es sieht eigentlich unserem Alec gar nicht ähnlich, dieses übereifrige Lernen! Wir beide kennen natürlich die Ursache: Er wollte nicht an sein Pferd denken. Ich frage mich, was er jetzt in den Sommerferien machen will.“ Mrs Ramsay blickte von ihrer Näharbeit auf. „Was meinst du, könnten wir es uns leisten, ihm ein andres Pferd zu kaufen, als Ersatz für seinen geliebten Blitz? Wir könnten ja sagen, wir schenken es ihm zur Belohnung für sein gutes Zeugnis!“
„Leisten könnten wir es uns, Belle, aber ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist. Für Alec kann kein anderes Pferd seinen Blitz ersetzen.“ Mr Ramsay nahm wieder Platz. „Ich werde ihn später fragen, was er zu einem neuen Pferd meint“, fuhr er fort. „Immerhin stehen drei Monate Ferien vor der Tür, und in seiner gegenwärtigen Verfassung wird er vielleicht froh sein, wenn er etwas zu tun hat.“
Es war bereits dunkel, als Alec nach Hause kam. Er begrüßte seine Eltern und setzte sich zu ihnen. Nach einer Weile sagte Mr Ramsay: „Du hast sehr gut in den Prüfungen abgeschnitten, Alec. Wir sind wirklich stolz auf dich!“
„Danke, Vater“, erwiderte Alec.
Mr Ramsay stopfte sich seine Pfeife und zündete sie bedächtig an, ehe er wieder zu sprechen begann: „Hast du einen besonderen Wunsch, den wir dir erfüllen können?“
„Nett von dir zu fragen, Vater! Aber schönen Dank, ich wüsste nichts“, antwortete Alec einsilbig.
„Mutter und ich dachten, dass du vielleicht ein Pferd haben möchtest …“ Er brach ab, denn er hatte hinzufügen wollen, „um Blitz zu ersetzen“, überlegte es sich dann jedoch anders.
Alec schwieg lange, und als er antwortete, war seine Stimme so leise, dass man die Worte kaum verstehen konnte: „Nein, Vater … Ich danke dir sehr … aber jetzt jedenfalls nicht.“ Er stand auf. „Ich will in mein Zimmer gehen, ich hab da ein interessantes Buch zu lesen angefangen …“ Schnell verließ er den Raum.
Am nächsten Tag ging Alec zum ersten Mal, seit Blitz abgeholt worden war, in den Stall hinüber. Beim Näherkommen hörte er Tonys Stimme in tröstendem Ton sagen: „Du bist ein gutes Tier, Nappy, lass nur, morgen wirst du dich wieder besser fühlen!“
Alec sah auf seine Uhr; so früh brachte Tony doch sonst Napoleon nie in den Stall. Was war da los?
Er trat ein. Der kleine italienische Straßenhändler hielt den Kopf seines alten Pferdes zwischen seinen Händen und sah sehr besorgt aus. „Stimmt etwas nicht, Tony?“, erkundigte sich Alec.
„Nappy ist nicht recht auf dem Posten.“
Alec kam näher und strich dem Grauen über den Rücken.
„Er wird nicht jünger, Tony. Hast du den Tierarzt schon gefragt?“
„Den Tierarzt braucht mein Nappy nicht. Was ihm fehlt, kann der nicht kurieren: Nach Blitz sehnt er sich!“
Alec senkte den Kopf. „Das verstehe ich, Tony“, sagte er leise. „Die beiden Pferde haben sehr aneinander gehangen.“
Tony führte seinen Napoleon in die Box und der Junge ging zur Stalltür. Er sah Henry vor seinem Hause. Er rief nach ihm und lief hinüber. Der alte Trainer lächelte ihm entgegen. „Ich habe dich schon vermisst! Aber ich dachte mir, dass du wohl mit deinen Prüfungen beschäftigt warst. Hat alles geklappt?“
Alec nickte. „Ich habe in allen Fächern gut bestanden.“
Sie gingen wieder zum Stall zurück und setzten sich auf die Bank neben dem Eingang.
Nach einer Weile trat Tony zu ihnen. „’n Abend, Henry“, grüßte er, „gibt‘s was Neues?“
„Nichts, Tony, alles wie immer! Geht‘s Napoleon wieder besser?“
„Es hat sich nichts geändert, Henry. Er ist ja auch nicht richtig krank, bloß ein wenig deprimiert; er kann nicht verstehen, warum Blitz nicht mehr da ist.“
„In ein paar Tagen wird er sich daran gewöhnt haben und wieder munterer werden“, tröstete Henry.
„Ich hoffe es, die Zeit heilt ja alles.“ Tonys schwarze Augen glitten zu Alec. „Na, dann will ich jetzt nach Hause gehen! Addio!“
Nicht lange nachdem Tony sich verabschiedet hatte, sahen Henry und Alec einen eleganten Sportwagen vor dem Tor halten. Ein großer Mann stieg aus, schob seinen Hut in den Nacken und ließ seinen Blick forschend über den Stall schweifen. „Schau mal, Henry“, rief Alec, „ist das nicht Mr Volence?“
„Kaum zu glauben! Tatsächlich, das ist er! Komm, wir gehen ihm entgegen!“
Sie waren dem Besitzer von Donnerkeil nicht mehr begegnet seit dem großen Rennen in Chicago, bei dem Blitz seinen Hengst geschlagen hatte.
„Hallo, Henry! Hallo, Alec!“, begrüßte der Rennstallbesitzer sie freundlich. „Ich freue mich, euch wiederzusehen!“ Sein volles Gesicht verzog sich zu einem Lachen.
Dann gingen alle drei auf den Stall zu. „Dort drin haltet ihr also den schwarzen Teufel!“, sagte Volence. „Ist er inzwischen ein wenig ruhiger geworden oder ist er immer noch so ein Fass voll Dynamit?!“
Henry sah Alec an, der seine Hände in die Taschen schob und ruhig antwortete: „Wir haben ihn nicht mehr, Mr Volence.“
„Was? Ihr habt ihn verkauft?“
„Nein, sein eigentlicher Besitzer ist aufgetaucht“, erklärte Alec. Dann erzählte er die ganze Geschichte. Nachdem er geendet hatte, ging Volence langsam auf die Bank zu und setzte sich. „Das klingt ja wie aus einem Roman“, sagte er. „Ihr müsst wissen, einer der Gründe, weshalb ich nach New York gekommen bin, ist euer Pferd: Ich wollte fragen, ob es vielleicht zu verkaufen ist. Ich habe Donnerkeil in Rente geschickt und verwende ihn jetzt als Deckhengst in meinem Gestüt in Kentucky, aber ich brauche noch ein paar gute Hengste. Der schwarze hätte die Blutlinien in der amerikanischen Vollblutzucht sehr verbessern können, meine ich jedenfalls.“
„Genau das habe ich auch immer gesagt!“, stimmte Henry Mr Volence zu.
Alec sah Volence an: „Es gibt da übrigens noch etwas … es ist etwas sehr Merkwürdiges hier im Stall passiert in der Nacht, bevor Abu ben Isaak auftauchte.“ Er berichtete ihm von dem unheimlichen nächtlichen Besucher, der versucht hatte, den Rappen zu töten.
„Donnerwetter!“, sagte Volence. „Und ihr meint, es bestünde ganz sicher keine Verbindung zwischen jenem Abu und dem Attentäter?“ Alec schaute von Mr Volence zu Henry, dann wieder zu Mr Volence. „Vielleicht gibt es irgendwo eine Verbindung“, sagte er. „Ich bin sicher, dass er die goldene Kette mit dem Medaillon wiedererkannt hat.“
„Vielleicht war das tatsächlich der Fall“, warf Henry ein, „aber ich bin vollkommen sicher, dass er mit dem Anschlag auf den Rappen nichts zu tun gehabt hat.“
Volence nickte: „Ich stimme Henry zu, Alec! Denn Abu hätte ja keinen Grund, sein eigenes herrliches Pferd zu beseitigen.“
„Das glaube ich nach reiflicher Überlegung auch“, murmelte Alec, „aber trotzdem …“
Die drei verharrten einige Minuten in stummem Nachdenken, bis Volence sich mit seinen Händen auf die Knie klatschte. „Es wird wohl ewig ein ungelöstes Rätsel bleiben, nehme ich an. Aber wie schade, dass wir Blitz verloren haben! So einen kriegen wir wohl so schnell hier nicht mehr zu sehen!“ Er erhob sich. „Ich werde in ein paar Wochen auf Reisen gehen, um im Ausland ein paar gute Hengste für mein Gestüt zu kaufen.“
Alec sah interessiert zu ihm auf: „Wohin wollen Sie denn fahren?“ Henry bemerkte, dass seine Stimme etwas angespannt klang.
„Wahrscheinlich nach England, Alec! Dort hat man die meisten Chancen, gutes Material zu finden.“
„Warum?“ Mr Volence sah auf ihn herunter und zwinkerte. „Raus mit der Sprache: Was hast du für Hintergedanken? Meines Wissens – und ich bin ja schon eine Weile in diesem Geschäft – sind die Engländer ganz hervorragende Pferdezüchter mit langer Tradition! Sieh dir nur mal die von ihnen aufgestellten Rekorde an“, fügte er lächelnd hinzu, „du wirst sie beachtlich finden!“
Alecs Gesicht war ernst und sein Blick fest, als er erwiderte: „Nun, und Blitz, Sir? Denken Sie, dass der ein Zufallsprodukt war? Glauben Sie nicht, dass ein Pferd wie er ebenfalls das Ergebnis von vielen Jahren sorgfältiger Zucht ist?“
Volence sah Henry an und beide nickten bestätigend.
Alec fuhr fort: „Ich vermute, dass Abu ben Isaak ein ganz großer Mann auf dem Gebiet der Pferdezucht ist. Und wenn ich Ihre Mittel hätte und so darauf aus wäre, das Blut der amerikanischen Vollblüter zu verbessern, würde ich nicht nach England, sondern nach Arabien reisen und versuchen, Abu zu finden!“
Volence und Henry starrten Alec an, dann sagte Henry: „Das wäre ein bisschen wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, oder?“
„Das schon, Henry, aber wenn dir die Nadel überaus wichtig wäre, würdest du den Versuch eben dennoch machen.“ Sein Blick suchte Volence. „Stimmt das nicht?“
Der Angeredete antwortete nicht gleich. Er wandte den Blick von Alec ab und sah über das weite Feld. Alec beobachtete ihn gespannt. „Das ist gar kein so dummer Gedanke, Junge“, sagte Volence endlich nachdenklich. „Vielleicht“, schlug Henry vor, „könnte das Amerikanische Konsulat in Arabien Ihnen helfen, Abu ben Isaak zu finden.“
„Das ist eine Idee“, antwortete Mr Volence. „Ich frage mich, wie viele Informationen ich wohl in Washington bekommen könnte. Gibt es hier irgendwo ein Telefon?“
„Sie können unseres benutzen“, sagte Alec aufgeregt. „Kommen Sie mit.“
Als sie die Stufen zu Alecs Elternhaus hinaufstiegen, fragte Volence: „Glaubst du, Abu ben Isaak würde den Rappen verkaufen, wenn ich ihm einen guten Preis biete?“
„Nein, das nicht“, antwortete Alec ehrlich, „aber ich bin überzeugt, dass er noch andere gute Hengste hat, die er vielleicht abgeben würde.“
Alec zeigte Mr Volence das Telefon und wartete geduldig, bis Volence die Verbindung mit Washington bekam. „Flynn, hier ist Volence“, hörte er ihn sagen. „Passen Sie mal genau auf: Ich brauche alle Informationen über einen gewissen Abu Jakub ben Isaak.“ Er buchstabierte den Namen. „Ja, so stimmt es“, fuhr er fort. „Der Mann lebt in Arabien. Nein, ich weiß nicht, wo, das sollen Sie ja herausfinden. Das und noch viel mehr. Nutzen Sie alle Quellen. Kontaktieren Sie auch das Amerikanische Konsulat! Ich möchte in einer mir sehr wichtigen Angelegenheit mit Abu in Verbindung treten. Wie? Nein, ich weiß leider nichts Näheres über ihn, außer, dass er ein ziemlich wichtiger Mann zu sein scheint.“ Eine Pause trat ein, dann sagte er: „Jaja, ich weiß, Arabien ist groß, aber dafür habe ich ja Sie! Versuchen Sie, so viel wie möglich rauszukriegen. Und hören Sie mal, George … ich brauche die Information schon in den nächsten Tagen. Es ist etwas passiert, ich habe meine Pläne bezüglich England geändert … es hängt alles davon ab, was Sie herausfinden können, also zapfen Sie jede Quelle an, die Sie finden können. Nein, nach New York komme ich vorerst nicht, ich fahre heute Abend nach Kentucky, weil ich im Gestüt noch einiges anzuordnen habe. Rufen Sie mich dort an, sobald Sie können. Haben Sie alles verstanden? … ja, das stimmt. Gut. Wiederhören!“ Volence legte den Hörer auf und sagte zu Alec und Henry: „So! Damit ist der Stein ins Rollen gebracht! Nach ein paar Tagen werde ich mich entscheiden.“
„Und wie?“, fragte Alec.
„Je nachdem! Bekommen meine Leute heraus, wo dieser Abu ben Isaak lebt, dann werde ich ihn fragen, ob er mir den Rapphengst verkaufen will, außerdem, ob er andere Pferde hat, die er hergeben würde. Wenn er diese Frage bejaht, werde ich nach Arabien reisen, denn dein Hinweis, dass er wahrscheinlich ein großer Pferdezüchter ist, leuchtet mir ein. Wenn Blitz ein Beispiel ist für den Pferdeschlag, den er züchtet, bin ich sehr gespannt, die andern zu sehen! Was ich tun werde, wenn ich Abu auf diesem Wege nicht erreichen kann, weiß ich noch nicht. Alles wird davon abhängen, was über seinen Wohnort in Erfahrung zu bringen ist. Ich will ja in Arabien nicht einem Phantom hinterherjagen … Warten wir‘s ab, was dabei herauskommt. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit besteht, Abu aufzufinden, werde ich reisen.“
Alecs Augen glänzten vor Aufregung – auf diese Wendung der Dinge hatte er gehofft! „Wenn Sie wirklich fahren … würden Sie dann nicht vielleicht … Ich meine, könnten Sie dann nicht jemand brauchen, der Ihnen bei der Rückreise hilft, die Pferde hierherzubringen?“
Volence lächelte. „Aha, jetzt geht mir ein Licht auf“, sagte er. „Du hast wohl von Anfang an darauf spekuliert, dass die Karre so laufen würde?! Recht geschickt, wie du es angestellt hast!“ Er legte seine Hand auf Alecs Schulter. „Aber ernsthaft“, fuhr er fort, „wenn ich tatsächlich fahren sollte, würde ich dich gar nicht ungern mitnehmen! Da du Abu kennst, wärst du vielleicht imstande, mich ein bisschen zu unterstützen!“
„Ganz sicher!“, mischte sich Henry ein. „Denn vergessen Sie nicht: Blitz wäre ja nicht mehr am Leben, wenn Alec nicht gewesen wäre, und Abu weiß das. Er hat dem Jungen eine hohe Belohnung angeboten, aber er hat sie ausgeschlagen.“ Henry blickte von Mr Volence auf das braune Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, das von Ramsays Wohnzimmerfenster aus zu sehen war. „Sie könnten wohl nicht noch einen zweiten Mann brauchen, der Ihnen mit den Pferden hilft?“, fragte er vorsichtig.
„Könnte ich – falls Sie der zweite Mann wären, Henry, und falls Sie damit einverstanden wären, nur die Spesen bezahlt zu bekommen.“
„Wäre ich!“, rief Henry schnell. „Also abgemacht!“
Sie gingen zur Tür.
„Gut! Dann wollen wir hoffen, dass nichts dazwischenkommt, was uns von der Reise in das Wunderland Arabien abhält“, sagte Volence. „Ich werde mich mit euch in Verbindung setzen, sobald ich Bescheid weiß und meine Anordnungen getroffen habe. In der Zwischenzeit, Alec, kannst du die Sache schon mal mit deinen Eltern besprechen und sie fragen, ob sie einverstanden wären, damit wir keine Zeit verlieren, wenn es so weit ist. Auf Wiedersehen!“
Drei Tage später erhielt Alec einen Brief von Volence. Ohne ihn zu öffnen, rannte er zum Stall hinüber, wo er Henry damit beschäftigt fand, Blitz‘ Zaumzeug zu putzen. „Da ist er schon!“, rief er, mit dem Brief winkend. Sie setzten sich nebeneinander auf die Bank und Alec riss den Umschlag auf. „Halte die Daumen!“, sagte er.
„Lieber Alec, lieber Henry“, las er vor. „Ich habe alle nur erreichbaren Quellen ausgeschöpft, aber alles, was ich über Abu ben Isaak herausfinden konnte, ist, dass er das Oberhaupt eines Beduinenstammes im Kharj-Gebiet ist. Dieses Gebiet liegt ganz im Osten Arabiens, jenseits der Großen Arabischen Wüste, im letzten unerforschten Teil des Landes. Es gibt leider nicht die geringste Möglichkeit, mit Abu ben Isaak telefonisch oder sonstwie in Verbindung zu treten. Trotzdem, lieber Alec, bin ich entschlossen, diese Nadel im Heuhaufen zu suchen und jeden Meter Sand in der Wüste nach Abu zu durchforschen! Nachdem ich darüber nachgedacht habe, stimme ich völlig mit dir überein, dass Blitz das Ergebnis von vielen Jahren sorgfältiger Zuchtwahl ist und dass der Scheich mit großer Wahrscheinlichkeit noch mehr davon hat. Glücklicherweise lebt ein alter Freund von mir in Haribwan, das an der Westgrenze der Wüste liegt. Er wird mir einen Führer und eine Karawane für die Reise durch die Wüste besorgen. Vielleicht kennt sogar einer der Händler in Haribwan den Aufenthaltsort des Scheichs. Selbstverständlich bin ich mir bewusst, dass der Versuch, Abu zu finden, ein gewagtes Spiel ist. Doch – ehrlich gesagt, ich bin begierig auf die Reise, die viel Interessantes verspricht und, sollte ich Erfolg haben, auch Gewinn. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass ihr bei so ungewissen Aussichten, Abu und Blitz zu finden, keine Lust habt, die abenteuerliche Fahrt mitzumachen. Ich könnte das durchaus verstehen. Solltet ihr aber doch mitkommen wollen, so meldet euch unverzüglich, denn ich will schon nächste Woche fliegen, vorausgesetzt, dass noch Plätze frei sind.
Mit besten Grüßen! Charles V. Volence.“
„Wow, Henry!“, rief Alec. „Das klingt großartig!“
Henry stimmte begeistert zu: „Tatsächlich! Ich glaube, dass Volence jedes Sandkorn umdrehen wird, um Abu mit seinen Pferden zu finden – schließlich ist er gewohnt zu bekommen, was er sich wünscht!“ Er machte eine Pause und fuhr dann fort: „Und deine Eltern, Alec? Hast du ihnen schon von dem Plan erzählt?“
„Natürlich, Henry, sofort, nachdem Mr Volence hier gewesen ist! Erst wussten sie nicht recht, was sie davon denken sollten. Wie immer ist Mutter ein bisschen ängstlich; aber ich glaube, Vater unterstützt mich. Bis jetzt haben sie weder Ja noch Nein gesagt, sondern nur, dass sie es mich wissen lassen würden, sobald Volence sich entschieden hat, wirklich zu fahren. Ich hoffe, ich kann Mutter überreden, denn es ist ja nicht so, als ob ich allein fahren würde.“
Henry stand auf und streckte sich. „Na, da bist du immerhin schon einen guten Schritt weiter als ich … Ich hab nämlich meiner besseren Hälfte noch kein Wort zu sagen gewagt.“
„Was meinst du, wird sie sagen?“
„Viel!“, war die ahnungsvolle Antwort. Die beiden gingen langsam auf Daileys Haus zu.
„Meinst du, es wird schwierig?“, fragte Alec teilnahmsvoll.
„Es ist immer schwierig“, grinste Henry und schaute besorgt zum Haus hinüber, aus dem energisches Poltern, Stoßen und das Schieben von Möbelstücken zu hören waren. „Vermute, sie macht wieder mal Hausputz.“
„Vielleicht solltest du ihr helfen“, schlug Alec vor, „um sie mild zu stimmen.“
„Da magst du recht haben! Ich sag’s ihr am besten gleich – es hat keinen Zweck, es aufzuschieben.“
Alec hob den Daumen. „Hoffen wir, dass nichts schiefgeht, weder bei dir noch bei mir. Ich spreche sofort mit Vater, wenn er nach Hause kommt. Weißt du was? Wenn es bei dir gut läuft, dann lass drei Pfiffe hören, und ich mach‘s ebenso!“
„Gut, Alec! Also Hals- und Beinbruch!“
Henry drehte sich um und ging auf die Vordertür zu. Dort sah Alec, wie er stehen blieb, seine schmutzigen Schuhe betrachtete und sich dann eilig zum Hintereingang begab. Alec lachte in sich hinein und lief zum Tor.
Als er die Straße überquerte, sah er gerade die hohe, kraftvolle Gestalt seines Vaters von der Bushaltestelle herankommen. Er rief ihm von Weitem einen Gruß zu und rannte ihm entgegen. Lächelnd nahm der Vater seinen abgenutzten braunen Hut ab und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. „Da sieht man‘s wieder einmal: Ich kann kaum schleichen bei dieser Hitze und du rennst wie verrückt! Es ist doch zu schön, jung zu sein!“ Er legte einen Arm um die Schultern seines Sohnes und so gingen sie nebeneinander auf das Haus zu. Als sie die Stufen hinaufstiegen, entschloss sich Alec, keine Minute zu vergeuden und gleich sein Ziel anzusteuern.
„Vater, kann ich noch vor dem Essen mit dir und Mutter sprechen?“, bat er.
Es fiel Mr Ramsay nicht schwer, aus seinem ernsten Tonfall zu erraten, was Alec besprechen wollte. „Natürlich, Alec! Lass uns hineingehen, dann werde ich Mutter gleich aus der Küche holen. Da drin ist es heute Abend sowieso viel zu warm …“
Alec wartete ungeduldig im Wohnzimmer, bis seine Eltern hereinkamen. Er tat so, als würde er die Zeitung lesen, doch seine Gedanken kreisten nur um den einen Punkt: Würde er an der Reise teilnehmen dürfen? Endlich kamen sie. Seine Mutter trocknete sich die Hände an der Schürze ab, und der Vater hatte einen ernsten Blick, der Alec gar nicht gefiel. Doch dann lächelte er, als er seinen Vater sagen hörte: „Hat am Herd geschuftet, wie ich es schon befürchtet hatte!“ Er legte den Arm um die Taille seiner Frau, und sie wandten sich Alec zu, der sofort zu berichten begann: „Also, Mr Volence hat uns heute geschrieben – er fährt tatsächlich nach Arabien! Wir hatten ja abgemacht, dass ich euch sofort Bescheid sage, wenn ich von ihm höre.“ Er stockte, sah aus dem Fenster, dann wieder auf seine Eltern: „Mr Volence reist nächste Woche und möchte, dass ich ihn begleite.“
„Fährt Henry auch mit?“, fragte sein Vater.
„Ich glaube ja! Er will es jedenfalls unbedingt!“
„Und wie steht‘s mit Mrs Dailey?“, fragte seine Mutter. „Als ich sie heute Nachmittag traf, war sie keineswegs dafür.“
„O je, Mutter“, rief Alec, „hast du etwa mit ihr darüber gesprochen?“
„Sollte ich nicht?“
„Nein! Henry hatte doch noch gar nichts gesagt!“
In diesem Augenblick zerriss ein scharfer Pfiff die Stille des Abends. Alec rannte zum offenen Fenster. Der Pfiff wurde noch zweimal wiederholt. „Er fährt mit!“, schrie Alec. „Henry darf fahren!“
Mr Ramsay schmunzelte verständnisvoll: „Aha, das verabredete Zeichen!“ Erst seine Frau, dann wieder den Sohn anblickend, sagte er feierlich: „Lieber Junge, Mutter und ich haben bereits entschieden, dass auch du mitreisen darfst!“
„Hurra!“, schrie Alec und umarmte beide stürmisch.
„Ihr seid die besten Eltern der Welt!“
Sein Vater lachte: „Wir hielten es sowieso für keine gute Idee, ein ungestümes Kalb wie dich den ganzen Sommer hier einzusperren.“
Die blauen Augen seiner Mutter sahen besorgt aus. „Du wirst aber vorsichtig sein, Alec, ja? Und dich immer an die Anweisungen von Mr Volence und Henry halten?“ „Selbstverständlich, Mutter! Ich verspreche es dir hoch und heilig! Diese Reise ist das Beste, was mir passieren konnte, mach dir bloß keine Sorgen!“
Sein Vater zog ihn am Hosenbund zu sich heran: „Aber lass dir bloß nicht einfallen, erst Wochen nach Schulbeginn hier wieder zu erscheinen! Denk dran, nächsten Herbst gehst du aufs College!“
„Natürlich nicht, Vater, ich denk dran!“ Dann wandte Alec sich an seine Mutter: „Darf ich gleich Mr Volence Bescheid sagen? Er muss die Flugtickets kaufen. Wir fliegen, denk doch bloß, Mutter! Ich werde über den Ozean nach Arabien fliegen! Da lerne ich doch viel mehr als in der Schule, meint ihr nicht? Ich muss unbedingt gleich zu Henry rüber. Darf ich, Mutter? Wirklich, es dauert nur ein paar Minuten!“
Er war schon an der Tür, als seine Mutter leise antwortete: „Ja, ja, lauf nur!“ Ihre Finger schlossen sich um die starke Hand ihres Mannes, der sie noch umschlungen hielt.